Unter den Fragmenten des antiken griechischen Dichters
Archilochus (ca. 680 – 645) findet sich auch der folgende Vers: πόλλ᾽ οἶδ᾽ ἀλώπηξ, ἀλλ᾽ ἐχῖνος ἕν μέγα (Diehl fr. 103). „Viele Dinge weiß der Fuchs, aber der Igel weiß nur eine große Sache.“
Über den genauen Zusammenhang dieses Verses sind wir immer
noch im Unklaren, aber das Fragment dient Isaiah Berlin, dem bedeutenden
Vertreter des Liberalismus im 20. Jahrhundert, zur Beschreibung „der tiefsten
Unterschiede zwischen Schriftstellern und Denkern und vielleicht zwischen
Menschen überhaupt“ (7).
Der Igel weiß nur eine große Sache! |
Für Berlin sind Igel Systemdenker, die nur eine große Sache wissen, also „die alles auf eine einzige
Einheit beziehen“ (7) auf ein einziges allumfassendes philosophisches System,
das mehr oder weniger kohärent ist, „im Rahmen dessen sie verstehen, denken und
fühlen“ (7). Für sie existiert nur ein „ein einziges, universales, gestaltendes
Prinzip, das allein allem, was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht“ (7) und
mit Hilfe dessen sie die gesamte Wirklichkeit deuten und verstehen zu glauben.
Platon, Lukrez, Pascal, Hegel, Dostojewski, Nietzsche,
Ibsen, Proust und Dante sind für Berlin in unterschiedlichem Maße typische
Igel.
Viele Dinge weiß der Fuchs! |
Füchse dagegen wissen
vieles, sie fühlen sich von einer unendlichen Vielfalt von Dingen
angezogen. Sie sind Vielwisser, die „viele, oft unzusammenhängende und sogar
widersprüchliche Ziele verfolgen“ (7). Füchse sind in ihrem Denken durch kein
monistisches Prinzip, sei es moralisch, ästhetisch oder politisch, gebunden.
„Diese Menschen leben, handeln und denken in einer Weise,
die eher zentrifugal als zentripetal zu nennen ist. Ihr Denken ist sprunghaft
oder verschwommen, bewegt sich auf vielen Ebenen, und ergreift das Wesen einer
großen Vielfalt von Erlebnissen und Gegenständen um ihrer selbst willen, ohne bewusst
oder unbewusst den Versuch zumachen, sie mit irgendeiner unabänderlichen,
allumfassenden … einheitlichen inneren Einsicht in Einklang zu bringen“ (7f).
Typische Füchse sind nach Berlin Shakespeare, Herodot,
Aristoteles, Montaigne, Erasmus, Moliére, Goethe, Puschkin, Balzac und Joyce.
Die Unterscheidung zwischen Füchsen und Igeln dient aber
nicht nur zur Differenzierung von Theoretikern, sondern führt direkt zu Berlins
Verständnis des Wertepluralismus.
Berlin geht davon aus, dass es zwar bestimmte universelle
Werte gibt, die jedoch nicht von universeller Gültigkeit sind, weil sie
beispielsweise untereinander nicht kompatibel sind oder häufig auch in direktem
Widerspruch zueinander stehen. Werte wie Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit, Mitleid, Fairness oder auch Schönheit lassen sich
daher nicht in einem geschlossenes Theoriegebäude objektiv anordnen, was aber
die Igel stets versuchen.
Jedes Individuum wird daher seine eigene Wertehierarchie erstellen
und im Konfliktfall sich für einen Wert entscheiden müssen, abhängig vielleicht
von der konkreten Situation, den genauen Umständen und den beteiligten
Personen.
Anstatt also nach einem all umfassenden Erklärungsurgrund
der Realität zu suchen, sollten wir uns eher an den Füchsen orientieren und die
Welt in ihrer ganzen Vielfalt (und Widersprüchlichkeit) erkennen und
schätzen lernen.
Nur in einer Welt, in der den Menschen verschiedene und
vielfältige Denk- und Handlungsoptionen offen stehen, können Freiheit und
Wahlmöglichkeiten der Bürger garantiert und bewahrt werden.
Zitate
aus: Isaiah Berlin: Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs
Geschichtsverständnis, Frankfurt am Main 2009 (suhrkamp)
Weitere
Literatur: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006
(fischer) -- Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Frankfurt am Main 2004 (fischer) – Ernst Diehl: Anthologia Lyrica Graeca. 2 Bände., Leipzig 2. Ausgabe 1934–1942
(Teubner)
Siehe zuletzt auch: Amartya Sen in "Die Idee der Gerechtigkeit": "Es gibt tatsächlich Denkschulen, die ausdrücklich oder implizit drauf bestehen, dass alle verschiedenen Werte am Ende auf eine einzige Bedeutungsquelle reduziert werden müssen. Dieses Bestreben speist sich bis zu einem gewissen Grad aus panischer Angst vor `Unvereinbarkeit´ - das heißt irreduzibler Verschiedenartigkeit mehrer Objekte von Wert" (422).
Siehe zuletzt auch: Amartya Sen in "Die Idee der Gerechtigkeit": "Es gibt tatsächlich Denkschulen, die ausdrücklich oder implizit drauf bestehen, dass alle verschiedenen Werte am Ende auf eine einzige Bedeutungsquelle reduziert werden müssen. Dieses Bestreben speist sich bis zu einem gewissen Grad aus panischer Angst vor `Unvereinbarkeit´ - das heißt irreduzibler Verschiedenartigkeit mehrer Objekte von Wert" (422).
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