Donnerstag, 26. März 2015

Das Individuum und das Subsidiaritätsprinzip



Subsidiarität (lat.):
Rückhalt, Beistand, Unterstützung, Hilfe


"... so muss doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige 
sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, 
für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; 
zugleich ist solches überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung.“
(aus der Enzyklika „Quadragesimo anno“; 1931)


Jeder Mensch besitzt Individualität, d.h. jeder hat sein eigenes Aussehen, seinen besonderen Charakter und natürlich auch seine speziellen Erbanlagen. Als Individuum unterscheidet sich der Mensch nun von allen anderen Wesen dadurch, dass er nicht einfach nur da ist, also existiert, sondern dass er sein Leben gestalten, das heißt nach Zielvorstellungen ausrichten kann.

Aber der Mensch ist auch ein gesellschaftliches Wesen. Nicht nur, dass der Mensch von Geburt an auf fremde Hilfe angewiesen ist, vielmehr bietet ihm erst das Leben in Gesellschaft die Möglichkeit, sich geistig zu entwickeln und sich selbst zu verwirklichen. Als vereinzeltes Individuum käme der Mensch niemals zur Entfaltung seiner Anlagen - er hätte noch nicht einmal eine Sprache.

Letztlich liegt das Ziel eines jeden Menschen, sein Glück (griech. εὐδαιμονία, lat. beatitudo) zu erreichen. Dieses Glück, das neben dem Wohl auch Seligkeit, Wohlfahrt, Vervollkommnung, Selbstverwirklichung und Seinsvollendung beinhaltet, beschreibt einen Zustand, bei dem man von jedem Übel frei ist und alle Bedürfnisse dauernd, anhaltend, auf immer befriedigt findet: „Wenn wir das Wort `glückselig´ verwenden, so hat es gar keine andere Bedeutung als eben die einer zusammengefassten Aufhäufung der Güter unter Abtrennung von allem Übel“ (Cicero, Gespräche in Tusculum, 5. Buch, §28).

Quadragesimo anno (1931)
Es war schließlich das päpstliche Lehrschreiben "Quadragesimo anno" (1931), das sich auch dem Thema widmet, auf welchem Weg der Einzelne sein Glück am besten erreichen kann und das in diesem Zusammenhang erstmals den Gedanken des „Subsidiaritätsprinzips“ entfaltete.

Einzelwohl und Gemeinwohl sind hier nun wechselseitig aufeinander bezogen. Das Gemeinwohl wiederum ist dann erfolgversprechend eingerichtet, wenn die Individuen in größtmöglicher Freiheit und Mitverantwortung an den gesellschaftlichen Teilgruppen (z.B. Familie, Betrieb, Partei, Sportclub, Kirche usw.) beteiligt sind, denn es ist die die Selbstinitiative und der aus freiem Antrieb geleistete Einsatz, der dem Einzelnen hilft, seine Persönlichkeit zu entfalten und so Glück zu verschaffen. Neben diesem personalen Aspekt ist das eigenständige Handeln unter Ausnutzung der in jedem Einzelnen steckenden schöpferischen Kräfte auch ökonomisch betrachtet grundsätzlich am wirkungsvollsten.

Was also das Individuum oder kleinere gesellschaftliche Teilgruppen aus eigener Kraft vollbringen können, das darf ihnen nicht entzogen und übergeordneten Stellen zugewiesen werden. Vielmehr müssen sämtlichen Aufgaben dort erledigt werden, wo sie anfallen. Wenn dabei Probleme auftauchen, dann müssen sie zunächst auf jener Ebene aus dem Weg geräumt werden, auf der sie auch entstanden sind. Erst wenn dies nicht zu bewältigen ist, darf durch Hilfe "von oben“ eingegriffen werden. Letztlich geht es darum, das Individuum (oder die gesellschaftliche Teilgruppe) in ihren selbstverantwortlichen Mitwirkungsmöglichkeiten vor Bevormundung zu schützen.

Die Aufgaben müssen dort erledigt werden,
wo sie anfallen.
So dürfen also weder der Einzelne noch die Teilgruppen einfach bürokratisch und von oben nach unten befehlend verwaltet und beherrscht werden. Die Einzelnen und Teilgruppen dürfen ihrerseits aber auch nicht die anstehenden Aufgaben, die sie aufgrund ihrer eigenen Kräfte und Kompetenzen selbst ordentlich lösen können, einfach von unten nach oben abschieben und so der Gesellschaft aufgebürdet.

Der beste Beistand der Gesellschaft für ihre Mitglieder ist somit die Hilfe zur Selbsthilfe. Denn für die Selbstverwirklichung des Einzelnen ist nichts vorteilhafter, als das positive Erlebnis einer selbst vollbrachten Leistung. Die Hilfe zur Selbsthilfe wird dem hilfsbedürftigen Einzelnen vom jeweils am nächsten stehende Glied geleistet, denn seine Unterstützung hat im Regelfall am wenigsten den Zuschnitt der Fremdhilfe und kann daher nicht nur sachkundig, sondern auch ohne Umwege zielgerichtet und sparsam – modern gesprochen ressourcenschonend – geleistet werden. Schließlich kennt jeder die Probleme seines unmittelbaren Aufgabenkreises normalerweise am besten.

Selbstverständlich darf das Subsidiaritätsprinzip nicht zum Selbstzweck missbraucht werden. Wo also sachkundige Einzelne – z.B. ein Arzt oder ein Schulleiter – oder gesellschaftliche Teilgruppen – z.B. ein Rechenzentrum oder eine Bibliothek – tadellose Problemlösungen für das individuelle und gemeinsame Wohl erbringen, darf diese zielgerichtete Gestaltung der Abläufe nicht einem schwatzsüchtigen Selbstverwaltungskörper, der meist noch aus parteiischen Stümpern zusammengesetzt ist, übertragen werden, denn dies führt letztlich nur zu einer gemeinwohlschädigenden Prinzipenreiterei. 


Literatur: Pius XI.: Enzyklika QUADRAGESIMO ANNO (1931)

Donnerstag, 19. März 2015

Freiherr vom Stein und die Nachteile zentralistischer Bürokratie

Stein (1757 - 1831)
Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein war ein preußischer Beamter und Staatsmann und gehörte – mit Wilhelm von Humboldt  – zu  den großen Vertretern der preußischen Reform-Ära.

In seiner im Jahre 1807 verfassten Nassauer Denkschrift hatte von Stein das Reformprogramm für den preußischen Staat entworfen. Dabei spielten nicht nur funktionelle Erwägungen für einen Wiederaufbau Preußens eine Rolle, sondern in erster Linie politisch-pädagogische Ideen. Hauptziel der Reformen war die „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre“ (Nassauer Erklärung, 1807).

Mit dem Edikt zur Bauernbefreiung (1807) wurde die Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit aufgehoben sowie die Freiheit der Berufswahl eingeführt. Mit der Städteordnung (1808) bezweckte Stein, dass die Gestaltung der Verwaltung mit gewachsenen lokalen und non-zentralen Strukturen verbunden wurde. Provinziale und Kommunale Selbstverwaltung war für Stein dabei nicht nur eine Vorbedingung für Effizienz, sondern  sie sollte zugleich der Machtbegrenzung gegenüber der Zentralregierung dienen.

Stein ist der festen Überzeugung, dass die zentralisierte Bürokratie mehrere „wesentliche unzertrennliche Unvollkommenheiten“ besitzt: „Kostbarkeit, Einseitigkeit und Systemsucht, Schwerfälligkeit und Lähmung der Unterbehörden, Vernichtung des Gemeingeistes und der Selbsttätigkeit.“

Gottesdienst für die ersten
preußischen Stadtverordneten
(1808, Nicolaikirche in Berlin)
Stein kritisiert demnach nicht nur die hohen Kosten, die eine vertikal organisierte doppelte und teilweise sogar dreifache Staats- und Verwaltungsstruktur verursacht, ihm geht es wesentlich um Effizienz: So „soll eine aus 10-12 Personen bestehende Regierung die öffentlichen Angelegenheit, so 4- bis 500 000 Seelen betreffen von der Geburt an bis zum Kirchhof, von der Hebamme bis zum Gottesacker, erkennen, verwalten, entscheiden; da es nun durchaus unmöglich ist, dass dieses gründlich geschehe, so entsteht ein Aufgreifen einzelner Gegenstände, in Ansehung der übrigen aber eine gehaltlose Papiertätigkeit.“

Das Problem der Bürokratie ist weiterhin, dass sie gewöhnlich Personen anvertraut ist, die ihre „Grundsätze selten aus dem lebendigen Leben schöpfen“, sondern vielmehr zur „Systemsucht“ neigen oder „zur Empfänglichkeit für die Meinungen einzelner, eines momentan Einfluss habender Personen.“

Weil sich der Gemeingeist aber nur durch unmittelbare Teilnahme am öffentlichen Leben ausbildet – „zunächst aus Liebe zur Genossenschaft, zur Gemeinde, zur Provinz entspringt und sich stufenweise zur Vaterlandsliebe erhebt“ -, würde durch Bürokratie eben dieser Gemeingeist und der Wille zur Selbstständigkeit vernichtet.

All diese Mängel könnten Stein zufolge behoben werden, in jedem Fall aber gemindert werden, durch eine non-zentrale Verwaltungsstruktur, ausgehend von der Gemeinde, dem Kreis oder der (kleinen) Provinz. Auf diese Weise könnte man „in den toten Aktenkram Leben bringen … und Gemeingeist erwecken und verbreiten.“

So werde „das Volk nicht in einem großen, unförmlichen Klumpen zusammengeworfen, sondern die gegliederten Absonderungen, so aus dem Eigentum und den Verschiedenheiten seines Besitzstandes, dem Gewerbe und der Art des Gemeinde-Verbandes entstehen, beachtet werden sollen, wodurch sich eine vollständige Darstellung aller wesentlichen Interessen bildet.“

Eigenverantwortung - Subsidiarität - Dezentralismus
Was ist also das Wesen und zugleich das Ziel der kommunalen Selbstverwaltung? „Ist sie so gebildet, dass sie ein freies Leben, eine lebendige Teilnahme an den Gemeinde-Angelegenheiten erweckt und nährt, so enthält sie die reinste Quelle der Vaterlandsliebe, so knüpft sie an den väterlichen Herd, an die Erinnerungen der Jugend, an die Eindrücke, so die Ereignisse des ganzen Lebens gelassen.“

Wenn die Kommunale Selbstverwaltung selbst aus tüchtigen, angesehenen und selbstgewählten Mitgliedern besteht, dann sichert eine solche Ordnung „die wahre praktische Freiheit, die täglich und stündlich sich in jedem dinglichen und persönlichen Verhältnis des Menschen äußert, und schützt gegen amtliche Willkür und Aufgeblasenheit.“

Zitate aus: Detmar Doering: Kleines Lesebuch über den Föderalismus, Sankt Augustin 2013 (Academia Verlag), S. 69ff (aus einem Memorandum aus dem Jahr 1822, in dem Stein dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm gegenüber die Gründzüge seiner früheren Politik erläutert)  -   Weitere Literatur: Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein: „Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“ (Nassauer Denkschrift), Nassau 1807.




Donnerstag, 12. März 2015

Johannes Althusius und der Föderalismus

Johannes Althusius (1557 - 1638)
Johannes Althusius entstammte zwar einer bäuerlichen Familie, konnte aber Rechtswissenschaft in Basel studieren. Nach seiner Promotion zum Doktor der Rechte in Basel 1586 wurde Althusius als erster Rechtsgelehrter an die von der Föderaltheologie geprägte calvinistisch-reformierte Hohe Schule Herborn berufen. 1604 wurde Althusius zum Rechtssyndikus der Stadt Emden berufen. Er hatte dieses wichtige Amt bis ins hohe Alter inne.

1603 erschien sein Hauptwerk, die "Politica Methodice Digesta", in dem er seine föderalen Gedanken zusammenfasst. Dieses Werk machen ihn zum wichtigsten frühen Denker der föderalistischen Tradition in Deutschland.

Politik ist für Althusius „die Kunst, die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten.“ Gegenstand der Politik ist daher zunächst die Lebensgemeinschaft, in der die Menschen sich einem „ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag untereinander zur wechselseitigen Teilhabe all dessen verpflichten, was zum Zusammenleben notwendig und nützlich ist.“ Es ist also die wechselseitige Gemeinschaft und praktische Teilhabe, die dem individuellen Bedürfnis nach Unabhängigkeit ebenso Rechnung trägt wie der gegenseitigen Hilfe zum Leben aller Mitglieder der Gemeinschaft und daher „das gesellschaftliche Leben begründet und bewahrt.“

So habe auch schon Cicero behauptet, „das Volk sei eine Vereinigung, die sich aufgrund rechtlicher Übereinstimmung und des gemeinschaftlichen Nutzens wegen zusammengeschlossen hat. Auf diese Weise werden die Vorteile und Lasten einer Gemeinschaft jeweils ihrer Natur entsprechend empfangen oder getragen.“

Althusius unterscheidet nun zwei Formen von Gemeinschaft: „In der einfachen privaten Gemeinschaft gehen verschiedene Menschen durch besonderen Vertrag eine Symbiose ein, in die sie das einbringen, was sie besitzen und was zu ihrem Wohl beiträgt.“ Eine solche Gemeinschaft – Althusius denkt hier im Anschluss an Aristoteles an die Familie – kann mit Recht als eine ursprüngliche bezeichnet werden und alle anderen gehen von ihr aus. In der öffentlichen Gemeinschaft verbinden sich mehrere private Gemeinschaften, um eine rechtlich verfasste Ordnung zu begründen.“

Der Ursprung aller Gemeinschaft: Die Familie
Das politische Selbstverständnis von Althusius könnte man also als radikal subsidiär bezeichnen. So wie in der calvinistischen Kirchenverfassung die örtliche Gemeinde der eigentliche Souverän ist, so sieht Althusius jegliche staatliche Souveränität als eine Ableitung von ursprünglich kleinen, auf persönlicher Verbindung beruhenden Gemeinschaften wie beispielsweise der Familie.

Letztlich muss daher jeder legitime Staat föderale Strukturen aufweisen. Die Teilgliederungen wiederum haben die Aufgabe, den Staat zu kontrollieren und in an seinen eigentlichen und ursprünglichen Zweck, die Herrschaft des Rechts, zu binden.

Den Repräsentanten der Teilgliederungen – Althusius nennt sie „Ephoren“ – obliegt es, der Freiheit des obersten Magistrats – also der Regierung – Grenzen zu setzen und ihm im Fall des Unrechts oder der Gefahr für das Gemeinwesen entgegenzutreten, ihn in den Grenzen seines Amtes zu halten und schließlich auf jede erdenklich Art und Weise darauf zu achten, „dass das Gemeinwesen nicht durch private Zu- oder Abneigung, durch Tun bzw. Unterlassen oder Müßiggang des obersten Magistrats Schaden nimmt.

Die Aufgaben der Ephoren besteht aber nicht nur darin, darüber zu urteilen, ob der oberste Magistrat seine Pflicht erfüllt oder nicht, sondern auch darin, „ihm Einhalt zu gebieten und Widerstand zu leisten, wenn er tyrannisch wird und die Souveränitätsrechte missachtet und es unternimmt, das dem Gemeinschaftskörper zustehende Recht zu verletzen oder ihm zu entziehen.“

So gehört zu den vornehmlichen Aufgaben des föderalen Staates der Schutz der Untertanen sowie „die rechtmäßige Verteidigung gegen Ungerechtigkeit und zugefügte Gewalt“ – auch und gerade die Ungerechtigkeit und Gewalt, die durch die staatliche Macht selbst verursacht wird.

Weil also die unterschiedlichen Handlungen der Einzelnen auf den Nutzen des ganzen Gemeinwesens und die Gemeinschaft gerichtet werden sollen, so müssen „Untergeordnete und Höhergestellte durch eine Art Gleichheit des Rechts miteinander verbunden werden.“

Die Rechtsordnung und die Gleichheit
vor dem Gesetz - der Schlüssel zur Freiheit!
Das Recht zielt somit „auf den hinlänglichen Lebensunterhalt, die Autarkie, eigene Ordnung und gute Gesetzlichkeit der universalen Gemeinschaft, lenkt die Handlungen der Einzelnen sowie sämtlicher Glieder und schreibt ihnen angemessene Aufgaben vor.“

Die Macht, dieses gemeinsame Recht – heute würden wir den Begriff „Verfassung“ verwenden – zu begründen und sich ihm zu verpflichten kommt dem Volk bzw. allen vereinten Gliedern zu.

Die Souveränität steht also „nicht den Einzelnen, sondern sämtlichen Gliedern des Reichs zusammen und dem ganzen Gemeinschaftskörper zu: ebenso wie es nicht von einem Einzigen, sondern nur von sämtlichen Gliedern der universalen Gemeinschaft zugleich begründet werden kann, genau so sagt man, dass es nicht Sache Einzelner, sonder vielmehr die sämtlicher Glieder ist.“

Die Ausübung des Rechts ist also nicht die Sache eines Einzelnen. Das Recht ist auch nicht das Eigentum eines Einzelnen, sondern sämtlicher Glieder des Reiches, die einvernehmlich darüber verfügen und beraten können.

Aber: „Was sie einmal festgelegt haben, das müssen sie auch halten und leisten, falls nicht aufgrund gemeinsamen Willensentschlusses etwas anderes bestimmt wird.“

So stellt Althusius fest: „Auch besteht das Gemeinwesen nicht des Königs wegen, sondern der König und jeder andere oberste Magistrat und des Reichs und Gemeinwesens willen. Denn das Volk geht seiner Natur nach sowie in zeitlicher Hinsicht betrachtet seinen Regenten voraus, es ist mächtiger und steht höher als diese.“ Hier lässt sich deutlich der antike Gedanken der Dike erkennen.

Es ist daher durchaus der Majestät des Herrschers würdig, wenn er bekennt, „an die Gesetze gebunden zu sein. So sehr hänge seine Autorität von der des rechts ab, und größer als die Herrschaftsgewalt sei es in der Tat, diese den Gesetzen zu unterstellen.“

Althusius beruft sich hier auf Platon, der sagt: „Ich sehe den Untergang für jeden Staat kommen, in dem nicht das Gesetz über den Herrscher bestimmt, sonder dieser über das Gesetz“ (De legibus, lib. 4).

Zitate aus: Detmar Doering: Kleines Lesebuch über den Föderalismus, Sankt Augustin 2013 (Academia Verlag), S. 31ff   -   Weitere Literatur:  Johannes Althusius: Politica, Berlin 2003 (Duncker und Humblot)

Donnerstag, 5. März 2015

Helmut Schmidt und die Frage der Sinnstiftung durch Politik

Helmut Schmidt (* 1918)
In seinem Buch „Ausser Dienst“ äußert sich der ehemalige Kanzler und große deutsche Sozialdemokrat Helmut Schmidt, in gewohnt deutlicher Weise zu zentralen Fragen unserer Zeit. Im letzten Kapitel seines Buches äußert sich Schmidt auch zu der Frage, ob die Aufgabe der Politik (oder der Politiker) auch darin bestünde, die Menschen glücklich zu machen oder ihnen einen Sinn für ihr Leben zu geben.

Der politische Wettbewerb verleite die Beteiligten oft zu Übertreibungen. Dies betrifft auch das Gebiet der Verkündung moralischer Prinzipien. So habe Helmut Kohl in der Zeit des Regierungswechsels Anfang der 80er Jahre von der Politik eine „geistige und moralische Führung“ verlangt und nach „der großen Vision“ gefragt.

Schmidt dagegen verwahrt sich „gegen den Anspruch, die Regierung habe eine für Volk und Gesellschaft sinnstiftende Instanz zu sein.“ Regierung und Parlament haben vielmehr die Aufgabe, „Freiheit zu sichern, Gerechtigkeit zu sichern, sich um Solidarität zu bemühen und (auch) darum, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erfahrbar zu machen.“

In einer Gesellschaft mit vielfältigen religiösen und philosophischen Grundüberzeugungen könne geistige und moralische Führung nur die Aufgabe von vielen sein, nicht aber der Regierung.“ Somit beruht „das geistige Leben eines Landes … auf `Vielfalt und Toleranz´“.

"Es ist nicht die Aufgabe des Bundeskanzlers,
für den Bürger den Sinn des Lebens zu stiften ..."

Schmidt habe in diesen Debatten eher auf der Seite des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäckers gestanden, „der damals hervorhob, es sei nicht Aufgabe des Bundeskanzlers, für den Bürger den Sinn des Lebens zu stiften. Die geistige und moralische Grundlage unserer Gesellschaft liegt allein in den unveränderlichen Grundrechten des Grundgesetzes, insbesondere im Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die im Artikel 1 verankert ist. Die Regierung darf Orientierung nur hier, nicht aber an anderen Orten und in anderen Gefilden suchen.“

Natürlich ginge von den politischen Parteien und von der politischen Klasse insgesamt auch so etwas wie „Führung“ aus, und natürlich dürfe eine Regierung auch moralische Anstöße geben. Ein gutes Beispiel dafür ist Willy Brandts Verständigungspolitik mit dem kommunistisch beherrschten Osten Europas und sein Kniefall im ehemaligen Warschauer Ghetto, in dem das Bekenntnis zur deutschen Schuld an der Vernichtung der Juden zum Ausdruck kam. Ein anderes gutes Beispiel dafür ist die Rede, die Richard von Weizsäcker als Bundespräsident anlässlich des 40. Jahrestages des Endes der nationalsozialistischen Diktatur vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 hielt, denn sie verhalf vielen Deutschen endlich zu der Erkenntnis, daß der 8. Mai 1945 weniger eine Niederlage als vielmehr eine Befreiung der Deutschen gewesen ist.

Ikonische Demutsgeste: Der Kniefall von Warschau (7. Dezember 1970) 

In diesen beiden Fällen, so Schmidt, „gründete politisches Handeln im Bewußtsein von der Würde des Menschen. Brandt wie Weizsäcker haben in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz gehandelt, sie haben sich nicht auf christliche oder andere Werte berufen müssen, um aus der deutschen Geschichte Konsequenzen zu ziehen. Daß es beide Male nicht nur Zustimmung, sondern auch heftige Ablehnung gab, gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer offenen Gesellschaft, in der wir es mit einer Vielfalt von Wertvorstellungen zu tun haben.“

Der Politiker stehe nicht einfach vor der abstrakten Notwendigkeit, seine Pflicht zu erfüllen. Er ist im Alltag immer wieder mit konkreten Streitfragen konfrontiert, mit widerstreitenden Interessen und komplexen, schwer zu durchschauenden Problemen. „Immer aufs neue geht es um die Antwort auf die gleichen Fragen: Was ist hier notwendig? Was ist gerecht? Was dient meinem Land? Was ist zweckmäßig? Was ist in dieser konkreten Lage meine Pflicht?“

In diesem Zusammenhang ist für Schmidt das eigene Gewissen grundlegend: “Jeder Politiker muß mit dem, was er tut und was er sagt, vor seinem Gewissen bestehen können. Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz.“ Auch das Grundgesetz lässt erstaunlich offen, was die Moral von uns verlange. Es spricht zwar in Artikel 2 vom `Sittengesetz´, gegen das keiner verstoßen darf; aber dessen Inhalt wird nicht einmal angedeutet. Eine gemeinsame moralische Grundlage aber ist ein unverzichtbares Element jeder Gesellschaft. Das Problem ist, dass Moral und Tugenden dem Menschen nicht angeboren sind, sondern er beides allein durch Erziehung lernt – durch Beispiel, Lob und Tadel. „Das `Sittengesetz´ scheint demnach nichts anderes zu sein als das im Laufe von Jahrtausenden erzielte Ergebnis dieser Erziehung zur Kultur.“

Grundrechte und Tugenden bilden zusammen die Grundwerte,
auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht.

Die Grundwerte, die für Schmidt wichtig sind, sind im im Godesberger Grundsatzprogramm der SPD von 1959 festgelegt. Dort wurden allein `Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität´ als Grundwerte bezeichnet. „Dabei ist Freiheit vornehmlich ein Grundrecht, Gerechtigkeit und Solidarität dagegen sind keine Rechte, sondern vornehmlich Tugenden. Allerdings haben wir in Godesberg weder einen vollständigen Katalog der Grundwerte oder der Tugenden postuliert, noch konnten und wollten wir `letzte Wahrheiten´ verkünden. Wohl aber haben wir ein bedeutendes und weithin sichtbares Zeichen gesetzt.“

Wichtig ist in diesem Fall das Bekenntnis Schmidts, daß jedermann Verantwortung trägt und daß jedermann moralische Pflichten hat. „Es ist deshalb notwendig, zu den Tugenden zu erziehen und an die Pflichten zu erinnern. Diese Notwendigkeit gilt gegenüber jedem politisch engagierten Staatsbürger, sie gilt besonders für den Politiker. Jeder, der Verantwortung für andere hat oder anstrebt, ist nicht nur für seine Ziele und Absichten verantwortlich, sondern ebenso für die Folgen seines Handelns und seines Unterlassens. Je mehr ein Mensch Macht hat über andere, je mehr Einfluß er auf andere und deren Leben ausübt – als Vater oder Mutter, als Vorgesetzter, als Lehrer oder Journalist, als Unternehmer, Manager oder Politiker–, desto schwerer lastet auf ihm die Verantwortung für das Gemeinwohl, um so schwerer wiegen seine Pflichten.“

Weil die Diktaturen, die es im 20. Jahrhundert auf deutschen Boden gab, das Pflichtbewußtsein auf gröbste Weise missbraucht haben, wollen bis heute viele Menschen nur etwas von ihren Rechten wissen. Pflichten dagegen wollten sie nur insoweit befolgen, wenn sie auf staatlicher Macht beruhen und mit der Macht der Gesetze durchgesetzt werden. „Tatsächlich sind unsere Rechte auf Dauer jedoch nicht gesichert, wenn nicht unser Pflichtbewußtsein hinzutritt. Keine Gesellschaft freier Bürger kann auf Dauer ohne die Tugenden der Bürger bestehen. Die Nation braucht nicht nur die Grundrechte, sondern ebenso die Tugenden. Beide zusammen bilden die Grundwerte, auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht.“ Wer also dazu beiträgt, die Tugenden im öffentlichen Bewußtsein zu halten und dort fest zu verankern, der leiste dem allgemeinen Wohl, der salus publica, einen notwendigen Dienst.

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Im Anschluss an seine philosophischen und politischen Lehrmeister – dazu zählen Karl Popper, Max Weber, Immanuel Kant, Marc Aurel, aber auch Konfuzius – warnt Schmidt davor, einen Katalog der im demokratisch verfaßten Staat obligaten Tugenden aufzuschreiben.

Die beiden ehrwürdigen Tugendkataloge der christlichen Überlieferung beispielsweise verzeichnen weder den Willen zur Freiheit noch den Willen zum Frieden, nicht einmal den Willen zur Wahrhaftigkeit. „Ich halte es für einen gefährlichen Irrtum, die Gesinnungen der Freiheit, des Friedens und auch der Wahrhaftigkeit, die weder zu den theologischen noch zu den Kardinaltugenden gehören, deshalb abzuwerten. Ein Gleiches gilt für die Mißachtung der sogenannten Sekundärtugenden.“

Worauf es Schmidt ankommt, sind „Tugenden, die ich die `bürgerlichen´ Tugenden nenne: die Tugend des Verantwortungsbewußtseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit.“ Auch wenn Schmidt niemals besonders religiös war, ein Gebet des Amerikaners Reinhold Niebuhr hat ihm immer aus dem Herzen gesprochen: `Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann; gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.´“

Zitate aus: Helmut Schmidt: Außer Dienst: Eine Bilanz, München 2008 (Siedler)