Donnerstag, 27. November 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 5: Totale Herrschaft - Die Geheimpolizei

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Geheimes Staatspolizeihauptamt
(Prinz-Albrecht-Straße 8, Berlin)
Arendt sieht ein wesentliches Merkmal der totalitären Bewegungen nach ihrer Machtergreifung darin, die wesentliche Differenzen zwischen Staat und Bewegung aufrechtzuerhalten, so dass sie das schwierige Problem lösen, „sich des Staatsapparats zu bemächtigen, ohne mit ihm zu verschmelzen“ (868), mit einer Ausnahme – der Geheimpolizei! Sie ist einzige Institution, in der Staatsmacht und Parteiapparat zusammenfallen und gerade deshalb das eigentliche Machtzentrum im totalitären Herrschaftsapparat.

Die wesentliche Funktion der Gemeinpolizei nach der Machtergreifung ist Arndt zufolge die „unmittelbare Verwirklichung der totalitären Fiktion“ (872). Der Terror hört nun auf, ein bloßes Mittel für die Beseitigung des Widerstands in und die Bewachung der Bevölkerung zu sein, weil bereits alle Opposition liquidiert und die Bevölkerung so organisiert ist, dass sie sich ohnehin nicht mehr rühren kann.

„Erst in diesem Stadium beginnt die wirklich totale Herrschaft, deren eigentliches Wesen der Terror ist. Der Inhalt dieses spezifisch totalitären Terrors ist niemals einfach negativ – etwa die Niederschlagung der Feinde des Regime -, sondern dient positiv der Verwirklichung der jeweiligen totalitären Fiktion“ (874) – der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft im Stalinismus oder der Volksgemeinschaft oder der Rassegesellschaft im Nationalsozialismus.

Göring ernennt Himmler (links)
zum Leiter der Gestapo (April 1934)
Dementsprechend ignoriert die totalitäre Polizei auch alle Unterscheidungen zwischen Feind und Freund und versucht auch gar nicht, den geheimen Gedanken der Beherrschten nachzuspüren. Vielmehr gehört es zu dem Wesen totalitärer Bewegungen, „ihre Feinde in Übereinstimmung mit ihrer bereits vor der Machtergreifung voll entwickelten Ideologie zu definieren, und da diese Definitionen nichts mit ... den Betroffenen zu tun haben, braucht die Polizei auch keine besonderen Erkenntnisse, um 'verdächtige Personen' festzustellen. Die ideologisch definierten Gegner werden aus den natürlichen oder historischen Ablaufgesetzen, deren Exekutor der totalitäre Machthaber zu sein vorgibt, 'objektiv' errechnet. Rassisch Minderwertige sind 'objektive Feinde' der Rassegesellschaft, genauso wie die 'sterbenden Klassen' und ihre Vertreter (die subjektiv sich einbilden mögen, sehr gute Kommunisten zu sein) objektive Feinde der klassenlosen Gesellschaft und objektive Helfer der Bourgeoisie sind" (876f).

Es ist im totalen Staat also bereits von vornherein entschieden, wer der zu Verhaftende und Liquidierende ist. Sein wirkliches Denken oder Planen interessiert keinen Menschen, denn sein Verbrechen ist bereits „objektiv, ohne alle Zuhilfenahme `subjektiver Faktoren´ festgestellt" (877).

So ist in jedem konkreten Fall das 'Verbrechen' früher als die Aufspürung des Verbrechers. „Ist aber erst einmal objektiv entschieden, welches Verbrechen in einem bestimmten Moment der Geschichte gerade an der Tagesordnung ist, so müssen auch die 'Verbrecher' gefunden werden" (877f).

Propagandaplakat zum
Tag der Deutschen Polizei (1941)
Für das Funktionieren totalitärer Regime ist die Einführung des Begriffs vom 'objektiven Gegner' wesentlich wichtiger als die ideologisch festgelegte Bestimmung, wer der Gegner jeweils ist:

„Der Begriff des 'objektiven Gegners', dessen Identität je nach Lage der Dinge wechselt - so dass, sobald eine Kategorie liquidiert ist, einer neuen der Krieg erklärt werden kann -, entspricht aufs genaueste dem von totalitären Machthabern immer wieder proklamierten Tatbestand, dass ihr Regime nicht eine Regierung im althergebrachten Sinne sei, sondern eine Bewegung, deren Fortschreiten naturgemäß immer wieder auf Widerstände stößt, die aufs neue zu beseitigen sind, sofern man von einem Rechtsdenken der totalitären Herrschaftsform sprechen kann, ist der 'objektive Gegner' sein zentraler Begriff" (879).

Es daher nicht wirklich erstaunlich, dass sich subjektive Einsicht in die objektive Notwendigkeit einer Verhaftung und eines Geständnisses am ehesten bei ehemaligen Angehörigen der Geheimpolizei beobachten lässt: "In den Worten eines ehemaligen NKDW-Agenten: 'Meine Vorgesetzten kennen mich und meine Arbeit: wenn die Partei und die NKDW von mir jetzt verlangen, diese Dinge einzugestehen, müssen sie ihre Gründe haben. Meine Pflicht als Bürger der Sowjetunion ist es jedenfalls, das Geständnis, das sie von mir verlangen, nicht zu verweigern.'" (Anm. 87, 880).

Die Geheimpolizei ist letztlich dem Führer unterstellt: "Wer der nächste 'objektive Gegner' sein wird entscheidet der Führer, nicht die Polizei, mit deren Hilfe er liquidiert werden soll (...) In den Worten Himmlers: 'Jeder vom Führer eingesetzte Führer wird von uns gedeckt; jeder vom Führer abgesetzte Führer wird  von uns, wenn es sein muss, mit Brachialgewalt entfernt, denn es gilt eben nur der Befehl des Führers" (881).

Im Totalitarismus kommt es zu einer völligen Umkehrung der traditionellen Aufgaben der Polizei: "Die totalitäre Polizei hat nicht die Aufgabe, Verbrechen aufzudecken; was für Verbrechen gerade verübt werden und wer die Verbrecher sind, bestimmt der Führer. Sie hat dafür immer zur Stelle zum sein, wenn bestimmte Kategorien der Bevölkerung verhaftet werden sollen, und sie hat für ihr Verschwinden zu sorgen. Die einzige Auszeichnung, deren sie sich rühmen kann - und dies ist eine sehr hohe Auszeichnung -, ist, dass nur sie weiß, was jeweils geplant ist und welche politische  Linie jeweils beschlossen wurde" (882).

So tritt an die Stelle eines heimlich geplanten, aber faktisch nachweisbaren Vergehens das objektiv errechenbare 'mögliche Verbrechen', "dessen Planung sich nicht mehr in den Köpfen von Staatsfeinden abspielt, sonder logisch aus der Analyse jeweiliger historisch-politischer Vorgänge ableitbar ist (...) Konstruiert man den Verlauf der Weltgeschichte am Schema der Protokolle der Weisen von Zion, so ergibt sich 'objektiv' - das heißt hier logisch aus einer Prämisse deduzierbar -, dass die Juden danach streben müssen, die Herrschaft zu ergreifen, ganz unabhängig von den faktisch feststellbaren Wünschen und Plänen konkret existierender Juden" (884f).

Juden warten auf den Abtransport (22.10.1940) (Bild: Topographie des Terrors)

Mit anderen Worten: Das Delikt hängt ganz und gar von den im geschichtlichen Augenblick enthaltenen Möglichkeiten ab. Diesen Möglichkeiten muss auch dann entsprochen werden, wenn die Wirklichkeit ihnen nicht entspricht, daß heißt, wenn zu dem 'möglichen Verbrechen' keine wirklichen Verbrecher sich entschlossen haben (...) Da die Geschichte in der totalitären Fiktion voraussehbar und berechenbar verläuft, muss jeder ihrer Möglichkeiten auch eine Wirklichkeit entsprechen. Diese 'Wirklichkeit' wird nicht anders fabriziert als andere 'Tatsachen' in dieser rein fiktiven Welt" (886).

Die totalitäre Geheimpolizei kann sich auch deshalb nicht mehr mit 'verdächtigen Personen' abgeben, weil vom Standpunkt totalitärer Herrschaft die gesamte Bevölkerung dazugehört. Außerdem muss vom Standpunkt totaler Herrschaft „allein die Tatsache, dass menschliche Wesen denken können, einen Verdacht erregen, den kein noch so vorbildliches Verhalten je zerstreuen kann. Denn die Fähigkeit zu denken ist unauflöslich mit der Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, verknüpft" (892).

So hat Arendt nach keine Tyrannenherrschaft jemals die menschliche Freiheit so wirksam und gründlich negiert „wie die Willkür, die sich aus dem Begriff des 'objektiven Gegners' ergibt" (897).

Die totale Herrschaft hat die Begriffe von Verbrechen und Auszeichnung, von Schuld und Unschuld schlicht einfach abgeschafft und an ihre Stelle den furchtbaren neuen Begriff der 'Unerwünschten' und 'Lebensuntauglichen' gesetzt: „Nur Verbrecher kann man bestrafen, Unerwünschte und Lebensuntaugliche lässt man von der Erdoberfläche verschwinden, als hätte es sie nie gegeben (...) Die einzige Spur, die sie hinterlassen, ist die Erinnerung derer, die sie kannten, liebend zu deren Welt sie gehörten. daher gehört zu den vornehmsten und schwierigsten Aufgaben der totalitären Polizei, auch diese Spur mit den Toten zugleich auszulöschen" (898).

So müsse die Bevölkerung daran gewöhnt werden, dass der Verhaftete aus der Welt der Lebenden nicht nur so verschwindet, als wäre er gestorben. Die von der Polizei verwalteten Gefängnisse und Lager sind somit nicht einfach Stätten der Ungerechtigkeit und des Verbrechens; sie sind organisiert als  Höhlen des Vergessens, in die jeder jederzeit hineinstolpern kann, um in ihnen zu verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. „Weder Leichnam noch Grab geben Kunde davon, dass ein Mord geschah oder dass jemand starb (...) Erst wenn ein Mensch aus der Welt der Lebenden so ausgelöscht ist, als ob er nie gelebt hätte, ist er wirklich ermordet" (900f).

Der Entlassungsschein aus dem Zuchthaus
mit der sofortigen Überstellung des Häftlings ins KZ
Natürlich will Arendt damit nicht behaupten, dass die allgemeinen Tatsachen des Polizeiregimes nicht einem großen Teil der Bevölkerung und vor allem den Parteimitgliedern bekannt wären. „Dass es Konzentrationslager gibt, dass Unschuldige verhaftet werden, dass Menschen spurlos verschwinden, weiß ein jeder. Gleichzeitig aber weiß auch jedermann, dass es nichts Gefährlicheres und nichts Verboteneres gibt, als über diese offenen Geheimnisse zu sprechen oder sich gar nach ihnen zu erkundigen" (902).

Das Privileg des Geheimbundes der Polizei, der Elite und Kaderformationen, ist es aber nun, dieses Geheimnis zu kennen und besprechen zu dürfen. Welches die nächste Kategorie der `Unerwünschten´ und `Lebensuntauglichen´ sein wird, und wichtiger noch, dass es immer solche Kategorien geben wird, ist „das esoterische Wissen, über das allein diese Eingeweihten verfügen“ (902).

So dienen das Ziel der Geheimpolizei, die Erziehung `politischer Soldaten´, die ideologische Schulung der Eliteformationen letztlich alle nur dem einen Zweck – „der furchtbaren und grundsätzlich unbegrenzbaren Erforschung der Reiche des Möglichen und der Verwirklichung einer Welt, in der es Realität und Tatsache im Sinne einer dem Menschen vorgegebenen Faktizität nicht mehr gibt“ (904).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)

Donnerstag, 20. November 2014

Karl Marx und die bürgerliche Prophezeiung

Albert Camus (1913 - 1960)
Das Werk „Der Mensch in der Revolte“ von Albert Camus, erschienen 1951, ist eine Sammlung philosophisch-politischer Essays, in deren Zentrum die Beschreibung der „kollektiven Pest“ in Philosophie, Politik und politischer Theorie steht. Am Ende seiner Überlegungen steht die Erkenntnis Camus´, dass sich mit fanatischen Anhängern einer Ideologie oder eines Glaubens nicht diskutieren lässt, denn die einen streben nach innerweltlicher, die anderen nach außerweltlicher Erlösung.

Im Absoluten gefangen, entgeht beiden Camus zufolge die sich jeweils aktuell bietende, gleichwohl „nur“ relative Veränderungsmöglichkeit, deren Wahrnehmung vor allem eine fortgesetzte „Spannung“ und Aufmerksamkeit erfordert. Ein „gelobtes Land“ absoluter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit gibt es hier allerdings nicht zu entdecken. Besondere Aufmerksamkeit widmet Camus dabei Karl Marx und seiner bürgerlichen Prophezeiung.

Marx, das gibt Camus unumwunden zu, lieferte eine eindrückliche Analyse des primitiven Kapitalismus, des Leidens und des furchtbaren Elends, das er im England des 19. Jahrhunderts hervorrief. Das Problem von Marx aber entsteht in dem Augenblick, in dem er seine gültige kritische Methode mit „dem anfechtbaren utopischen Messianismus vermischte. Das Unglück ist, dass die kritische Methode, die ihrem Wesen nach der Realität angepasst gewesen wäre, sich immer mehr von den Tatsachen entfernte, insofern als sie der Prophezeiung treu bleiben wollte.“

Das Gesamtwerk von Marx und Engels, oder:
Die Unvereinbarkeit von kritischer Methode und utopischem Messianismus
 

Bekannt ist, dass Stalin 1935 die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe abbrach, weil die radikalen Frühschriften von Marx nicht ins enge Korsett des „Marxismus-Leninismus“ passten. Der Diktator ließ David Rjasanow, den Leiter des Projektes, verhaften und am 21. Januar 1938 hinrichten. Andere Mitarbeiter verschwanden in Stalins Gulag.
                                                         
So haben die Marxisten zur Prophezeiung und zur Apokalypse gegriffen, um eine marxistische Revolution ausgerechnet unter den Umständen zu verwirklichen, die Marx als für eine Revolution völlig ungeeignet vorhergesehen hatte. „Man kann von Marx sagen, dass die Mehrzahl seiner Voraussagen sich mit den Tatsachen nicht vereinbaren ließ, zur gleichen Zeit, als seine Prophezeiung Gegenstand eines wachsenden Glaubens war. Der Grund ist einfach: Die Voraussagen waren kurzfristig und konnten kontrolliert werden. Die Prophezeiung ist sehr langfristig und hat für sich, was die Festigkeit aller Religionen begründet: die Unmöglichkeit, Beweise zu erbringe.“ So ist die Prophezeiung immer dann die letzte Hoffnung, wenn alle Voraussagen einstürzen.

Camus macht an dieser Stelle eine entscheidende Beobachtung: „Marxens wissenschaftlicher Messianismus ist jedoch bürgerlichen Ursprungs. Der Fortschritt, die Zukunft der Wissenschaft, der Kultur der Technik und der Produktion sind bürgerliche Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben.“

Anne Robert Jacques Turgot
So habe schon Anne Robert Jacques Turgot, Ökonom der Aufklärung, in seiner Rede über den Fortschritt des menschlichen Geistes davon gesprochen, dass „die Gesamtheit des Menschengeschlechts … durch einen Wechsel von Ruhe und Erregung, von Gutem und Bösen stetig, wenn auch mit langsamem Schritt, zu einer größeren Vollkommenheit [schreitet].“ Und der Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft, Alexis de Tocqueville, ergänzt: „Die stufenweise und fortschreitende Entwicklung der Gleichheit ist die Vergangenheit und zugleich die Zukunft der Menschheitsgeschichte.“

Um zum Marxismus zu gelangen, müsse man lediglich Gleichheit durch Produktionshöhe ersetzen und sich vorstellen, dass auf der letzten Stufe der Produktion sich eine Umwandlung vollziehen und die ausgesöhnte Gesellschaft verwirklicht werden würde. Eigentlich hat Marx wohl wie kein anderer verstanden, „dass eine Religion ohne Transzendenz sich genaugenommen Politik nennt.“

Wenn man nun noch hinzufügt, dass Marx den bürgerlichen Nationalökonomen die ausschließliche Vorstellung von der industriellen Produktion in der Entwicklung der Menschheit verdankt, dass er das Wesentliche seiner Theorie vom Arbeitswert dem Werk des führenden Vertreters der klassischen Nationalökonomie, David Ricardo, entnimmt, wird man wohl zu Recht von einer „bürgerlichen“ Prophezeiung bei Marx sprechen dürfen.

Atomenergie und Elektrizität -
noch nicht im Blick von Marx
Marx hat seine Gedanken in einer Zeit entwickelt, die vom Darwin’schen Evolutionismus, der Dampfmaschine und der Textilindustrie geprägt war. „Hundert Jahre später stieß die Wissenschaft auf die Relativität, die Ungewissheit und den Zufall; die Volkswirtschaft musste die Elektrizität berücksichtigen, die Eisenhütten und die Produktion von Atomenergie.“ Heute müsste man Begriffe wie Globalisierung, Wissensgesellschaft oder auch Digitales Zeitalter ergänzen.

Weil der Marxismus daran scheiterte, sich diese Entdeckungen einzuverleiben, ist Camus zufolge der Anspruch der Marxisten einfach nur lächerlich, „hundert Jahre alte Wahrheiten, ohne Einbuße ihrer Wissenschaftlichkeit, starr aufrechtzuerhalten."
  
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 246ff  -   Zur Marx-Engels-Gesamtausgabe der interessante Artikel in der taz: „Schreiben für den Untergang“ 

Donnerstag, 13. November 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 4: Totale Herrschaft - Der Staatsapparat

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Bei der Untersuchung des totalitären Staatsapparates geht Hannah Arendt von der Prämisse aus, dass die totalitäre Bewegung durch die Machtergreifung weder in ihrer Organisationsstruktur noch in ihrem ideologischen Gehalt verändert wird. Vielmehr besteht die Gefahr für die Bewegung gerade darin, „dass sie einerseits durch die Übernahme des Staatsapparats `erstarren´ und in einer absolutistischen Staatsform untergehen und dass sie andererseits durch die Grenzen des Territoriums, in welchem sie offiziell zur Macht gekommen war, in ihrer Bewegungsfreiheit begrenzt werden konnte“ (816).

Hitler nach der Machtergreifung
Die Paradoxie der totalen Herrschaft ist, dass die Machtergreifung für die totalitäre Bewegung mindestens ebenso viele Gefahren wie Vorteile besitzt. Daher sind totalitäre Bewegungen, sobald sie an die Macht gekommen sind, auf eine „permanente Revolution“ angewiesen: „Der totalitäre Machthaber muss mit allen Mitteln die Bedingungen des Zerfalls, unter denen die Bewegung zur Macht gekommen ist, aufrechterhalten und verhindern, dass das, was er dauernd versprochen hat, wirklich eintritt, nämlich eine Neuordnung aller Lebensverhältnisse und eine neue Normalität und Stabilität, die sich auf der Neuordnung gründet. Jede solche Neuordnung, gleichgültig wie `revolutionär´ sie erst einmal anmuten sollte, würde auf die Dauer ihren Platz in den ungeheuer verschiedenen und kontrastierenden politischen Lebensformen der Völker der Erde finden, sie würde zu einer unter vielen werden, und gerade dies muss um jeden Preis verhindert werden“ (819f).

Um zu verhindern, dass die Massen – in der Sprache der Bewegungen - in den alten Schlendrian zurückfallen, ist die Machtergreifung in einem Lande  daher primär vergleichbar mit der "Etablierung eines offiziellen und international anerkannten Hauptquartiers der Bewegung. (…) Hierfür wird der Staatsapparat benutzt, dessen die Bewegung so lange bedarf, als es noch ein Außen und eine nichttotalitäre Welt gibt; er würde in der Tat `absterben´, wenn das eigentliche Ziel der Welteroberung erreicht und das Außen verschwinden würde“ (821).

Hitler und der britische Premierminister Chamberlain
während der Münchner Konferenz im September 1938
Der Grund für die meisten Fehleinschätzungen des Totalitarismus liegt Arendt zufolge darin begründet, dass der gesunde Menschenverstand meint, es liege in der Natur aller Dinge, auch der politischen Angelegenheiten, "dass extreme Forderungen und Ziele sich objektiver Bedingungen bequemen müssen, und gerade diese objektiven Bedingungen müssen sich geltend machen in dem Besitz der wirklichen Macht“ (822).

Von dieser Fehleinschätzung führt ein direkter Weg zu den diplomatischen Abmachungen mit totalitären Regierungen, etwa dem Münchener Abkommen mit Hitler oder auch den Verträgen der Konferenz von Jalta mit Stalin: „Gegen alle berechtigten Erwartungen war es keineswegs möglich, die totalitären Länder durch Konzessionen und großes internationales Prestige wieder in den normalen Verkehr zurückzubinden, und alle Versuche, ihnen durch Taten zu beweisen, dass ihre ideologisch begründeten Behauptungen, sie seien von einer Welt von Feinden umgeben, nicht zutrafen, blieben vergeblich“ (823). Die diplomatischen "Siege" stellen sich als Pyrrhus-Siege heraus, denn die totalitären Regierungen reagierten auf Kompromisswilligkeit nur mit stetig verstärkter Feindseligkeit.

Viele dachten noch unmittelbar nach der Machtergreifung, dass die nationalsozialistische Revolution und der mit ihr verbundene Terror sein Ende finden würde, sobald neue Institutionen und Gesetze erlassen und die innere Opposition besiegt sein würde. Sie sollten enttäuscht werden: „Was statt dessen eintraf, war, dass der Terror mit Abnahme der Opposition im Lande nicht abnahm, sondern sich verstärkte, so das es aussah, als sei diese Opposition nicht (wie die liberalen Gegner der totalitären Regime immer glaubten) der Anlass der Gewaltherrschaft, sondern im Gegenteil das letzte Hindernis, das seiner vollen, unbarmherzigen Entfaltung im Wege gestanden hätte“ (823f)

Verkündigung der Nürnberger Gesetze (1935)

Betrachtet man die Entwicklung des Terrors in Nazideutschland, dann fällt vor allem auf, dass das Regime zwar damit begann, Deutschland mit einer „Lawine von neuen Gesetzen und Dekreten zu überschütten; aber als diese Entwicklung mit dem Erlass der Nürnberger Gesetze zum Stillstand gekommen war, stellt sich heraus, dass die Nazis selbst keineswegs gedachten, sich um ihre eigene Gesetzgebung zu kümmern, dass es vielmehr `nur ein Weiterschreiten auf dem eingeschlagenen Weg zu immer Neuem´ gab, so dass schließlich `Zweck und Arbeitsumfang der Geheimen Staatspolizei´ wie aller anderen von den Nazis geschaffenen Institutionen parteilicher oder staatlicher Natur in keiner Weise durch die gesetzlichen Bestimmungen erschöpft werden (konnten), die für sie erlassen worden sind´. Praktisch äußerte sich dieser Zustand der Gesetzlosigkeit in Permanenz darin, dass `eine Reihe von Vorschriften nicht mehr verkündet´ wurde“ (825).

Dieses Vorgehen entsprach Hitlers Überzeugung, dass „der totale Staat keinen Unterschied kennen darf zwischen Recht und Moral“, wobei Hitler natürlich unter `Moral´ die nationalsozialistische Weltanschauung verstand.

Arendt bemerkt, dass die Literatur über das Nazi- und das bolschewistische System voll sei von Klagen über ihre angeblich monolithische Staatsstruktur. Gleichwohl entspreche nichts weniger den Realitäten eines totalen Herrschaftsapparates. Vielmehr ließe sich eine "eigentümliche Strukturlosigkeit“ im totalitären Herrschaftsapparat beobachten: „Zu Beginn des Dritten Reiches ließen die Nazis es sich angelegen sein, alle Ämter von irgendeiner Bedeutung so zu verdoppeln, dass die gleiche Funktion einmal von einem Staatsbeamten und zweitens von einem Parteimitglied erfüllt wurde. Das fing schon damit an, dass die alte Einteilung Deutschlands in Provinzen und Bundesstaaten nicht einfach abgeschafft, sondern durch die Einteilung in Gaue überlagert wurde, wobei die Grenzen noch nicht einmal miteinander übereinstimmte“ (828).

Die Organisationsstruktur der NSDAP - 
"Macht beginnt immer dort, wo Öffentlichkeit aufhört."

So lebten die Einwohner des Dritten Reiches nicht nur unter den gleichzeitigen und zumeist miteinander konkurrierenden Instanzen von Partei und Staat, von SA und SS, von SS und Sicherheitsdienst, sondern sie wussten auch niemals im gegebenen Augenblick, welche dieser Instanzen gerade die Fassade und welche die wirkliche Macht repräsentierte. "Nur eine Art sechster Sinn, den allerdings die Bewohner totalitärer Länder äußerst schnell entwickeln, konnte ihm sagen, wessen Befehl er wirklich zu gehorchen hatte“ (833).

Es gilt als bewiesen, dass ein Gebäude eine Struktur haben muss, dagegen eine Bewegung, wenn man ihre Bedeutung so ernst nimmt, wie es die Nazis getan haben, nur eine Richtung haben kann „und dass jegliche gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte Richtung sich bewegende Bewegung nur ein Hindernis ist“ (832). Schon vor der Machtergreifung repräsentieren die totalitären Bewegungen diejenigen Massen, welche nicht mehr bereit sind, in einem staatlichen Gebäude - gleich welcher Natur - zu leben, "Massen, die sich in Bewegung gesetzt haben, um die von den Staaten gesicherten Grenzen gesetzlicher und geographischer Natur zu überfluten“ (832).

Arendt nach bewegt sich die Bewegung rein technisch innerhalb des totalen Herrschaftsapparats dadurch, dass die Führung das eigentliche Machtzentrum dauernd verschiebt und in andere, meist Neugeschäften Organisationen verlegt. So vollzog sich die Verschiebung der Macht von der SA auf die SS im Anschluss an den Röhm-Putsch, und zwar dadurch, dass die SS mit der Erschießung der SA-Truppen betraut wurde.

Das Resultat war, „dass abgesehen von dem im Führer verkörperten Willen es niemals feststehen konnte, wo sich gerade das Machtzentrum des Herrschaftsapparats befand, und dass niemand sicher sein konnte, welche Position er in der wirklichen geheimen Machthierarchie einnahm“ (...) „Die einzige Regel, auf die sich jedermann in einem totalitär beherrschten Land verlassen kann, ist, dass ein Apparat desto weniger Macht hat, je öffentlicher und bekannter er ist (…) Macht beginnt immer dort, wo Öffentlichkeit aufhört“ (840).

Der totalen Herrschaft geht es nicht einfach um die Errichtung eines autoritären Staates, der bereit ist, Freiheit einzuengen oder zu begrenzen, aber sie niemals abzuschaffen. Ihr Ziel ist vielmehr die völlige Abschaffung der Freiheit und die Eliminierung der menschlichen Spontaneität überhaupt. Der totalen Herrschaft geht es auch nicht um Etablierung eines Cliquen- oder Gangsterregime. Das entscheidende Problem für die totale Herrschaft besteht darin, zu erreichen, „dass jedes Mitglied der Bewegung ein hundertprozentiger Bolschewist oder Nazi wird, ohne dadurch irgendwelche Solidaritätsgefühle mit anderen Nazis und Bolschewisten zu mobilisieren“ (847).

Abschaffung der individuellen Freiheit
und menschlichen Spontaneität
Die Mittel der totalen Herrschaft sind dabei ebenso einfach wie wirksam. Sie sichern nicht nur ein absolutes Machtmonopol, sondern eine sonst nirgends vorzufindende absolute Gewissheit, dass alle Befehle irgendwie immer ausgeführt werden: „Durch die Multiplikation der möglichen ausführenden Organe und das Fehlen jeder gesicherten Hierarchie bleibt der Diktator in absoluter Unabhängigkeit von jedem seiner Untergebenen und kann jederzeit die außerordentlich rapiden und überraschenden Wendungen seiner Politik vornehmen, für welche die totalitären Regime so berühmt geworden sind. (…) Die dauernden Säuberungen, das plötzliche Auf und Ab der Berufskarrieren verhindern jedes Sich-einarbeiten, jede Entwicklung zuverlässiger Berufserfahrungen“ (850).

Dieses System totaler Herrschaft führt selbstverständlich zu außerordentlichen Einbußen an Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten. In Nazideutschland waren diese Folgen aber deutlich weniger sichtbar als im Bolschewismus, weil die zwölf Jahre, die das tausendjährige Reich dauerte, nicht genügten, um mit der großen deutschen Arbeits- und Leistungstradition fertig zu werden“ (851).

Niederlagen wie die vor Stalingrad (1943) beschleunigten die Entwicklung des totalen Staates und allmählich begann die totale Herrschaft sich wirklich aller Lebensgebiete zu bemächtigen und alle anderen Erwägungen in den Hintergrund zu schieben. So führte die Gefahr, den Krieg überhaupt zu verlieren, nur dazu, „alle Zweckmäßigkeitsüberlegungen über Bord zu werfen und alles daranzusetzen, durch totale Organisation die Ziele der totalitären Rasseideologie rücksichtslos, und sei es auf noch so kurze Zeit, zu verwirklichen“ (852).

Deutsche Soldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft (Stalingrad 1943)

Betrachtet man die letzten Jahre der Naziherrschaft, aber auch die ersten Jahre der totalitären Diktatur Stalins, die im Jahre 1929 mit einem Fünfjahresplan begann, so wird man den Eindruck nicht los, dass man hier mit der Phase der totalen Herrschaft konfrontiert ist, „die von außen gesehen nur noch einem phantastischen Tollhausstück gleicht, in dem alle Regeln der Logik und Prinzipien der Wirtschaft auf den Kopf gestellt sind“ (854).

Entscheidend für das Verständnis der Nazis, denen offenbar gar nicht so viel daran lag, den Krieg zu gewinnen, sondern vielmehr ihre ideologischen Experimente durchführen wollten, ist, was sie selbst wie die Bolschewisten immer betont haben: „Dass sie das Land, in dem sie zur Macht gekommen sind, nur als eine Art zeitweiliges Hauptquartier für die internationale Bewegung auf dem Wege zur Welteroberung betrachten, dass sie Siege und Niederlagen in Jahrhunderten oder Jahrtausenden berechneten und dass das Interesse dieser auf Tausende von Jahren abzielenden Bewegung in jedem Fall über dem Interesse des Landes oder des Staates stehen müsse, den sie gerade zufällig besetzen“ (854).

Arendt zufolge war es für die `Bewegung´ wichtiger, „zu demonstrieren, wie man eine Rasse durch Ausmerzung anderer `Rassen´ herstellt, als einen Krieg mit begrenzten Zielen zu gewinnen. Das, was dem außenstehenden Beobachter wie ein `Stück aus dem Tollhaus´ vorkommt, ist nichts als die Konsequenz eines absoluten Primats der Bewegung nicht nur über den Staat, sondern auch über die Nation, das Volk und sogar die eigenen Machtpositionen“ (855).

So ist die totale Herrschaftsform also vor allem die Form, in der die totalitäre Bewegung sich des Staats- und Machtapparats bemächtigt, eine Form, die es ihr ermöglichen muss, als Bewegung unberührt von der Machtergreifung weiterzuexistieren, „wobei nur das Geheimnis der öffentlich etablierten `Geheimgesellschaft´ nun gleichsam nachträglich einen Platz findet und sich dort ansiedelt, wo immer das Machtzentrum der Herrschaft sich gerade befindet (…) Der Staatsapparat erscheint nun als Frontorganisation sympathisierender Verwaltungsbeamten, deren innenpolitische Funktion darin besteht, den bloß gleichgeschalteten Gruppen der Bevölkerung Vertrauen einzuflößen, und deren außenpolitische Rolle es ist, das Ausland zu betrügen und an der Nase herumzuführen. Und der Führer als Staatsoberhaupt und Führer der Bewegung vereinigt wiederum in seiner Person den Gipfel rücksichtsloser Radikalität und Vertrauen einflößender Mäßigung“ (857).

Totalitäre Machtpolitik ist also keine Machtpolitik im alten Sinne, auch nicht im Sinne einer noch nie dagewesenen Übertreibung und Radikalisierung des alten Strebens nach Macht nur um der Macht willen. Hinter totalitärer Machtpolitik wie hinter totalitärer Realpolitik liegen neue, in der Geschichte bisher unbekannte Vorstellungen von Realität und Macht überhaupt. „Auf diese Begriffsverschiebung kommt alles an, denn sie, und nicht bloße Brutalität, bestimmt die außerordentliche Schlagkraft wie die ungeheuren Verbrechen der totalen Herrschaft. Es handelt sich bei den totalitären Methoden … um die völlige Nichtbeachtung aller berechenbaren äußeren Konsequenzen, nicht um chauvinistische Gräueltaten, sondern um die Nichtachtung aller nationalen Interessen und die völlige Wurzellosigkeit derer, die sich der Bewegung als solcher verschrieben haben“ (864f).

Für Arendt ist vollkommen deutlich, dass das, „was man zu Unrecht oft als den `Idealismus´ der Bewegung beschrieben hat, nämlich der unerschütterliche Glaube an eine ideologisch-fiktive Welt, die es herzustellen gilt, die politischen Verhältnisse der Gegenwart tiefer und entscheidender erschüttert hat, als Machthunger oder Angriffslust es je hätten tun können“ (865).

"... dass sechzigtausend Mann wirklich eine Einheit sind" (Hitler)  
Für Hitler wiederum lag die eigentliche Größe der Bewegung darin, dass `sechzigtausend Mann äußerlich wirklich eine Einheit geworden waren, dass nicht nur die Ideen dieser Glieder (der Bewegung) uniform sind, sondern auch ihr physiognomischer Ausdruck, … dann weiß man, wie in der Bewegung hunderttausend Menschen ein einziger Typus geworden sind´.

„Nicht die Ruinen der deutschen Städte und nicht die Lahmlegung der Industrie“ überzeugten Hitler „von der bevorstehenden Niederlage; aber als er erfuhr, dass die SS nicht mehr zuverlässig sei, hielt er den Zeitpunkt für gekommen, sich das Leben zu nehmen“ (866).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)


Donnerstag, 6. November 2014

Heinrich von Kleist und das Glück

Heinrich von Kleist (1777-1811)
Heinrich von Kleist (1777-1811) war ein Dichter der deutschen Klassik und der Romantik. Er schrieb zahlreiche Essays und Erzählungen, wurde aber vor allem als Dramatiker berühmt. Zu seinen wichtigsten Werken zählen „Der zerbrochene Krug“ (1808) und „Prinz Friedrich von Homburg“ (1821). Im Mittelpunkt seiner Werke steht der Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft und zwischen der inneren Überzeugung und dem äußeren Handeln.

In seinem „Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen“ (1799) verteidigt Kleist die These, dass das Glück in der Befriedigung über das eigene tugendhafte Leben liegt.

Kleist geht zunächst von der Prämisse aus, dass Glück und materieller Überfluss sich nicht notwendigerweise bedingen: „Wir sehen die Großen dieser Erde im Besitze der Güter dieser Welt. Sie leben in Herrlichkeit und Überfluss, die Schätze der Kunst und der Natur scheine sich um sie und für sie zu versammeln, und darum nennt man sie Günstlinge des Glücks. Aber der Unmut trübt ihre Blicke, der Schmerz bleicht ihre Wangen, der Kummer spricht aus allen ihren Zügen. Dagegen sehen wir einen armen Tagelöhner, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwirbt; Mangel und Armut umgeben ihn, sein ganzes Leben schein ein ewiges Sorgen und Schaffen und Darben. Aber die Zufriedenheit blickt aus seinen Augen, die Freude lächelt auf seinem Antlitz, Frohsinn und Vergessenheit umschweben die ganze Gestalt.“

Prototypus des unglücklichen Reichen ...

So kommt Kleist zum Schluss, dass das, was die Menschen Glück und Unglück nennen, nicht immer so ist, wie es zunächst scheint, „denn bei allen Begünstigungen des äußern Glückes haben wir Tränen in den Augen des erstem, und bei allen Vernachlässigungen desselben, ein Lächeln auf dem Antlitz des andern gesehen.“

Weil also das Glück, das sich auf äußere Dinge gründet, eher unsicher ist, so muss es dort, „wo es auch nur einzig genossen und entbehrt wird“ verankert werden, „im Innern.“ In der Tradition Epikurs stehend behauptet auch Kleist, dass „glücklich zu sein, […] der erste aller unsrer Wünsche [ist], der laut und lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unsers Wesens spricht, der uns durch den ganzen Lauf unsers Lebens begleitet, der schon dunkel in dem ersten kindischen Gedanken unsrer Seele lag und den wir endlich als Greise mit in die Gruft nehmen werden.“

Wo nun aber könnte dieser Wunsch erfüllt werden, wo könnte das das Glück besser sich gründen, als im Inneren, also dort, „wo auch die Werkzeuge seines Genusses, unsre Sinne liegen, wohin die ganze Schöpfung sich bezieht, wo die Welt mit ihren unermesslichen Reizungen im kleinen sich wiederholt?“

Glück ist eine Frage der inneren Verfassung!

Kleist ist überzeugt davon, dass es ein Glück geben muss, das sich von den äußeren Umständen trennen lässt, denn schließlich haben alle Menschen haben ja gleiche Ansprüche darauf, für alle muß es also in gleichem Grade möglich sein. Daher will Kleist „das Glück nicht an äußere Umstände knüpfen, wo es immer nur wandelbar sein würde, wie die Stütze, auf welcher es ruht.“

Vielmehr  will Kleist es „lieber als Belohnung und Ermunterung an die Tugend knüpfen, dann erscheint es in schönerer Gestalt und auf sicherem Boden. Diese Vorstellung scheint Ihnen in einzelnen Fällen und unter gewissen Umständen wahr, mein Freund, sie ist es in allen, und es freut mich in voraus, daß ich Sie davon überzeugen werde.“

Selbst wenn man dabei dem Glücksuchenden einen Eigennutz unterstellt, „so ist es der edelste der sich denken läßt, denn es ist der Eigennutz der Tugend selbst.“

So mache nur die Tugend allein den Menschen glücklich. „Das was die Toren Glück nennen, ist kein Glück, es betäubt ihnen nur die Sehnsucht nach wahrem Glücke, es lehrt sie eigentlich nur ihres Unglücks vergessen. Folgen Sie dem Reichen und Geehrten nur in sein Kämmerlein, wenn er Orden und Band an sein Bette hängt und sich einmal als Mensch erblickt. Folgen Sie ihm nur in die Einsamkeit; das ist der Prüfstein des Glückes. Da werden Sie Tränen über bleiche Wangen rollen sehen, da werden Sie Seufzer sich aus der bewegten Brust empor heben hören. Nein, nein, mein Freund, die Tugend, und einzig allein nur die Tugend ist die Mutter des Glücks, und der Beste ist der Glücklichste.“
 
Glück ist das Gefühl unsrer gegen tausend Anfechtungen und
Verführungen standhaft behaupteten Würde!
Was ist also Glück für Kleist? Auch hier bleibt er ein Anhänger Epikurs: „Ich nenne nämlich Glück nur die vollen und überschwänglichen Genüsse, die – um es mit einem Zuge Ihnen darzustellen – in dem erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens liegen. Diese Genüsse, die Zufriedenheit unsrer selbst, das Bewusstsein guter Handlungen, das Gefühl unsrer durch alle Augenblicke unseres Lebens vielleicht gegen tausend Anfechtungen und Verführungen standhaft behaupteten Würde, sind fähig, unter allen äußern Umständen des Lebens, selbst unter den scheinbar traurigsten, ein sicheres tiefgefühltes und unzerstörbares Glück zu gründen.
   
Zitate aus: Heinrich von Kleist: Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen, Erstdruck in: Sämtliche Werke, hg. v. Theophil Zolling, Stuttgart 1885, online beimProjekt Gutenberg