Donnerstag, 29. Mai 2014

Norbert Bolz und die soziale Tyrannei

Norbert Bolz
Das Buch „Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht“ von Norbert Bolz ist ein Plädoyer für Selbstverantwortung und gegen staatliche Betreuung, für den Einzelnen und gegen Gleichmacherei, für die Freiheit und gegen den Sozialismus.

Etwa in der Mitte des Buches erwähnt Bolz, dass die Diskussion über Freiheit zum Teil durch Paradoxien blockiert wird, die man „nicht auflösen, sondern nur klar darstellen kann.“ Eine dieser Paradoxien betrifft das Problem, dass eine Demokratie auch illiberal sein kann, anders ausgedrückt: „Es gibt demokratische Diktaturen.“

Demokratie, so Bolz, ist keine Garantie der individuellen Freiheit. Dies hat seinen Grund vor allem in der Suggestionskraft der Partizipation: „Die Demokratie bietet dem Bürger eine Vorstellung von der `Beteiligung´ an der Macht an – als könnten sie an der staatlichen Ordnung mitwirken. An die Stelle des freien Einzelnen tritt der partizipatierende Untertan.“

Die spezifisch moderne Gefahr für die Freiheit liegt heute in der Tyrannei des Kollektivismus. Schon John Stuart Mill hatte erkannt, dass gerade die Massendemokratie unaufhaltsam zur Tyrannei führen kann, sobald sie beginnt, Meinungen und Gefühle aufzuzwingen und so „die Seele versklavt.“ Mills berühmter Essay „On liberty“ ist eine einzige Abrechnung mit der sozialen Tyrannei der Mehrheit.

Insbesondere in dem Abschnitt über das Zum-Schweigen-bringen der abweichenden Meinung, das silencing, behauptet Mill, dass auch die Immoralität einer Meinung kein Grund dafür ist, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu unterdrücken. „Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigen Mehrheit – im Grenzfall all mankind minus one – nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen.“

Hinter diesen Gedanken verbirgt sich auch Mills Hochachtung vor dem Genie: „In einer Welt der durch Tyrannei der öffentlichen Meinung befestigten kollektiven Mittelmäßigkeit, in der die Massenmedien den Menschen das Denken abnehmen, ist das Wagnis der Exzentrizität die eigentliche heroische Tat des Genies.“

Die soziale Tyrannei des silencing schadet neben dem Einzelnen vor allem auch der Gesellschaft selbst, „denn wenn die abweichende Meinung sich doch als richtig erweisen sollte, hätte sich die Gesellschaft um die Möglichkeit gebracht, einen Irrtum zu korrigieren.“ Wenn sich die abweichende Meinung sich als falsch erweisen sollte, hätte sich die Gesellschaft um den Triumph der Wahrheit über den Irrtum gebracht.


Mills Überlegungen kreisen um die als Wohltat getarnte Tyrannei. Diese zeigt sich darin, dass einige meinen zu wissen, was das Beste für die Anderen ist. „Man darf niemanden zu einem bestimmten Verhalten zwingen, nur weil es besser für ihn wäre – z.B. nicht rauchen oder Diät halten. Letztlich profitieren wir nämlich alle mehr davon, dass wir es ertragen, dass die Anderen leben wie es ihnen gefällt, als dass wir sie zwingen, so zu leben, wie wir es für richtig halten. Die `wahre´ Freiheit, deren Maß ein anderer bestimmt, ist mir weniger Wert als die individuelle Freiheit, meines eigenen Unglücks Schmied zu sein. Recht zu tun, darf man von jedem erwarten, nicht aber: das Richtige zu tun. Inhaltlich betrachtet ist die Freiheit eines jeden eigenrichtig.“


Sinnbild der schlechten Regierung: Der Tyrann (Fresko von Ambrogio Lorenzetti)

Die modernen Paternalisten gehen davon aus, dass einige Menschen den legitimen Anspruch haben, das Verhalten anderer Menschen so zu beeinflussen, dass diese länger, gesünder und besser leben. „Konkret sieht das so aus, dass ein allgemeiner Konsens mit dem politisch korrekten Verhalten unterstellt wird und jedes abweichende Verhalten ausdrücklich deklariert werden muss.“

Nur: „Dass man die Freiheit hat, zu sagen, was man denkt, besagt nicht viel, wenn man nicht mehr zu denken wagt, was man nicht sagen darf.“

Heute könnte man das Maß der Freiheit also daran messen, wieweit es gelingt, sich dem unterstellten Konsens der Politischen Korrektheit nicht zu unterwerfen.

Politische Korrektheit und Soziale Tyrannei sind letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille, die Thomas Mann so eindringlich in den folgenden Worten beschrieben hat als „die Auferstehung der Tugend in politischer Gestalt, das Wieder-möglich-werden eines Moralbonzentums sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem Worte: Die Renaissance des Jakobiners.“ 

Zitate aus: Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht. München 2010 (Wilhelm Fink), hier: S. 76ff.

Weitere Literatur: John Stuart Mill: John Stuart Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)   -   Horst Wolfgang Boger (Hg.): Der Staat als Super Super Nanny, Berlin 2008 (liberal Verlag GmbH)   -    Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main 2001 (Fischer tb)

Donnerstag, 22. Mai 2014

Peter Bieri und die Bildung - Teil 2


Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität und poetische Erfahrung



Peter Bieri
In seiner Festrede „Wie wäre es gebildet zu sein?“ anlässlich der Eröffnungsfeier der Pädagogischen Hochschule Bern im November 2005 beschäftigt sich Peter Bieri (*1944), Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin, mit den verschiedenen Bedeutungsebenen des Bildungsbegriffs: Bildung wurde bisher als Weltorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein und Artikuliertheit beschrieben.

Wenn der Gebildete einer ist, „der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind“, wenn seine Fähigkeit, sich besser zu artikulieren, ihm erlaubt, „sein Selbstverständnis immer weiter zu vertiefen und fortzuspinnen, wissend, dass das nie aufhört, weil es kein Ankommen bei einer Essenz des Selbst gibt“, dann ist Bildung immer auch Selbsterkenntnis.

Bildung als Selbsterkenntnis
„Es mag einer noch so gut ausgebildet sein und eine noch so große Orientierung haben, so dass er in der Welt erfolgreich navigieren kann - wenn er sich nicht auf diese Weise gegenüberzutreten und an sich zu arbeiten weiß, verfügt er nicht über Bildung in einem vollen, reichen Sinn des Ausdrucks.“

Hier geht es darum, „sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen, statt diese Dinge nur geschehen zu lassen. Es geht um die Interpretation meiner Vergangenheit und das Durchleuchten meiner Entwürfe für die Zukunft, kurz: um das Schaffen und Fortschreiben von Selbstbildern.“

Der Gebildete ist also einer, „der über sich Bescheid weiß und Bescheid weiß über die Schwierigkeiten dieses Wissens. Er ist einer, dessen Selbstbild mit skeptischer Wachheit in der Schwebe gehalten werden kann.“

Natürlich geht es nicht nur darum, die Erkenntnis über sich selbst zu vergrößern. Es geht auch darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu bewerten, sich mit einem Teil zu identifizieren und sich vom Rest zu distanzieren, also Bildung als Selbstbestimmung zu verstehen. Es geht darum, zu lernen, dass „Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann.“

Bildung als Selbstbestimmung
Selbstbestimmung besteht nun aber gerade nicht darin, dass man sich „in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen.“ Was man lernt und lernen muss, ist etwas anderes: „zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt.“

Der Gebildete ist also einer, „der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er einen stetigen Prozess erneuter Selbstbewertung zulässt und die damit verbundene Unsicherheit aushält. Dadurch wird er im emphatischen Sinne ein Subjekt.

Bildung als moralische Sensibilität
Für Bieri ist Bildung auch moralische Sensibilität. „Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität entsteht Toleranz - kein förmliches Dulden des Fremden, sondern echter und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten, zu leben. Nicht, dass das immer leicht wäre.“

Aber gerade darum ist Bildung „die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten: Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.“

Bildung, von der hier die Rede ist, ist ein Wert in sich. Es wäre falsch, zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu sein, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Bildung wird so zur poetischen Erfahrung, denn „es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs Engste mit den besprochenen Facetten der Bildung verknüpft sind: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abschütteln zu können; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; (…) die beglückende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen.“

Bildung als poetische Erfahrung
„Und Bildung schließt eine weitere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, das wir Kultur nennen.“

„Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns «fit für die Zukunft» zu machen.“

In der Bildung geht es also um alles: „um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten Hindernissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit.“

Daher ist Bildung immer auch leidenschaftlich: Der Gebildete ist daher einer, der vor bestimmten Dingen Ekel empfindet: vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemismen und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums, wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der Bildung halten.“

Bei der Bildung geht es um alles!





Donnerstag, 15. Mai 2014

Peter Bieri und die Bildung - Teil 1


Weltorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein und Artikuliertheit


Peter Bieri
Der 1944 in Bern geborene Peter Bieri lehrt seit 1993 als Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin - Lehrstuhl für «Sprachphilosophie und Analytische Philosophie». Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat er mittlerweile drei Romane veröffentlicht, darunter 2004 den Roman „Nachtzug nach Lissabon.“ Er ist Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes «Kognition und Gehirn» bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Bieri auch immer wieder mit dem Begriff der Bildung, so auch in seiner Festrede „Wie wäre es gebildet zu sein?“ anlässlich der Eröffnungsfeier der Pädagogischen Hochschule Bern im November 2005.

Für Bieri ist Bildung grundsätzlich etwas, „das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Wie kann man sie beschreiben?“

Bildung ist zunächst Weltorientierung. Bildung beginnt mit Neugierde, wobei Neugierde der „unersättliche Wunsch ist, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt.“ Hier geht es stets um zweierlei: „zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist.“

Bildung als Weltorientierung
„Sich bilden“ kann nicht bedeuten, alles zu wissen und alles zu verstehen, was es zu wissen und zu verstehen gibt. Es geht vielmehr darum, „sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen.“

Dadurch entsteht auch die Fähigkeit, Wissen und Informationen richtig gewichten zu können. Um einige Beispiel zu nennen: „Man braucht, um gebildet zu sein, nicht die genaue Anzahl der Sprachen zu kennen, die es auf der Erde gibt. Aber man sollte wissen, dass es eher 4000 sind als 40. (…) Es gibt nicht Hunderte von chemischen Elementen. (…) Das Universum ist nicht Millionen, sondern Milliarden von Jahren alt. Das Mittelalter begann nicht mit Jesu Geburt und die Neuzeit nicht vor 100 Jahren. (…). Louis Pasteur war für die Menschheit wichtiger als Pelé, die Erfindung des Buchdrucks und der Glühbirne folgenreicher als diejenige des Rasierapparats und des Lippenstifts.“

Zweitens ist Bildung für Bieri immer auch Aufklärung. Wenn Wissen Macht ist, dann soll dies nicht heißen, mit seinem Wissen über andere zu herrschen. „Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, dass man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen, in Politik oder Werbung etwa.“

Bildung als Aufklärung
In diesem Sinne geht es auch immer wieder darum, die eigenen Grenzen des Wissens zu erkunden: „Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verlässlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei?“

Bieri betont hier das Wissen zweiter Ordnung, das den „naiven vom gebildeten Wissenschafter und den ernstzunehmenden vom einfältigen Journalisten, der noch nie etwas von Quellenkritik gehört hat“, unterscheidet.

Wissen zweiter Ordnung bewahrt davor, das Opfer von Aberglauben zu werden. „Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloß rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken zu unterscheiden.“

Wenn ihm die Fragen „Was genau heißt das?“ und „Woher wissen wir, dass es so ist?“ zur zweiten Natur geworden sind, dass führt das zu einer Resistenz gegenüber „rhetorischem Drill, Gehirnwäsche und Sektenzugehörigkeit, und es schärft die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens, gegenüber modischen Trends und jeder Form von Mitläufertum. Man kann nicht mehr geblufft und überrumpelt werden, Schwätzer, Gurus und anmaßende Journalisten haben keine Chance. Das ist ein hohes Gut, und sein Name ist: gedankliche Unbestechlichkeit.

Schließlich ist Bildung immer auch historisches Bewusstsein. „Das aufgeklärte Bewusstsein des Gebildeten ist nicht nur kritisches Bewusstsein. Es ist auch geprägt von historischer Neugierde: Wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, fühlen, reden und leben? Und auf dem Grund dieser Neugierde liegt der Gedanke: Es hätte alles auch anders kommen können, es liegt in unserer Kultur keine metaphysische Zwangsläufigkeit.“

Bildung als historisches Bewusstsein
„Das aufgeklärte Bewusstsein ist also ein Bewusstsein der historischen Zufälligkeit. Es drückt sich aus in der Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und ihr gegenüber eine ironische und spielerische Einstellung einzunehmen.“

Damit verbunden ist die Abkehr von jeder Arroganz, die „die eigene Lebensform sei einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung, die zur Essenz eines jeden Imperialismus und einer jeden Missionierung gehört, ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung.“

Zu dem Bedürfnis, „sich die Kultur, in die man zufällig (!) hineingewachsen ist, noch einmal neu anzueignen“, gehöre auch, „sich die Geschichte unserer Wörter zu vergegenwärtigen, denn wir sind sprechende Tiere, und nichts trägt mehr zu unserer kulturellen Identität bei als die Wörter, mit denen wir unser Verhältnis zur Natur, zu den anderen Menschen und zu uns selbst gestalten.“

Eine Kultur zu verstehen würde weiter bedeuten, „sich mit ihren Vorstellungen von moralischer Integrität auszukennen. Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir atmen sie ein mit der Luft des Elternhauses, der Strasse, der Filme und Bücher, die uns erschüttern und prägen - sie machen unsere moralische Identität aus und bestimmen unsere moralischen Empfindungen wie Entrüstung, Groll und schlechtes Gewissen. Zuerst - das gehört zur Ernsthaftigkeit der Moral - setzen wir diese Dinge absolut, wir lernen sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen. Der Bildungsprozess dann besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass man in anderen Teilen der Erde, in anderen Gesellschaften und Lebensformen, über Gut und Böse anders denkt und empfindet.“

Zusammengefasst: „Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden. Man hat die Verantwortung für das eigene Leben noch nicht vollständig übernommen, solange man sich von einer fremden Instanz vorschreiben lässt, wie man zu denken hat über Liebe und Tod, Moral und Glück.“

Schließlich ist Bildung Artikuliertheit, d.h. „der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.“

Bildung als Artikuliertheit
„Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt - so paradox es klingt - den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern.“

Humanismus also schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher.“

Dies ist für Bieri ein untrügliches Zeichen von wahrer Bildung: „dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird.“

Der gebildete sieht nach der Lektüre die Welt anders, „kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen. Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann.“

Dieses Verständnis von Bildung führe zu einer weiteren Definition von Bildung: „Der Gebildete ist einer, der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind.“
  
Fortsetzung folgt


Donnerstag, 8. Mai 2014

Isokrates und die Dekadenz

„Geschichtsüberlieferung und Geschichtsphilosophie haben psychologisch einen verschiedenen Ursprung. Die Geschichtsüberlieferung wurzelt im Stolz auf die Gegenwart und will deren große Taten an die Zukunft weitergeben. Die Geschichtsphilosophie dagegen erwächst aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit“ (Alexander Demandt).

Dekadenz in der römischen Antike (Thomas Couture, 1847)

Ein hervorragendes Beispiel für diesen Pessimismus ist der „Menschenfeind“ Timon von Athen, der sich – seine Mitbürger verfluchend - in einen Turm einschloss. Nur den Politiker und Strategen Alkibiades schätzte er allein deshalb,  „weil er Athen ins Unglück stoßen wird!“ Gemeint war die Niederlage Athens im Peleponnesischen Krieg gegen Sparta.

Dieser Unmut über die aktuellen Zustände mündet geschichtsphilosophisch in die sogenannte Dekadenztheorie, die als Langzeitentwicklung gedacht ist. Das Unglück in der eigenen Lage wird Anlass, einen Verfall von der Urzeit bis jetzt anzunehmen. Es ist aber ebenso ein Motiv, einen Aufstieg für die Zukunft zu erhoffen oder aber in allem Geschehen eine unbeständigen Kreislauf zu erblicken.

Isokrates (436 bis 338 v. Chr. )
Die klassische Formulierung des Dekadenzmodells findet sich bei Isokrates, dem großen Rhetor, der in der Zeit zwischen dem Peleponnesischen Krieg und Alexander den Niedergang Athens selbst miterlebte.

In seiner Friedensrede beschreibt Isokrates die Geschichte Athens mit seinem Höhepunkt während der Siege von Marathon, Salamis und Platäa über die Perser und seinem Tiefpunkt mit der Niederlage 404 gegen Sparta.

Die von Isokrates beschriebenen Ereignisse lassen sich nun in Regeln bringen, die das klassische Dekadenzmodell ergeben:

„Ein Leben unter harten äußeren Umständen (I) zwingt zur Entfaltung aller inneren Kräfte (II). Dabei wird eine höhere Leistungsfähigkeit entwickelt, als es die bloße Selbstbehauptung erfordert. Dieser Überschuß an innerer Stärke wird umgesetzt in eine Verbesserung der Lebensumstände. Man kommt zu Macht und über die Macht zu Reichtum (III).

Nun kehrt sich die Wirkung um: So wie zuerst die menschliche Leistung die äußeren Verhältnisse verbessert hat, so untergraben anschließend die angenehmen Umstände die Leistungsfähigkeit. Macht führt zu Leichtsinn, Reichtum zu Bequemlichkeit: die Hybris erscheint.

Nun ist man nicht mehr imstande, die gewonnene Position zu halten (IV). Dem inneren Verfall folgt der äußere Abstieg, und schließlich ist der Zustand der Mittellosigkeit wieder erreicht (V = I). Ob der Durchgang wiederholbar ist, bleibt unentschieden.“

Der Niedergang Athens ist auch von anderen antiken Denkern mit dem Dekadenzmodell erklärt worden. So überliefert Xenophon (430 – 355 v. Chr.) ein Gespräch zwischen Sokrates und Perikles, in der beide über die Grründe für den Abstieg Athens sprechen.

Demnach habe das Gefühl der Überlegenheit, der Stolz auf die Erfolge der Bürger den Leichtsinn ausgelöst. Die Suche nach Reichtum habe die Prozessleidenschaft angestachelt und die politisch-militärische Disziplin untergraben. Auf diese Weise sei dann die Niederlage im Peleponnesischen Krieg unvermeidlich gewesen (Xenophon, Erinnerungen, III 5).

Dekadenz in der Moderne (Wilko)

Isokrates begnügt sich gleichwohl nicht mit der Analyse der Gründe, sondern er überführt seine Argumente auch in pädagogische Ratschläge: So erhebt er „immer wieder die unpopuläre Forderung, dass das Volk seine eigenen Wünsche in Frage stellen lerne, und führt scharfe Angriffe gegen die Demagogen, die sich dem Volk als Vollstrecker seiner Wünsche anbieten, ohne diese Wünsche zuvor auf ihre Vereinbarkeit, ihre Erreichbarkeit und ihre Auswirkungen hin zu prüfen. Die Folgen seien Katastrophen der gehabten Art.“

Vielleicht sollten wir heute mehr Isokrates lesen …


Zitate aus: Alexander Demandt: Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln 2011 (Böhlau Verlag), Kapitel II   -   Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, Düsseldorf 2003 (Artemis und Winkler)


Donnerstag, 1. Mai 2014

Demokrit und die Entwicklung der Kultur


„Nichts ist weiser als die Zeit,
denn sie erfindet nach und nach alle Dinge.“
(Thales von Milet)

Für die Griechen war die Kulturgeschichte ein Lernprozess, eine „progressive Zeit“, in deren Verlauf sich der zivilisatorische Fortschritt widerspiegelt. So schreibt Platon: „Als die Zeit voranschritt und die Menschheit sich mehrte, ist allmählich alles zu den Zuständen fortgeschritten, die heute herrschen“ (Gesetze 678 B).

Während im Lateinischen „Fortschritt“ durch das Wort progressus ausgedrückt wird, verwenden die Griechen manchmal prokopē, also „einen Weg freischlagen“ oder auch epidosis, das „Zugabe, Zunahme“ bedeutet (Demandt, 59).

Fähigkeiten und Erkenntnisse
Der beobachtete Fortschritt besteht vor allem in der Vermittlung von Fähigkeiten und Erkenntnissen. Die 10. Olympische Ode des Dichters Pindar (522 – 446 v. Chr.) beschreibt die Zeit als Hebamme oder als Mutter der Wahrheit und ihre Handlungen als  Schritte in die Zukunft.

Gleichwohl zeigt sich das Bewusstsein der Griechen vom historischen Fortschritt nicht nur in Hinweisen auf einzelne spektakuläre Erfindungen und Entdeckungen, sondern vielerorts entstanden zusammenhängende Erzählungen von den Anfängen und dem Verlauf der Kulturgeschichte der Menschheit.

Demokrit (* 460 v. Chr.)
Eine dieser Erzählungen stammt von Demokrit, überliefert bei Diodor. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Menschen nach ihrer Entstehung „ein Dasein ohne jede Ordnung, nach Art der Tiere gehabt hätten.

Hier und dort zerstreut, wären sie nach den Futterplätzen ausgezogen und hätten von den Kräutern die ihnen am meisten zusagenden und von den Bäumen die Früchte, die von selbst gewachsen seien, verzehrt. Und wenn sie von den wilden Tieren bedrängt wurden, hätten sie einander geholfen, da sie durch ihr gemeinsames Interessen belehrt wurden.“

Es war Demokrit zufolge, die Furcht und das gemeinsame Interessen, die dazu führten, dass die Menschen sich gegenseitig kennenlernten. Diese ersten rudimentären Formen des Zusammenlebens machten dann eine Verständigung untereinander notwendig, die anfangs nicht ohne Schwierigkeiten verlief.

„Da aber ihre Laute undeutlich und verworren waren, hätten sie allmählich die Worte artikuliert und hätten miteinander Bezeichnungen für jedes Ding festgesetzt und so sich selber die Verständigung über alle Dinge ermöglicht.

Während solche Vereinigungen auf der ganzen bewohnten Erde entstanden, hätten nicht alle eine gleichlautende Sprache gehabt, da die einzelnen Horden auf das Geratewohl ihre Ausdrücke vereinbart hätten. Daher habe es auch alle möglichen Eigentümlichkeiten von Sprachen gegeben, und es seien die zuerst entstandenen Horden die Urahnen aller Völker geworden.“

Das Leben dieser ersten Menschen war jedoch alles andere als bequem: „Die ersten Menschen nun hätten, da noch keinerlei zum Leben nützliche Erfindung gemacht war, ein sehr kümmerliches Dasein gefristet: ohne jede Kleidung, unbekannt mit Haus und Herd und ohne jede Ahnung von Nahrung, die durch menschlichen Anbau gewonnen sei. Da sie nämlich das Einbringen der Früchte der Wildnis noch nicht kannten, hätten sie keinerlei Aufspeicherung von Früchten für den Fall der Not vorgenommen. Daher wären dann auch viele von ihnen zur Winterszeit umgekommen, durch die Kälte und weil sie nichts zu essen fanden.“

Nun aber macht Demokrit die entscheidende Beobachtung: Durch die Erfahrung des Mangels hätten die Menschen allmählich gelernt, sich gegen die Widernisse der Welt durchzusetzen. So sei „bei allen Errungenschaften die Not die Lehrmeisterin der Menschen geworden.“ Erst die Erfahrung der Not machte den Menschen klug. Sie brachte ihnen die Erkenntnis der Dinge, denn schließlich sei der Mensch ein „wohlveranlagtes Lebewesen“, das sich „bei allen Verrichtungen seiner Hände, der Sprache und des Verstandes bediente.“

„Infolgedessen seien sie allmählich durch die Erfahrung klug geworden, hätten sich im Winter in die Höhlen geflüchtet und von den Früchten solche, die sich aufbewahren ließen, für sich aufgehoben.

Und wie dann der Gebrauch des Feuers und die anderen nützlichen Einrichtungen nach und nach entdeckt waren, da wären auch die Künste und Gewerbe erfunden worden und die Einrichtungen, die das Leben der Allgemeinheit fördern könnten.“

Die Ziel der Kulturentwicklung: Ansammlung von Wissen

In Demokrits Darstellung der kulturellen Entwicklung zeigt sich der ganze Stolz der Griechen auf die von Menschen erreichte Verbesserung der Lebensumstände, die Perfektion der Technik und die Vermehrung des Wissens. Von Demokrit stammt übrigens auch das Zitat, er wolle lieber ein neues Naturgesetz finden, als König von Persien werden.
Zitate aus: Alexander Demandt: Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln 2011 (Böhlau Verlag), Kapitel III   -  Demokrit: Kulturentwicklung, in: Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Stuttgart 2008 (Kröner), S. 386f