Freitag, 31. August 2012

Amartya Sen und der Capability-Ansatz

An der Bewertung der Freiheit scheiden sich seit Jahrhunderten die Geister. Der philosophische Freiheitsbegriff befindet sich in einer ständigen Diskussion und unterliegt damit auch einem permanenten Wandel. Das Problem wird noch dadurch erschwert, dass sich im Begriff der Freiheit gleichzeitig psychologische, soziale, kulturelle, politische und rechtliche Dimensionen überschneiden.

Dennoch gehört Freiheit zu den zentralen Begriffen der Philosophie und Ideengeschichte. Insbesondere, wenn wir versuchen unser eigenes Leben zu beurteilen, dann dürfen wir nicht nur unsere tatsächliche materielle Lebensführung betrachten, sondern müssen ebenso unsere Freiheit berücksichtigen, zwischen verschiedenen Lebensstilen wählen zu können. Die Freiheit, über unser Lebens selbst zu bestimmen, ist daher ein fundamentaler Aspekt der Lebensqualität

Amartya Sen (* 3.11.1933)
Auch in der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Amartya Sen steht der Begriff der Freiheit im Zentrum der Beurteilung einer Gesellschaft und der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

Freiheit ist für Sen kostbar aus mindestens zwei Gründen. Erstens gibt uns Freiheit mehr Chancen, unsere Ziele zu verfolgen – die Dinge, die wir hoch schätzen. Sie unterstützt uns zum Beispiel bei der Entscheidung, so zu leben, wie wir möchten, und beim Streben nach den Zielen, die wir erreichen wollen. Zweitens können wir aber dem Entscheidungsprozess selbst Bedeutung beimessen. So wollen wir bei allen unseren Entscheidungen sicher sein, dass wir nicht in eine Lebenslage gezwungen werden, weil andere Druck auf uns ausüben (256).

Aus diesen Gründen stellt Amartya Sen den Begriff der Freiheit in das Zentrum seines sogenannten Befähigungs- oder Capability-Ansatzes.

„In diesem Ansatz wird der individuelle Vorteil gemessen an der Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hochschätzt. Hat eine Person geringere Befähigung – weniger reale Chancen – als eine andere, die Dinge zu tun, die sie mit Grund hoch bewertet, wird ihr Vorteil niedriger eingeschätzt“ (259)

Der Schwerpunkt beim Capability-Ansatz liegt also auf der tatsächlichen Freiheit einer Person, dieses oder jenes zu tun – Dinge, die ihr (und vielleicht nur ihr) wichtig sind.

Freiheit umfasst daher neben der Abwesenheit von Hindernissen (passive Freiheit), vor allem auch die Möglichkeit, nach eigenen Wünschen zu handeln (aktive Freiheit). Freiheit ist für Sen daher ein normatives Ziel, ein Zweck an sich. Eine Gesellschaft ist für ihn umso gerechter, je mehr ihrer Mitglieder über Befähigung- oder Verwirklichungschancen (capabilities) verfügen.

„Der Befähigungsansatz konzentriert sich auf das Menschenleben und nicht auf irgendwelche für sich stehenden zweckdienlichen Daten, etwa die Einkommensquellen oder Verbrauchsgüter, über die eine Person verfügt, Daten, die vor allem in wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen häufig als Hauptkriterien für den Erfolg von Menschen gelten“ (261).

Das Ziel des Capability Approaches ist also letztlich, die Gerechtigkeit nicht nur mit dem Einkommen, dem Besitz, mit Privilegien und Macht als eindimensionalen Maßstäben zu erfassen, wie es vielfach üblich ist. Im Vordergrund steht die Frage, was der Mensch für ein gutes, gelingendes Leben benötigt. Materielle Güter und Ressourcen werden für diesen Zweck nur als - allerdings wichtige - Mittel und nicht als Selbstzweck betrachtet.

Aristoteles
Schon Aristoteles hatte in der Nikomachischen Ethik mit großer Klarheit argumentiert: „Der Reichtum ist gewiss nicht das gesuchte oberste Gut. Denn er ist nur ein Nutzwert: Mittel für andere Zwecke“ (1096a).

Amartya Sen dagegen geht es bei seinem Ansatz um Befähigungen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann. 

Dazu ein Beispiel von Sen: „Auch wenn zwischen zwei Personen hinsichtlich ihrer realisierten Funktionsweisen ´Gleichstand` herrscht, können sich dahinter immer noch signifikante Unterschiede zwischen den Vorteilen der einen und der anderen Person verbergen (…) Vergleicht man zum Beispiel den Hunger und die Unterernährung zweier Menschen, kann jemand, der aus religiösen oder politischen Gründen freiwillig fastet, genauso an Unterernährung und Nahrungsmangel leiden wie das Opfer einer Hungersnot … und dennoch kann die Befähigung der gut situierten Person, die das Fasten gewählt hat, viel größer sein als die Chancen derjenigen, die unfreiwillig aus Armut und Not Hunger leidet“ (264).

Der Befähigungsansatz verknüpft die Idee der Befähigung mit dem Vorhandensein von substantieller Freiheit und schreibt so der tatsächlichen Fähigkeit einer Person, die verschiedenen Dinge zu tun, die ihr wichtig sind, eine zentrale Rolle zu.

Der Capability-Ansatz konzentriert sich also auf das Leben, das Menschen tatsächlich führen können, und nicht auf ihre Ressourcen. Er bestätigt damit ausdrücklich, dass die Mittel für ein befriedigendes Menschenleben nicht selbst Ziele des guten Lebens sind – genau darauf kam es auch Aristoteles an.

(Quelle: Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung)
So richtet Sen schließlich den Blick auf die instrumentellen Funktionen der Freiheit. Diese dienen den Menschen als Mittel, das Ziel der Freiheit, d.h. die Verwirklichungschancen sicherzustellen. Zu den instrumentellen Freiheiten zählen neben den politische Freiheiten (Kritik, Widerspruch, Wahlrecht) auch ökonomische Ressourcen, sowie soziale Chancen (Bildung, Gesundheit), soziale Sicherheiten (Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Mindestlöhne) und die von ihm sogenannten Transparenzgarantien (vor allem Pressefreiheit)

Es ist das Verdienst Sens, den Begriff der Freiheit auf seine ursprüngliche Grundbedeutung zurückgeführt zu haben: Freiheit als Befähigung oder Chance, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten oder Präferenzen wählen und entscheiden zu können. So verstanden beschreibt Freiheit einen fundamentalen Zustand der Autonomie des Individuums.

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)  --  Aristoteles: Ethik, München 1991 (dtv)


Donnerstag, 23. August 2012

Novalis und die Romantik

Novalis (1772 - 1801)
„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Nach Ansicht von Rüdiger Safranski enthalten diese Worte von Novalis die eindeutig beste Definition des Romantischen. Die Romantik ist eine Epoche, das Romantische dagegen eine Geisteshaltung, die sich nicht auf eine Epoche beschränken lässt – „das Romantische gibt es bis heute“ (12).

Für Safranski gehört die Romantik zu den seit zweihundert Jahren nicht abreißenden Suchbewegungen, „die der entzauberten Welt der Säkularisierung etwas entgegensetzen sollen“ (13). So triumphiere die Romantik über das Realitätsprinzip, was gut für die Poesie sei, aber schlecht für die Politik, sobald sich das Romantische in die Politik verirrt – wie bei Heidegger gut zu beobachten ist.

Als Novalis, mit bürgerlichen Namen Friedrich von Hardenberg, am 25. März 1801 im Alter von nur neunundzwanzig Jahren starb, war er nahezu unbekannt. Sein eigentlicher Ruhm begann, als Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel ein Jahr nach seinem Tod einige der nachgelassenen Werke veröffentlichten.

Schnell wurde Novalis zur mythischen Figur der Romantik. Mit seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ hatte Novalis nichts Geringeres vor, „als den Deutschen ihren romantischen Mythos zu dichten. Es sollte darin alles seinen Platz finden, die Entstehung des christlichen Abendlandes, griechisch-antike Einflüsse, morgenländische Weisheit, römisches Herrschaftswissen, die hohe Zeit der Staufer-Kaiser, die politischen und geistigen Schicksale Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, märchenhaft und gedankenreich, erzählend und reflektierend“ (111).

Die Rede „Die Christenheit oder Europa“, geschrieben 1799, wurde von Tieck und Schlegel zunächst nur gekürzt herausgegeben. Novalis hatte sie in dem historischen Augenblick verfasst, als Napoleon sich anschickte, zum Herrscher über Europa zu werden und es scheinbar so aussieht, als würde das alte, christliche Europa verschwinden.

Diese Rede ist in diesem Kontext nichts anderes als der „Versuch, die Geschichte der Vertrocknung des heiligen Sinns zu erzählen, die Gründe dafür ausfindig zu machen und die Chancen einer Erneuerung zu erkunden“ (125). Alles komme darauf an, den heiligen Sinn, oder auch den unsterblichen Sinn, in sich selbst zu bewahren und dafür zu sorgen, dass er in der gegenwärtigen Welt nicht erlischt.

Die Rede selbst ist eine „poetisch formulierte Geschichts- und Religionsphilosophie, die in die Vision eines dritten Weltzeitalters mündet“. Elegisch und prophetisch fordert sie nicht eine Rückkehr in eine gute, alte Zeit, sondern den Aufbruch zu neuen Ufern, für eine gewandelte, wiedergeborene Christenheit in einem geeinten Europa, gleichwohl „geeint nicht nur durch die Waffen Napoleons oder die Hegemonie eines nationalen Geistes, sondern geeint in universeller spiritueller Gemeinschaft, ohne Rücksicht auf Landesgrenzen“ (126).

Die Rede rief bei den Freunden, denen Novalis die Rede persönlich vortrug, Verwirrung hervor. Sie beschlossen, sie nicht im Athenäum drucken zu lassen. Auch Goethe empfahl, den Text nicht zu veröffentlichen, weil er der Öffentlichkeit Vorwände zu Verleumdungen bieten könnte.

Aber: Ist die Rede wirklich, wie manche meinen, eine reaktionäre Utopie? Der Kerngedanke der Rede lautet: Wo keine Götter sind, walten Gespenster.

„Gegenwärtig, so Novalis, herrschen die Gespenster des Eigennutzes, des Nationalismus, des politischen Machtdenkens. Wir würden das heute ‚Ideologien‘ nennen. Sie sind an die Stelle des verkümmerten heiligen Sinns getreten. Man hat das Wissen vom Glauben losgerissen und wirft sich nun mit Glaubenseifer auf die Wissenschaft als Ersatzreligion“ (127).

Die Folge dieses Prozesses sei, dass der gegenwärtige Mensch rastlos beschäftigt ist, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, - jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebenden Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden.

Junotempel in Agrient - Caspar David Friedrich (1774–1840)  

Die Verbindung von Poesie und Religion ist für Novalis die Garantie für die Wiedergeburt eines neuen dritten Zeitalters – nach der Antike und dem christlichen Mittelalter. Diese neue Zeit aber würde vom poetischen Geist inspiriert sein, der sich aber eben nicht im Unbestimmten verlieren dürfe.

  
Zitate aus: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt a.M. 2009 (fischer) -- Novalis: Die Christenheit oder Europa, online bei Zeno.org

Donnerstag, 16. August 2012

Adam Smith und die Ehre


Adam Smith wurde am 5. Juni 1723 in Kirkcaldy (Schottland) geboren. Mit nur 14 Jahren begann er an der Universität Glasgow zu studieren und besuchte dort die Vorlesungen des „unvergesslichen Hutchenson“, der wohl wie kein anderer dazu beigetragen hatte, Smiths Geist anzuregen.

Adam Smith (1723 - 1790)
Im Juni 1740 verließ Smith Glasgow, um nach Oxford zu gehen. Sehr wohl fühlte er sich in dem damals eher rückständigen Oxford nicht und so kehrte er 1746 nach Kirkcaldy zurück.

Smith strebte nun einen Lehrstuhl an einer schottischen Universität an und 1748 erhielt er schließlich die Möglichkeit, als Dozent an der Universität Edinburgh öffentliche Vorträge über englische Literatur zu halten. Obwohl die Vorlesungen nicht zum offiziellen Lehrprogramm gehörten, erfreuten sie sich einer außerordentlichen Beliebtheit.

Die Edinburgher Vorlesungen trugen bald Früchte, denn 1750 berief man Smith – im Alter von nur 27 Jahren !!! - auf den Lehrstuhl für Logik an der Universität Glasgow, zwei Jahre später übernahm er die Professur für Moralphilosophie, die vor ihm sein Lehrer Hutcheson innehatte.

1759 veröffentlichte Smith sein erstes großes Werk, die „Theorie der ethischen Gefühle“, das ihn in ganz Europa bekannt machte. Darin geht Smith den Gründen nach, die dazu führen, dass die Menschen Sympathie füreinander empfinden. 

In seiner Schrift vertritt Smith – im Gegensatz zu Thomas Hobbes - ein optimistisches Menschenbild, das auch für sein späteres Werk „Der Wohlstand der Nationen“ grundlegend ist. Auch wenn man den Menschen für egoistisch halten möge, „so ist er doch offenkundig von Natur aus so veranlagt, dass er sich für das Schicksal anderer interessiert und er deren Glück und Wohlbefinden als für sich wichtig betrachtet, obwohl er davon keinen Nutzen hat, außer der Freude, die anderen so zu sehen.“ 

Nehmen wir am Schicksal des anderen teil, so treten wir gleichsam als außenstehender Beobachter (the impartial spectator) auf, der in der Lage ist, das Verhalten des anderen zu beurteilen  Wollen wir uns auch eine Meinung über das eigene Verhalten und Handeln bilden, so müssen wir einen angenommenen Beobachter hinzuziehen, der aus einer gewissen Distanz unser Tun und Verhalten beurteilt: 

„Wir können niemals unsere eigenen Gefühle und Motive überschauen und wir können uns auch niemals irgendein Urteil über sie bilden, wenn wir nicht selbst von der eigenen natürlichen Lage oder Stellung Abstand gewinnen und uns bemühen, sie aus einer bestimmten Distanz zu uns zu betrachten.“ 

1763 legte Smith seine Professur nieder, um den Herzog von Buccleuch auf einer mehrjährigen Reise ins europäische Ausland zu begleiten. Die Bedingungen waren verlockend: Neben einem jährlichen Gehalt von dreihundert Pfund plus Spesen erhielt Smith auch eine Lebensrente von jährlich dreihundert Pfund. Das bedeutete ein doppelt so hohes Gehalt wie in Glasgow. 

Im Verlauf der Reise lernte Smith die führenden Persönlichkeiten des Physiokratismus kennen, die Ökonomen Turgot und Quesnay. Auch Smith begann sich nun, zunehmend mit ökonomischen Themen zu beschäftigen. Nach seiner Rückkehr nach England arbeitete Smith ununterbrochen am „Wohlstand der Nationen“, der 1776 veröffentlicht wurde. 

Smith wohnte weiterhin in Kirkcaldy. Hier erhielt er 1778 die Nachricht, Lord North habe ihn zum Zollkontrolleur (und Einnehmer für die Salzsteuer) von Schottland ernannt. Lord North war zu dieser Zeit Schatzkanzler und Premierminister und hatte bei der Vorbereitung des Staatshaushaltes mehrmals auf den „Wohlstand“ zurückgegriffen. 

Wealth of Nations, London Edition (1776)

Die Ernennung bedeutete 600 Pfund Jahreseinkünfte, davon 500 Pfund für die Zollaufsicht und 100 Pfund für die Kontrolle über die Salzsteuern. 

Außerdem bezog Smith weiterhin seine Rente von 300 Pfund vom Hause Buccleuch. Als er die neue Stelle erhielt, fühlte er sich moralisch verpflichtet, auf seine Rente zu verzichten. Man teilte ihm indes mit, die Rente sei auf Lebzeiten gewährt und an keine Bedingung geknüpft, und der Verzicht gereiche wohl Adam Smith zur Ehre, aber nicht dem Herzog von Buccleuch. 

So blieb Adam Smith nichts anderes übrig, als auf den Verzicht zu verzichten. In Edinburgh bezog Smith das Haus in Canongate, in dem er für den Rest seines Lebens wohnen blieb und auch starb. 

Smith hinterließ ein recht kleines Vermögen, und seine Freunde konnten anfangs ihre Verwunderung darüber kaum verbergen, denn er hatte stets einen sehr bescheidenen Haushalt geführt, obwohl er bekannt war für seine Gastfreundlichkeit. 

Aber sie wussten damals noch nicht, wenn auch viele von ihnen es lange vermuteten, dass er im Geheimen für wohltätige Zwecke außerordentlich große Summe ausgegeben hatte ... 

Literatur: Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 2009 (dtv) -- Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Leipzig 1926 (Meiner) 






Donnerstag, 9. August 2012

Marcus Tullius Cicero und die Freundschaft


Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v.Chr.)
Im Herbst 44 v.Chr. schrieb Marcus Tullius Cicero – Politiker, Rechtsanwalt, Schriftsteller und Philosoph – eines der schönsten Werke über die Freundschaft: „Laelius de amicitia“.

Amicitia“ war in der Rom gewöhnlich der Begriff, mit dem man alle Freundschaften im philosophischen, sozialen und politischen Bereich bezeichnete. Zur Beschreibung einer persönlichen Freundschaft dagegen verwendete man den Terminus „familiaritas“.

Vor allem in der römischen Republik waren die politisch-freundschaftlichen Beziehungen zwischen hochgestellten Personen wichtig, um sich gegenseitig bei Wahlen oder Prozessen zu unterstützen. Eine ähnliche Funktion besaß auch der Patron als amicus seiner Klienten. „Für eine gute Herrschaft gibt es keine bessere Hälfte als verlässliche und verständige Freunde“, schreibt Tacitus (Historien, IV,7).

Aufschlussreich ist die Tatsache, dass eine politische Freundschaft nicht notwendig zugleich auch eine persönliche sein musste. Cicero beispielsweise nannte Quintus Fufius Calenus einen amicus, obwohl er ihn persönlich nicht ausstehen konnte (Briefe an Atticus, 15,4,1).

In der Kaiserzeit galten alle hohen Funktionsträger als amici augusti. Ein „kaiserlicher Freund“ hatte zwar einen hohen sozialen und politischen Stand, der Verlust der kaiserlichen Freundschaft hingegen bedeutete für nicht Wenige den sicheren Tod.

Vor diesem Hintergrund schreibt Cicero seinen Laelius und verteidigt eine philosophische Sicht der amicitia. Das Werk hat die Form eines Dialoges, an dem Gaius Laelius und seine beiden Schwiegersöhne Quintus Mucius Scaevola und Gaius Fannius teilnehmen.

Laelius selbst war Staatsmann (Konsul 140 v.Chr.) und Offizier, aber auch ein angesehener Redner. Er pflegte einen regen Umgang mit Schriftstellern, hatte vielfältige philosophische Interessen und war berühmt für seine klugen Gedanken, was ihm den Beiname sapiens einbrachte. Das Gespräch spielt im Jahr 129 v.Chr., kurz nach dem Tod von Scipio Aemilianus, mit dem Laelius eine tiefe und beispielhafte Freundschaft verband.

Das Werk ist klar gegliedert: Das Proömium und das abschließende Lob auf die Tugend umrahmen den Hauptteil, in dem vier Aspekte des Themas behandelt werden: Der Wert der Freundschaft, das Wesen der Freundschaft, die Freundschaft zwischen Waisen und gewöhnliche Freundschaften.

Handschrift aus der Biblioteca Palatina (Heidelberg, 15. Jh.)
Cicero beginnt seine Schrift unter der Prämisse, dass die Freundschaft den Vorzug vor allen irdischen Gütern verdient. Sie setze vollkommene Übereinstimmung zwischen zwei Menschen in allen göttlichen und menschlichen Dingen voraus, verbunden mit Wohlwollen und Liebe. Freundschaft ist somit als das höchste aller äußeren Güter zu betrachten, denn während alle anderen äußeren Güter nur einzelnen Zwecken dienen, verbreitet sich die Freundschaft über die meisten Lebensverhältnisse und ist immer angenehm (18ff).

Der Grund wahrer Freundschaft ist die auf Tugend beruhende Liebe, nicht Hilfsbedürftigkeit. Wird diese auf Tugend beruhende Liebe durch gegenseitige Leistungen und durch persönliche Zuneigung befestigt, so erreicht Freundschaft ihre wahre Vollkommenheit und ist geschützt gegen alle Gefahren.

Freundschaft ist für Cicero untrennbar verbunden mit der Tugend, denn die Tugend ist nicht nur der Ursprung aller Freundschaft, sondern ohne sie kann keine Freundschaft bestehen (23).

So dürfe man weder von dem Freunde etwas Unsittliches verlangen, noch dem Freunde gewähren. Für Cicero besteht dabei das Unsittliche im Sinne eines römischen Staatsmannes in allem , was dem Staat nachteilig sein kann. Eine Freundschaft zu jemandem, der eine feindliche Gesinnung gegen die römische Republik hegt, ist somit sofort wieder aufzulösen (36ff).

Zur Freundschaft gehöre auch ein gemeinsames Bemühen um ein vorbildliches Leben, bei dem jeder des anderen Kritiker sein sollte. So sei es die Pflicht der Freunde, auch unaufgefordert im Sinne der Tugend dem Freunde mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sowie auch dessen wohlmeinenden Ermahnungen Folge zu leisten.

In diesem Zusammenhang sind die Eigenschaften eines Freundes für Cicero von entscheidender Bedeutung, darunter Charakterfestigkeit, Treue und, damit verbunden, Aufrichtigkeit, Umgänglichkeit und Gleichheit der Gesinnung. Zu diesen Eigenschaften muss aber auch eine gewisse Liebenswürdigkeit des Wesens als Würze der Freundschaft hinzutreten (62ff). So ist Cicero auch der Ansicht, dass „wahre Freundschaft mit hohen Ehren- und Machtpositionen schwerlich zu vereinen ist“ (64).

Was aber, wenn keine Gleichheit zwischen zwei Freunden vorliegt? Dann müsse eben Gleichheit hergestellt werden, indem es für die Höherstehenden eine Pflicht ist, sich zu den Niedrigeren herabzulassen und sich ihnen gleichzustellen. Für die Niedrigeren aber besteht die Pflicht darin, sich moralisch zu erheben und über die Vorzüge des anderen nicht verdrießlich zu werden (71ff).

Grundsätzlich gilt, dass man vom Freunde nicht verlangen darf, was man selbst nicht sein und leisten kann: Sei zuerst selbst gut, sodann suche einen dir einen dir Ähnlichen! Die Freundschaft ist dem Menschen von der Natur nicht als Gefährtin zum Laster, sondern als Gehilfin der Tugend gegeben. Die Tugend in Gemeinschaft mit der Freundschaft ist fähig das höchste Ziel zu erreichen, das heißt die auf Vernünftigkeit und Sittlichkeit beruhende Glückseligkeit (83ff).

Von solcher Art war die Freundschaft zwischen Laelius und Scipio, von solcher Art sollte jede Freundschaft sein.

Zitate aus: Cicero: Laelius. Über die Freundschaft, Stuttgart 1986 (Reclam)  --  Der lateinische Text ist online zu finden bei Wikisource,  oder auch, teilweise mit deutscher Übersetzung, im Oracle Think Quest, ansonsten auch beim Projekt Gutenberg.

Weitere Literatur: Karl Büchner: Der Laelius Ciceros, in: Museum Helveticum, Bd. 9, 1952, S. 88ff  --  Alexander Demandt: Das Privatleben der römischen Kaiser, München 1997 (C.H.Beck)

Donnerstag, 2. August 2012

Karl Raimund Popper und die Sozialtechnik der Einzelprobleme

In seinem gesamten Werk legt Karl Raimund Popper einen besonderen Schwerpunkt auf den engen Zusammen­hang zwischen dem freien, kritischem Denken in einer demokratischen und „offenen“ Gesellschaft einerseits und dem dogmatischen und autoritärem Denken in totalitären und „geschlossenen“ Gesellschaften andererseits.

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Poppers Ideen werden insbesondere deutlich an der Gegenüberstellung einer utopischen Sozialtechnik platonischen Stils und der von ihm vertretenen Sozialtechnik der Einzelprobleme.

Poppers Kritik an der utopischen Sozialtechnik gründet in der Feststellung, dass sie einen deutlichen Historizismus beinhaltet, also die Festlegung eines bereits jetzt feststehenden und erkennbaren endgültigen politischen Ziels der Geschichte – und zwar bevor irgendeine praktische politische Handlung unternommen wird. Das bedeutet, dass wir jede aktuelle soziale oder politische Situation nur vom Standpunkt eines bereits feststehenden historischen Ideals, eines angeblich letzten Ziels der geschichtlichen Entwicklung zu betrachten hätten“ (Vermutungen).

Popper geht selbstverständlich auch davon aus, dass jede rationale Handlung auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet sein müsse. So sei jede Handlung „rational in dem Maße, in dem sie ihr Ziel bewusst und konsequent verfolgt und in dem Maße, in dem sie Mittel festlegt, um dieses Ziel zu erreichen. Die Wahl eines Zieles ist also die erste Aufgabe, die wir lösen müssen, wenn wir rational handeln wollen. Wir müssen und wirklichen und endgültigen Ziele sorgfältig festsetzen und wir müssen dabei Teil- und Zwischenziele unterscheiden, die nur als Schritte auf dem Weg zum endgültigen Ziel zu verstehen sind“ (Offene Gesellschaft)

So ist es geradezu unausweichlich, dass die Umsetzung einer „Utopie, die eine ideale Gesellschaftsordnung zum Ziel hat und auf die alles politische Handeln ausgerichtet sein soll, wahrscheinlich zu Gewalt führen wird. Da wir nicht in der Lage sind, die letzten Ziele für unser politisches Handeln durch wissenschaftliche oder rationale Methoden zu bestimmen, kann man nicht endlos darüber argumentieren, wie die ideale Gesellschaft aussehen soll. Zum Teil werden die Argumente den Charakter von religiösen Auseinandersetzungen haben und zwischen den verschiedenen utopischen Religionen kann es kaum so etwas wie Toleranz geben“ (Vermutungen)

Reichsparteitag der NSDAP 1935
Nach Popper ist jeder Utopist also gezwungen, alle Konkurrenten, die seine Ziele nicht teilen, entweder zu überreden oder, wenn dies nicht gelingt, zu unterdrücken. Er muss somit „alle ketzerischen Ansichten gründlich ausrotten. Weil der Weg zum utopischen Ziel meistens sehr lang ist, muss der Utopist Maßnahmen ergreifen, um das Ziel über einen langen Zeitraum konstant zu halten. Das ist nur möglich, wenn er die anderen utopischen Religionen nicht nur unterdrückt, sondern so weit wie möglich auch jede Erinnerung an sie auslöscht“ (ebd.)


Dresden 1953: Parade nach dem Tode Stalins

Weil der Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates somit eine streng zentralisierte Herrschaft verlange, führe der Weg in eine Utopie letztlich in eine Diktatur: „Die völlige Umgestaltung einer Gesellschaftsordnung ist ein riesiges Unter­nehmen, das vielen Menschen über eine sehr lange Zeit viele Unannehmlichkeiten bereiten wird. Der utopische Sozialtechniker wird seine Ohren daher gegen viele Klagen verschließen müssen, er muss zum Teil sogar unvernünftige Einwände oder Kritik unterdrücken“ (Offene Gesellschaft)

Die Alternative zur utopischen Sozialtechnik ist für Popper die „von Fall zu Fall angewendete Sozial­technik, die Sozialtechnik der Einzelprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Ad-hoc-Technik“ (ebd.)

Natürlich habe auch ein Politiker dieser Methode eine Skizze einer zukünftigen Gesellschaftsordnung vor Augen und mag hoffen, dass die Menschen eines Tages glücklich und vollkommen wird leben können. Aber er wird seine Augen nicht verschließen vor den konkreten Problemen der Menschen.

So wird sich der Politiker der Ad-hoc-Technik nach den größten und dringlichsten Übeln in der Gesellschaft umsehen und versuchen sie systematisch zu bekämpfen. Er wird daher lieber für die Beseitigung von konkreten Missständen als für die Verwirklichung abstrakter Ideale arbeiten wollen: „Kämpfe lieber für die Beseitigung des Elends mit direkten Mitteln: für ein Mindesteinkommen für alle Menschen, gegen Epidemien und Krankheiten, für den Bau von Krankenhäusern. Bekämpfe Unwissenheit, wie du Verbrechen bekämpfst. Aber tu alles mit direkten Mitteln. Entscheide, was du als schlimme Übel in der Gesellschaft, in der du lebst, ansiehst, und versuche geduldig, die Leute zu überzeugen, dass wir diese Übel loswerden können“ (Vermutungen)

Die Pläne für den schrittweisen Umbau der Gesellschaft sind relativ einfach zu beurteilen. Selbst wenn sie fehlschlagen und durch neue bessere Pläne ersetzt werden müssen, dann ist der angerichtete Schaden nicht sehr groß. Über einen Idealstaat vernünftig zu diskutieren ist dagegen unendlich schwierig. „Das soziale Leben ist so kompliziert, dass nur wenige Menschen – wenn überhaupt irgendjemand - fähig sind, einen Bauplan für soziale Maßnahmen im großen Maßstab zu entwerfen und richtig einzuschätzen: ob er praktisch ist, ob er zu einer wirklichen Verbesserung führt, welche Leiden mit und bei seiner Verwirklichung auftreten werden“ (Offene Gesellschaft).

So verteidigt Popper die „These, dass vermeidbares menschliches Leid das dringendste Problem einer rationalen öffentlichen Politik ist, während die Förderung des Glücks kein Problem der öffentlichen Politik ist, sondern zu unserer privaten Initiative gehört (…) Im Gegenteil: Wenn unsere Ziele und Zwecke irgendetwas mit menschlichem Glück und Elend zu tun haben, dann dürfen wir unser politisches Handeln nicht im Hinblick auf das Glück oder Elend der Menschen in einer fernen Zukunft beurteilen, sondern nach ihren unmittelbaren Wirkungen in der Gegenwart. Alle Generationen sind vergänglich, und deshalb haben alle das gleiche Recht darauf, von der Politik berücksichtigt zu werden. Unsere unmittelbaren Pflichten beziehen sich daher auf die heutige und die kommende Generation. Vor allem sollten wir niemals versuchen, das Elend eines Menschen, der heute lebt, gegen das Glück eines anderen Menschen aufzurechnen, der noch nicht einmal geboren ist“ (Vermutungen)

Implizit wendet sich Popper kategorisch gegen die fatale Verbindung zwischen Politik und Romantik, weil letztlich „mit der utopischen Sozialtechnik also auch die Vernunft über Bord geworfen und durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder ersetzt wird. Diese irrationale Einstellung, die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht, nenne ich Romantizismus. Dieser mag einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber er wendet sich immer an unsere Gefühle, niemals an unsere Vernunft. Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten“ (Offene Gesellschaft).

So dürfen wir Popper zufolge unseren Träumen von einer wunderschönen Welt nicht erlauben, dass sie uns von den wirklichen Problemen der Menschen ablenken. „Unsere jetzigen Mitmenschen haben Anspruch auf Hilfe. Keine Generation darf zugunsten zukünftiger Generationen geopfert werden, zugunsten eines Glücksideals, das vielleicht nie erreicht wird“ (Vermutungen).

Popper verbindet seine Ideen mit der Überzeugung, dass wir davon ausgehen müssen, dass wir die unvermeidbaren und ungewollten Folgen unseres Handelns und Eingreifens nie ganz voraussehen können. „Sogar in unserem unmittelbaren Umgang mit Menschen machen wir, beim besten Willen, immer wieder Fehler; und wenn wir wirklich guten Willens sind, so werden wir dauernd versuchen, die Folgen unserer Handlungen zu überwachen, um unsere Handlungen beizeiten zu korrigieren. Das ist das Prinzip der dauernden Fehlerkorrektur: die Methode, dauernd nach Fehlern zu suchen und frühzeitig kleine und beginnende Fehler zu korrigieren“ (Elend des Historizismus)

Kritischer Rationalismus und Erkenntnisfortschritt 
So ist für Popper, das bewusste Lernen aus Fehlern die geeignetste Waffe gegen jede Form utopischer Träumerei: „Bewusstes Lernen aus unseren Fehlern, bewusstes Lernen durch dauernde Korrektur ist das Prinzip der Einstellung, die ich den Kritischen Rationalismus nenne“ (ebd.). Dies gelte natürlich auch für das Gebiet aller sozialen und politischen Handlungen. Die Methode der rechtzeitigen Fehlerkorrektur zu verfolgen sei nicht nur eine Weisheitsregel, sondern geradezu eine moralische Pflicht: „Es ist die Pflicht zur dauernden Selbstkritik, zum dauernden Lernen, zu dauernden kleinen Verbesserungen unserer Einstellung, unserer Urteile – auch der moralischen -  und unserer Theorien. Hier wird das Können zum Sollen: wir können aus unseren Fehlern lernen, darum ist es unsere Pflicht, aus unseren Fehlern zu lernen“ (ebd.). Alles andere sei Größenwahnsinn oder Verantwortungslosigkeit; auch dann, wenn es von den besten Absichten geleitet wird.

Das alles führt direkt zu einer Begründung der Forderung nach politischer Freiheit  und bestmöglicher Vermeidung aller politischen Machtanhäufung. Denn jede politische Machtanhäufung führt mit Notwendigkeit dazu, dass kleine Fehler zunächst unbemerkt bleiben. Dies geschieht selbst in einer Demokratie leider oft genug. Aber schließlich sei Demokratie auch keine Heilslehre, sondern nur eine der notwendigen Voraussetzungen, die es uns möglich machen, zu wissen, was wir tun.

„Wohl sollen wir denen vergeben, die nicht wissen, was sie tun; aber es ist unsere Pflicht, alles zu tun, um zu wissen“ (ebd.)
  
Zitate aus: Karl Raimund Popper: Das Elend des Historizismus,Tübingen 2003 (Mohr Siebeck), hier: Einleitung, Xff --  Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr Siebeck), hier: S. 213ff  -- Karl Raimund Popper: Vermutungen und Widerlegungen: Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Tübingen 2009 (Mohr Siebeck), hier: S. 522ff