Samstag, 31. Dezember 2011

Aristoteles und die Eudaimonia


Brueghels berühmtes Bild „Das Schlaraffenland“ bezieht sich auf das im 16. Jahrhundert entstandene Märchen „Das Schlaraffenland“ - wörtlich „Das Land der faulen Affen“ -, ein fiktiver Ort, in dem alles im Überfluss vorhanden ist: 

Das Schlaraffenland - Pieter Brueghel d.Ä. (1525 - 1569) 

„Da sind die Häuser gedeckt mit Eierfladen, und Türen und Wände sind von Lebkuchen, und die Balken von Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der ist von Bratwürsten geflochten. Alle Brunnen sind voll süßer Weine, die rinnen einem nur so in das Maul hinein.“

In den Flüssen fließen Milch, Honig oder Wein statt Wasser. Alle Tiere sind bereits vorgegart und bieten sich mundfertig den Hungrigen an: 

„Die Fische schwimmen in dem Schlaraffenlande oben auf dem Wasser, sind auch schon gebacken oder gesotten, und wenn einer ganz faul ist, der braucht nur rufen – so kommen die Fische auch heraus aufs Land spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand. Die Spanferkel geraten dort alle Jahr überaus trefflich; sie laufen gebraten umher und jedes trägt ein Transchiermesser im Rücken, damit, wer da will, sich ein frisches saftiges Stück abschneiden kann.“

Genuss gilt als die größte Tugend der Schlaraffen, harte Arbeit und Fleiß werden dagegen als Sünde betrachtet. Das Schlaraffenland ist das Paradies des Nichtstuns.
Auch für die Schlafsäcke und Schlafpelze, die bei uns von ihrer Faulheit arm werden und betteln gehen müssen, ist jenes Land vortrefflich. Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein, und jedes Mal Gähnen einen Doppeltaler.

Wer gern arbeitet, Gutes tut und Böses lässt, der wird von jedermann verachtet, und er wird Schlaraffenlandes verwiesen. Wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Dem aber, welchen das allgemeine Stimmrecht als den faulsten und zu allem Guten untauglichsten erkannt, der wird König über das ganze Land, und hat ein großes Einkommen.“

Das Märchen und das Bild Brueghels verweisen auf die Frage, was einen Menschen glücklich macht. In der antiken griechischen Philosophie wurden dazu Ansätze entwickelt, die auch heute noch von Bedeutung sind.

Für den Hedonismus erreicht man das Glück durch die Befriedigung der Bedürfnisse. Der Vertreter des positiven Hedonismus, Aristippos von Kyrene (435 - 355 v. Chr.), fordert daher eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ohne Rücksicht auf einschränkende Vorschriften. Der negative Hedonismus in der Tradition Epikurs (341 - 270 v. Chr.) dagegen sieht Glück eher in der Selbstgenügsamkeit (gr. αὐτάρκεια) und in der vernunftgeleiteten Einschränkung der Bedürfnisse, die letztlich ein höheres Maß an Befriedigung verspricht – ähnlich dem modernen „Weniger ist mehr“.
 
Seine klassische Ausprägung erreicht die antike Glücksethik jedoch in Aristoteles´
Eudaimonismus. Ihm zufolge ist die Glückseligkeit dann erreicht, wenn sich drei Glücksformen bei einem Menschen in einem harmonischen Verhältnis befinden (Nikomachische Ethik, I.3.). 
 
Die erste Form ist ein Leben der Lust und der Vergnügungen, die zweite ein Leben als freier und verantwortungsbewusster Bürger. Diese beiden Formen lassen sich auch als vita activa beschreiben. 
 
Die dritte Form des Glücks besteht in der Lebensform eines Forschers und Philosophen, ein Leben, das ganz der geistigen Schau (gr. Θεωρείν = „das Göttliche betrachten“) und der Erkenntnis, also der vita contemplativa gewidmet ist.
 
Mit diesen Glücksformen verbunden ist im aristotelischen Eudaimonismus
der Begriff der „Mitte“, denn das Bemühen um das rechte Maß bei allen unseren Handlungen, Emotionen und Begierden führt direkt zu einem tugendhaften Leben. 

So ist beispielsweise die Tugend der Tapferkeit eine Mitte zwischen den Lastern Tollkühnheit und Feigheit. Die Mitte findet sich also zwischen den Extremen des Zuviel und Zuwenig. Sie ist jedoch keine mathematisch berechenbare Größe, sondern wird situationsanhängig als Beschreibungsmodus verwendet, als „ein Verhalten der Entscheidung, begründet in der Mitte im Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird und danach, wie der Kluge bestimmen würde“ (Nikomachische Ethik, II.6.).

Im Schlaraffenland ließe sich nach Aristoteles die Glückseligkeit jedenfalls nicht erreichen, bleibt doch das Leben auf die Glücksform der Lust und des Vergnügens beschränkt. Aber wahrscheinlich ließe sich Aristoteles allein schon von den Einreisebedingungen ins „Land der faulen Affen“ abschrecken: „Um das ganze Land herum ist nämlich eine berghohe Mauer von Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst durchfressen.“

Zitate aus: Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen, Düsseldorf 2011 (Artemis & Winkler), im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/4510/22 -- Aristoteles: Ethik, München 1991 (dtv) -- Epikur: Brief an Menoikeus, in: Epikur: Von der Überwindung der Angst, München 1983 (dtv)

Weitere Literatur: Hans Sachs: Das Schlaraffenland, im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/5222/3 -- Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 1, Bücher I-VI, Hamburg 2008 (Meiner) -- Jörg Peters und Bernd Rolf: Ethik im Bild, Bamberg 2003 (C.C: Buchner)


Mittwoch, 28. Dezember 2011

Lukian und die Kritik an den Philosophen


Für Lukian ist die Paideia der Vollzug eines gelungenen Lebens. Sie umfasst gleichermaßen theoretisches Studium wie auch praktische Übung und Aneignung und durchdringt den gesamten Menschen und seinen Charakter wie eine zweite Natur.

Lukian (William Faithorne, 1627–1691)
Vor allem aber ist die Paideia niemals nur Mittel zum Zweck. Gleichwohl wird sie von manchen wie eine Maske benutzt, die man zu bestimmten Gelegenheiten aufsetzen kann oder wie eine Rolle, die man je nach Bedarf spielt. Gegen diese Menschen richtet sich die teilweise bissige Kritik Lukians, die er an verschiedenen Stellen seines Werkes formuliert hat.

Zunächst polemisiert Lukian gegen das unproduktive Nachsinnen der Philosophen über irrelevante Fragen. In den „Gesprächen unter Toten“ bittet Diogenes einen Freund, der aus dem Hades wieder in die Welt zurückkehrt, den dortigen Philosophen mitzuteilen, „sie sollen endgültig Schluss damit machen, dummes Zeug zu schwätzen und über das All zu eifern und einander Hörner aufzusetzen und den jungen Leuten beizubringen, solche aussichtslosen Fragen zu stellen“ (83).

In „Das Gastmahl oder die Lapithen“ weitet Lukian seine Kritik an einem falschen Bildungsverständnis auf den bis heute bekannten Typus vom Pseudo-Intellektuellen aus, der zwar viel enzyklopädisches Wissen aus vielen Büchern angesammelt hat, um nach außen gebildet zu erscheinen, der aber in der eigenen Lebenspraxis nichts mit ihnen anfangen kann.

Lukian lässt Lykinos seinem Freund Philon von einem Gastmahl erzählen, zu dem auch einige der bekanntesten Philosophen und Rhetoriklehrer eingeladen waren. Im Laufe des Abends muss Lykinos jedoch enttäuscht feststellen, „dass ein großes Wissen zu überhaupt nichts nutze ist, wenn man nicht auch sein Leben zum Besseren hin ordnet: Jedenfalls musst ich mit ansehen, wie diese Leute, großartig im Formulieren, sich zum Gespött machten, wenn es ans Handeln hing. Dann fragte ich mich, ob vielleicht wahr ist, was viele Leute sagen, dass die Bildung diejenigen, die immer nur in ihre Bücher und auf die Gedanken darin starren, vom Weg der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes abbringt. Jedenfalls waren hier so viele Philosophen versammelt, und das Schicksal wollte es, dass darunter nicht ein einziger ohne Fehl zu sehen war, sondern die einen taten Peinliches, die anderen gaben noch Peinlicheres von sich“ (159).

Die Charaktereigenschaften, die Lukian bei den Philosophen beobachtet, lesen sich wie ein Katalog von Anti-Tugenden: „Prahlerei, Unbildung, Streitsucht, Eitelkeit, absurde Fragen, dornige Argumente, verwickelte Gedanken, aber auch viel Lärm um nichts, einiges an Geschwätz, dummes Gerede, Haarspaltereien, beim Zeus, und andererseits das ganze Geld hier, Genusssucht, Schamlosigkeit, Jähzorn, Luxus und Verweichlichung“ (93 - Gespräche unter Toten).

Ihren Höhepunkt erreicht die Polemik Lukians gegen die falschen Philosophen in der Satire „Der Rhetoriklehrer“, die an Zynismus kaum noch zu überbieten ist. Lukian beschreibt hier die „Ausrüstung“, die sich ein „erfolgreicher“ Philosoph zulegen muss: „Als wichtigstes pack nun Dummheit ein, dann Dreistigkeit und dazu Draufgängerei und Frechheit. Zurückhaltung, Anstand, Bescheidenheit und Scham lass zu Hause, denn sie nützen nichts und schaden nur deinem Zweck.“ (175)

Weiter verspottet Lukian den intellektuellen Schein, mit dem sich die Philosophen umgeben, nur um ihre eigentliche Beschränktheit zu verbergen: „Dann trage einige abseitige und fremdartige Wörter zusammen, die bei den Alten nur selbst belegt sind, und habe sie griffbereit, um sie auf die Anwesenden abzufeuern. Bilde ab und zu auch selbst ein paar neue und merkwürdige Ausdrücke“ (176).

Schließlich attackiert Lukian gleichermaßen die Eitelkeit der Philosophen wie die Leichtgläubigkeit und Manipulierbarkeit des Publikums: „Deine Freunde sollen vor Begeisterung ständig von ihren Sitzen aufspringen und sich so für die vielen Abendesseneinladungen revanchieren, die du ihnen gegeben hast. (…) Es werden nur wenige sein, die dich durchschauen, und die werden meistens aus Gutmütigkeit schweigen“ (178).

So bleibt Lukian schließlich nur die Erkenntnis: „Affe bleibt Affe, auch wenn er Sandalen aus Gold trägt“ (212 – Gegen den ungebildeten Büchernarren).

Zitate aus: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke, Bibliothek der Alten Welt, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler)

Donnerstag, 22. Dezember 2011

John Stuart Mill und die Erziehung


J.S. Mill (Foto aus dem Jahre 1865)
In der berühmten Schrift "Über die Freiheit" (1859) von John Stuart Mill findet sich auch folgendes Zitat aus dem Werk "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (1792) von Wilhelm von Humboldt :

„Der wahre Zweck des Menschen, (…) ist die stetige und harmonische Entwicklung seiner Kräfte zu einem vollkommenen Ganzen. Darum ist ‚das Ziel, wonach jeder Mensch unaufhörlich und mit aller Kraft streben muss (…): Individualität der Kraft und Bildung.’

Dazu aber bedarf es nach Humboldts Ansicht zweier Bedingungen: es erfordert ‚Freiheit’ und ‚Mannifaltigkeit der Situationen’, und daraus entstehen ‚individuelle Kraft’ und ‚mannigfaltige Verschiedenheit’, die sich zu ‚Originalität’ vereinigen“ (94).

Vor dem Hintergrund dieser Gedanken entwirft John Stuart Mill die Idee einer auf Freiheit und Individualität gegründeten Erziehung.

Es ist die Überzeugung Mills, dass der Mensch nur dann ganz Mensch wird, wenn er seine persönliche Natur und Individualität entwickelt und kultiviert.

Mill wendet sich damit grundsätzlich gegen alle gesellschaftlichen Tendenzen, die individuellen Züge des Menschen in Gleichförmigkeit aufgehen zu lassen und die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen zu behindern.

Der Mensch sei eben keine Maschine, die - nach einem bestimmten Modell gebaut - eine genau vorgeschriebene Arbeit zu verrichten habe. „Sie gleicht vielmehr einem Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten möchte, gemäß der Tendenz seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen“ (97).

Im Hinblick auf die Erziehung kommt dem Staat natürlich eine entscheidende Bedeutung zu. Er kann und soll ein gewisses Maß an Erziehung verlangen und – wenn nötig - auch erzwingen. Dieser Zwang beschränkt sich allerdings lediglich auf die Erfüllung der Schulpflicht, die in England durch William Edward Forsters Elementary Education Act 1870, eingeführt wurde – also 3 Jahre vor dem Tod Mills.

William Edward Forster im Gespräch mit Schulkindern


Die Eltern sind demnach verpflichtet, ihren Kindern eine geistige und körperliche Grundausbildung zu ermöglichen, eine Weigerung gleiche einem „moralischen Verbrechen“ (171).

Voraussetzung für eine Erziehung unter staatlicher Aufsicht ist natürlich, dass ein Land qualifizierte, d.h. ausgebildete Lehrer habe, die eine Erziehung nach dem Prinzip der Freiheit anleiten können und die dafür auch angemessen vergütet würden.

Eine Gefahr sieht Mill jedoch in dem Versuch des Staates, auch die Inhalte und Werte in der Erziehung zu bestimmen und festsetzen zu wollen. Solch eine Erziehung diene nur dem Ziel, "alle Menschen einander anzugleichen“ je nach Geschmack der jeweiligen Regierung „sei dies ein Monarch, die Priesterschaft, eine Aristokratie oder die Mayorität“ (172).

Hier sieht Mill einen „Despotismus über die Geister“ am Werk, der „naturgemäß auch zu einer Tyrannei des Handelns führt“ (172).

Alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, sind daher von Übel (siehe dazu unten einen aktuellen Nachtrag). Vielmehr habe der Staat lediglich darauf zu achten, dass jeder Mensch ausreichende Kenntnisse besitzt, um einen gegebenen Gegenstand auch kritisch reflektieren zu können:

„Für einen Schüler der Philosophie wäre es z.B. heilsam, wenn er eine Prüfung über die Systeme von Locke und Kant bestanden hätte – auch wenn er keinem von beiden zustimmen könnte. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, weshalb ein Atheist sich nicht über seine Kenntnisse in der christlichen Dogmatik auswiesen sollte. Nur darf man nicht verlangen, dass er sich auch zu diesen Glaubenssätzen bekenne“ (174).

Die einfachste Möglichkeit, der Gefahr staatlicher Beeinflussung aus dem Wege zu gehen, wären jährlich stattfindende Examen, die allein die Aufgabe hätten, Kenntnisse und Fähigkeiten, Tatsachen und positives Wissen, Mathematik und Sprachen zu überprüfen.

In der Prüfung sollte man strittige religiöse oder politische Themen keinesfalls vermeiden, nur sollte man sich „nicht einlassen auf die Frage nach der Wahrheit und Falschheit bestimmter Ansichten“ (174), sondern deutlich machen, wer diese oder jene Meinung aus diesen oder jenen Gründen vertritt.

Mills Gedanken sind also ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Erziehung, die auf Freiheit, Individualität und eigenständigem Denken und Kritikfreudigkeit beruht. Diese Werte haben ihre Gültigkeit in der Pädagogik bis heute nicht verloren.

Nachtrag vom 17.09.2013: 

"Alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, sind daher von Übel." Dazu passt das aktuelle Beispiel aus Katalonien, die Region im Norden Spaniens, die sich in der Vergangenheit nicht eben durch den Schutz individueller Freiheitsrechte verdient gemacht hat (s. die Einträge vom 18. Juli 2013, 20. Dezember 2012, 20. Juni 2013): 

Einen Tag, nachdem der staatliche katalanische Fernsehsender TV3 12 Stunden reiner Sendezeit der Menschenkette für die Unabhängigkeit Kataloniens (11. September 2013) widmete, sendete TV3 in seinem Kindersender Super3 eine Reportage über eine katalanische Familie, die an der Menschenkette teilnahm. Hauptdarstellerin ist Berta, ein 9jähriges Mädchen, das gemeinsam mit ihren Eltern und den zwei Brüdern für die Unabhängigkeit Kataloniens auf die Straße geht. Mehrere andere Kinder kommen ebenfalls zu Wort. Sergi (14 Jahre) bekräftigt: "Wir kommen hierher um eine Menschenkette für die Unabhängigkeit zu bilden. Um zu fordern, dass sie (gemeint ist die spanische Regierung) uns unabhängig werden lassen." Estel (13 Jahre) erzählt: Ich bin gekommen, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen, hier in Katalonien. Wir Katalanen wollen letztlich, dass Spanien sich zurückzieht und uns unabhängig werden lässt." Anna (12 Jahre) behauptet: "1714 hörten wir Katalanen auf, unabhängig zu sein."

Der Nationalismus der katalanischen Regierung ist also ein "gutes" aktuelles Beispiel für den staatlichen Despotismus, der nicht vor der Indoktrination von Kindern und ihrem Missbrauch für politische Zwecke zurückschreckt. Mill hat diesen Missbrauch der Erziehung vor über 150 Jahren eindeutig entlarvt.

Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)
Weitere Literatur: Wilhelm Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 1986 (Reclam)

Sonntag, 18. Dezember 2011

Europa und die Erfindung der Volksnationen


In seinem berühmten Vortrag „Was ist eine Nation?“ (1882) formulierte Ernest Renan folgenden Gedanken: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eins davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben. (…) Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ (Renan, 34)

Renans Gedanken haben ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Nationen sind geistige Wesen, Gemeinschaften, die in den Köpfen und Herzen der Menschen existieren. Nationen hören auf zu existieren, wenn sie nicht mehr gedacht und gewollt werden. Nationen und Nationalbewusstsein entstehen aus einer gemeinsamen Geschichte, stützen sich auf gemeinsamen Ruhm und gemeinsame Opfer.

Das Nibelungenlied - die teutsche Ilias (Schnorr v. Carolsfeld, Siegfrieds Tod, 1845)

Die Geschichte einer Nation ist zwar entscheidend für ihre Legitimation, allerdings ist diese gemeinsame Geschichte in aller Regel von begrenzter Realität und vielfach „mehr erträumt und konstruiert als wirklich“ (111).

Parallel zur Industrialisierung und damit parallel zur Zerstörung alter Lebensmilieus wuchs im 19. Jahrhundert das Bedürfnis, die Gegenwart aus ihren geschichtlichen Wurzeln abzuleiten: „Alle Lebensbereiche wurden von einer romantischen Vergangenheitssehnsucht überwuchert“ (178). Dieser romantische Geist ergriff ganz Europa und suchte einen neuen kollektiven Lebenssinn, der als Fortführung der „alten Zeiten“ verstanden wurde. Dazu musste die jeweilige nationale Geschichte notwendig standardisiert und damit auch vereinfacht werden.

Vor allem die deutsche Nation wurde im 19. Jahrhundert „aus der Geschichte in Form einer utopischen Projektion begründet“ (179), gerade weil es in der Gegenwart keinerlei Anzeichen für eine nationale Einheit gab.

Dazu wurde sogar eine Wesensähnlichkeit zwischen deutscher Gegenwart und griechischer Antike behauptet. In der Ode „Gesang des Deutschen“ proklamiert Hölderlin: „Noch lebt´s! Noch waltet der Athener Seele, die göttliche, still bei den Menschen“ – gemeint sind die Deutschen.

Daneben erschien das deutsche als „in direkter Nachfolge des germanischen Volks, und alle guten Eigenschaften, die Tacitus bei den Nordvölkern gefunden haben wollte, fanden sich jetzt bei den Deutsch wieder: Treue, Sittsamkeit, Enthaltsamkeit, Tapferkeit, Einfachheit, alles das im Kontrast du den verdorbenen Sitten der französischen Nachbarn“ (181).

Schließlich wurde auch die Geschichte des Mittelalters zur nationalen Leidenschaft: Das Nibelungenlied ging als die „teutsche Ilias“ in die deutsche Kulturlandschaft ein und man träumte offen von der Wiederauferstehung eines deutschen Kaiserreiches voller Glanz und Macht.

Die Geschichte der europäischen Nationen - nicht nur die der Deutschen - wurde letztlich also eher konstruiert als rekonstruiert - vor allem genau dort, wo die historische Kontinuität besonders fragwürdig und zweifelhaft war.

Aber diese historische Selbstvergewisserung hatte nicht nur nationale Integration zum Ziel, sie diente auch zur Legitimation weitreichender Herrschaftsansprüche – und dies gilt bis heute. Man braucht sich nur die politischen und territorialen Ansprüche innerhalb Europas anschauen, um gewahr zu werden, dass das „historische Gedächtnis der Völker oft mörderische Lehren“ (189) erteilt.

Zitate aus: Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004 (C.H. Beck) 
Weitere Literatur: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt)  ---  Friedrich Hölderlin: "Gesang des Deutschen", in: Gesammelte Werke, Gütersloh 1955 (Bertelsmann), S. 135 

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Isaiah Berlin und die Kritik an den Igeln


Unter den Fragmenten des antiken griechischen Dichters Archilochus (ca. 680 – 645) findet sich auch der folgende Vers: πόλλ᾽ οἶδ᾽ ἀλώπηξ, ἀλλ᾽ ἐχῖνος ἕν μέγα (Diehl fr. 103). „Viele Dinge weiß der Fuchs, aber der Igel weiß nur eine große Sache.“

Über den genauen Zusammenhang dieses Verses sind wir immer noch im Unklaren, aber das Fragment dient Isaiah Berlin, dem bedeutenden Vertreter des Liberalismus im 20. Jahrhundert, zur Beschreibung „der tiefsten Unterschiede zwischen Schriftstellern und Denkern und vielleicht zwischen Menschen überhaupt“ (7).

Der Igel weiß nur eine große Sache!
Für Berlin sind Igel Systemdenker, die nur eine große Sache wissen, also „die alles auf eine einzige Einheit beziehen“ (7) auf ein einziges allumfassendes philosophisches System, das mehr oder weniger kohärent ist, „im Rahmen dessen sie verstehen, denken und fühlen“ (7). Für sie existiert nur ein „ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip, das allein allem, was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht“ (7) und mit Hilfe dessen sie die gesamte Wirklichkeit deuten und verstehen zu glauben.

Platon, Lukrez, Pascal, Hegel, Dostojewski, Nietzsche, Ibsen, Proust und Dante sind für Berlin in unterschiedlichem Maße typische Igel.

Viele Dinge weiß der Fuchs!
Füchse dagegen wissen vieles, sie fühlen sich von einer unendlichen Vielfalt von Dingen angezogen. Sie sind Vielwisser, die „viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele verfolgen“ (7). Füchse sind in ihrem Denken durch kein monistisches Prinzip, sei es moralisch, ästhetisch oder politisch, gebunden.

„Diese Menschen leben, handeln und denken in einer Weise, die eher zentrifugal als zentripetal zu nennen ist. Ihr Denken ist sprunghaft oder verschwommen, bewegt sich auf vielen Ebenen, und ergreift das Wesen einer großen Vielfalt von Erlebnissen und Gegenständen um ihrer selbst willen, ohne bewusst oder unbewusst den Versuch zumachen, sie mit irgendeiner unabänderlichen, allumfassenden … einheitlichen inneren Einsicht in Einklang zu bringen“ (7f).

Typische Füchse sind nach Berlin Shakespeare, Herodot, Aristoteles, Montaigne, Erasmus, Moliére, Goethe, Puschkin, Balzac und Joyce.

Die Unterscheidung zwischen Füchsen und Igeln dient aber nicht nur zur Differenzierung von Theoretikern, sondern führt direkt zu Berlins Verständnis des Wertepluralismus.

Berlin geht davon aus, dass es zwar bestimmte universelle Werte gibt, die jedoch nicht von universeller Gültigkeit sind, weil sie beispielsweise untereinander nicht kompatibel sind oder häufig auch in direktem Widerspruch zueinander stehen. Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Mitleid, Fairness oder auch Schönheit lassen sich daher nicht in einem geschlossenes Theoriegebäude objektiv anordnen, was aber die Igel stets versuchen.

Jedes Individuum wird daher seine eigene Wertehierarchie erstellen und im Konfliktfall sich für einen Wert entscheiden müssen, abhängig vielleicht von der konkreten Situation, den genauen Umständen und den beteiligten Personen.

Anstatt also nach einem all umfassenden Erklärungsurgrund der Realität zu suchen, sollten wir uns eher an den Füchsen orientieren und die Welt in ihrer ganzen Vielfalt (und Widersprüchlichkeit) erkennen und schätzen lernen.

Nur in einer Welt, in der den Menschen verschiedene und vielfältige Denk- und Handlungsoptionen offen stehen, können Freiheit und Wahlmöglichkeiten der Bürger garantiert und bewahrt werden.

Zitate aus: Isaiah Berlin: Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis, Frankfurt am Main 2009 (suhrkamp)

Weitere Literatur: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006 (fischer) -- Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Frankfurt am Main 2004 (fischer) – Ernst Diehl: Anthologia Lyrica Graeca. 2 Bände., Leipzig 2. Ausgabe 1934–1942 (Teubner)

Siehe zuletzt auch: Amartya Sen in "Die Idee der Gerechtigkeit": "Es gibt tatsächlich Denkschulen, die ausdrücklich oder implizit drauf bestehen, dass alle verschiedenen Werte am Ende auf eine einzige Bedeutungsquelle reduziert werden müssen. Dieses Bestreben speist sich bis zu einem gewissen Grad aus panischer Angst vor `Unvereinbarkeit´ - das heißt irreduzibler Verschiedenartigkeit mehrer Objekte von Wert" (422).

Montag, 12. Dezember 2011

Adamántios Koraís und die Erfindung der Sprache

Ein wichtiges Element einer Nation ist die Sprache. Die Mehrheit der heutigen Nationalsprachen in Europa sind jedoch keinesfalls „aus den uralten Tiefen der Volksseele“ emporgestiegen, sondern waren meist das Ergebnis der Arbeit einiger weniger Intellektueller. Die Entwicklung der griechischen Hochsprache durch Adamántios Koraís ist dafür ein gutes Beispiel.

Adamántios Koraís (1748-1833)
Nach einer kaufmännischen Ausbildung in Holland und Frankreich ließ sich Koraís im Jahre 1788 in Paris nieder. Er wollte sich nun ganz der Literatur widmen und beschäftigte sich mit Themen der Kirche, Schule, Wissenschaft und Politik.

Trotz der Annahme der französischen Staatsbürgerschaft, blieb er seiner griechischen Herkunft treu. Sein Traum war die geistige Wiedergeburt Griechenlands auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache. Schon Ernest Renan hatte in seinem Vortrag „Was ist eine Nation?“ (1882) festgestellt, dass eine Sprache dazu einlädt, sich zu vereinigen (27). 

Koraís ahnte, dass das geschichtliche Bewusstsein der Griechen, ihr hellenistischer Ursprung nur geweckt werden könne, wenn es gelingt, aus der der gesprochenen Volkssprache (gr. δημοτική - Dimotiki) auch eine nationale Schriftsprache abzuleiten. Um dies zu erreichen, fügte Koraís einfach Elemente des klassischen Altgriechisch zur Dimotiki hinzu und entwickelt daraus die „reine“ griechische Hochsprache (gr. καθαρεύουσα  - Katharevousa).

Gleiches lässt sich auch anderen Ländern Europas beobachten. So waren Barbu Paris Mumuleanu (1794-1836) für das Rumänsiche, Ivar Aasen (1813-1896) für das Norwegische, Vuk Stefanovic Karadzic (1787-1864) für das Serbische oder auch Anton Bernolák (1762-1813) für das Slowakische maßgebend bei der Ausbildung der jeweiligen Hochsprache. Die Liste ließe sich verlängern.

Die Mehrheit der Nationalsprachen, die heute so dauerhaft und festverwurzelt in den Kulturen der europäischen Völker erscheinen, entstanden also erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Sie wurden „aus den vagen Regionen der volkstümlichen Umgangssprachen geschöpft und in die strenge Form grammatikalisch standardisierter Schriftsprache gegossen, ja teilweise überhaupt erst erfunden. Und was die Philologen nicht schufen, das stifteten die Dichter …“ (176)

Sicherlich ist jede Sprache ein unersetzbarer Bestandteil des kulturellen Reichtums der Menschheit. Gleichwohl hat eine zu starke Betonung einer Sprache und ihre ausschließliche Berücksichtigung auch ihre Gefahren - wie man gut an dem Streit um die Durchsetzung der Regionalsprachen in Spanien beobachten kann. Hier betreiben die Regionalregierungen mit fragwürdigen Mitteln eine ausschließende Sprachpolitik, die mit formalen rechtsstaatlichen Gleichheitsgrundsätzen nicht mehr viel zu tun hat.

Dazu noch einmal Ernest Renan: „Wenn man zuviel Wert auf die Sprache legt, schließt man sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein. Man begrenzt sich, ... man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts schlimmer für die Zivilisation“ (29).

Zitate aus: Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004 (C.H. Beck) --- Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt) 

Sonntag, 4. Dezember 2011

Phidias und die Harmonie

Der Parthenon ist eines der berühmtesten noch existierenden Baudenkmäler des antiken Griechenlands und eines der bekanntesten Gebäude weltweit. Der Tempel für die Stadtgöttin Pallas Arthene beherrscht als zentraler Bau seit fast 2.500 Jahren die Athener Akropolis.

Die Bauzeit des Parthenon betrug nur 9 Jahre, war also für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kurz. Die Arbeiten begannen auf Initiative des  Perikles im Jahre 447 v. Chr. und endeten 438 v. Chr., die Baudekoration aber wurde erst 433 v. Chr. fertig gestellt.

Plutarch vermittelt uns ein eindrucksvolles Bild von der Bandbreite der Fachkräfte, die benötigt wurden, um den Tempel in so kurzer Zeit zu errichten: Zimmermänner, Schmiede, Steinmetze, Vergolder, Weichmacher des Elfenbeins, Maler, Stucker, Dreher, Gehilfen, Vorarbeiter, Kauf- und Seeleute und Steuermänner, Fuhrleute und Pferdezüchter, Seil- und Tuchmacher, Lederarbeiter, Straßenbauer und Minenarbeiter (Plutarch, Perikles, 12f).

Die besten Künstler der Zeit waren in den Bau des Parthenon involviert. Die Bauaufsicht führte Phidias, der wohl berühmteste Bildhauer der Antike. Er überwachte die bildhauerischen Arbeiten und führte sie zum Teil selbst aus. Die Architekten des Tempels waren Iktinos, der auch den Apollontempel von Bassae errichtete, und Kallikrates, der später den Tempel der Nike auf der Akropolis erbaute.

Für die Maßstäbe der Athener war der Parthenon ein riesiges Gebäude, für uns heute ist er vielleicht nur ein mittelgroßes.

Was ihn aber einmalig macht, ist die Qualität seiner Konstruktion und nicht seine Dimension. Dabei sind es noch nicht einmal die Statuen, die den Parthenon ursprünglich schmückten, die seine Einzigartigkeit ausmachen.

Restaurationsarbeiten am Parthenon

Man begreift seine Qualität, wenn man die Fugen betrachtet, die sich zu vielen tausend Quadratmetern perfekt zusammengefügten Marmors addieren.

An den Stellen, an denen der Marmor abgesplittert ist, kann man heutzutage etwas tiefer unter der Oberfläche die Fugen entdecken, die noch immer perfekt sind. Früher waren sie für das Auge unsichtbar.

Die Ἁρμονία, also die Harmonie, wie man sie nannte, bedeutete die gute Fügung des Marmors. Das war die erste Bedeutung des Wortes. Erst später bekam das Wort Harmonie eine Bedeutung auch für die Musik. Hier bezeichnet Harmonie auch die gute Fügung - nun von Musiktönen.

Heute sind die Fugen sichtbar und das ist hauptsächlich auf die Korrosion der Oberfläche zurückzuführen.

Die Verkehrsbelastung in Athen hat zwar in den letzten Jahren abgenommen, auch der früher tägliche Smog im Sommer ist seltener geworden. Trotzdem ist die Konservierung des Parthenon längst nicht abgeschlossen, sondern wird wohl noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Quelle: Schauplätze der Weltkulturen - Athen, Ursprung der Demokratie, Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks, München o.J. (Komplett Media)
Weitere Literatur: Plutarch: Große Griechen und Römer. Ausgewählte Lebensbilder, hg. und übersetzt von Dagobert von Mikusch, Köln 2009 (Anaconda)