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Donnerstag, 11. August 2022

Hannah Arendt und die Freundschaft

Neben vielen Ehrungen und Preisen wurde Hannah Arendt im Jahre 1959 mit dem Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet. In ihrer Rede mit dem Titel „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, die sie am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Preises hielt, vertrat Arendt die Ansicht, Kritik sei stets das Begreifen und Beurteilen im Interesse der Welt, woraus gleichwohl niemals eine Weltanschauung werden könne, „die sich auf eine mögliche Perspektive festgelegt hat“. 

Hannah Arendt

Statt „Geschichtsbesessenheit“ und „Ideologieverschworenheit“ sieht Arendt das Ziel und die Aufgabe der Menschen darin, das freie Denken, mit Intelligenz, Tiefsinn und Mut, „ohne das Gebäude der Tradition“, zu wagen. Eine absolute Wahrheit existiere nicht, da sie sich im Austausch mit anderen sofort in eine „Meinung unter Meinungen“ verwandle und Teil des unendlichen Gesprächs der Menschen sei, in einem Raum, wo es viele Stimmen gibt. Jede einseitige Wahrheit, die auf nur einer Meinung beruht, sei „unmenschlich“.

Im letzten Teil ihrer Rede konkretisiert Arendt ihre Vorstellung von Menschlichkeit am Beispiel der Freundschaft. Schon in der Antike galt die Auffassung, „dass ein menschliches Leben nichts weniger entbehren könne als Freunde, ha dass ein Leben ohne Freunde nicht eigentlich lebenswert sei.“ Man dürfe allerdings nicht den Fehler machen, „in der Freundschaft ausschließlich ein Phänomen der Intimität zu sehen, in der die Freund unbehelligt von der Welt und ihren Ansprüchen einander die Seelen öffnen.“

Hannah Arendt erinnert daher im Rückgriff auf Aristoteles an die politische Relevanz der Freundschaft, demzufolge „die philia, die Freundschaft zwischen den Bürgern, eines der Grunderfordernisse des gesunden Gemeinwesens sei.“

So mag es auch nicht verwundern, dass für die Griechen, „das eigentliche Wesen der Freundschaft im Gespräch“ lag, und „das dauernde Miteinander-Sprechen“ erst die Bürger zu einer Polis vereinige.“

„Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch (im Unterschied zu den Gesprächen der Intimität, in welchen individuelle Seelen über sich selbst sprechen), so sehr es von der Freude an der Anwesenheit des Freundes durchdrungen sein mag, der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen Sinne unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird. 

Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gespräches geworden ist.“

Die Welt wird nur menschlich, wenn sie Gegenstand des Gespräches geworden ist.

Darin liegt Arendt zufolge die Macht des Gespräches: „Was nicht Gegenstand des Gespräches werden kann, mag erhaben oder furchtbar oder unheimlich sein, es mag auch eine Menschenstimme finden, durch die es in die Welt hineintönt; menschlich gerade ist es nicht. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir, was in der Welt ist, wie das, was in unserem eigenen Inneren vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.“

Diese Form der Menschlichkeit bezeichneten die Griechen mit dem Begriff philanthropia, „eine `Liebe zu den Menschen´, die sich darin erweist, dass man bereit ist, die Welt mit ihnen zu teilen. In der römischen humanitas habe die griechische Philanthropie zwar manche Änderung erfahren – u.a., dass Menschen verschiedener Herkunft und Abstammung das römische Bürgerrecht erhalten und so in das Gespräch zwischen Römern über die Welt und das Leben aufgenommen wurden -, aber der politische Hintergrund der griechischen Philanthropie blieb auch der römischen humanitas erhalten.

Zitate aus: Hannah Arendt: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1999 (EVA)

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Harmodios, Aristogeiton und die Demokratie


Allen Diktatoren, Tyrannen und autoritären Regierungen gewidmet 
- denen vergangener Zeiten und denen von heute!


Selbst demokratische und republikanische Gemeinschaften, deren politisches System auf der Freiheit des Einzelnen bzw. auf der Beteiligung vieler an der Politik fußt, benötigen zuweilen mythologisierte Gründungsakte, die erinnert und rituell erneuert werden, um einen Grundkonsens ihrer Mitglieder und die kollektive Identifikation mit dem politischen System zu gewährleisten.

Häufig bestehen solche Gründungsakte in der Tat einzelner Freiheitshelden, also Menschen, die als Befreier von einer nicht-freiheitlichen Ordnung verehrt werden. Im antiken Athen des 5. Jhs. v. Chr. hat man den Gründungsakt der Demokratie in der Befreiungstat zweier Bürger der Stadt gesehen, der Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton.

Bei der Festprozession der Panathenäischen Spiele des Jahres 514 v. Chr. verübten Harmodios und Aristogeiton ein Attentat auf den Tyrannen Hipparchos und kamen dabei selbst ums Leben. Harmodios, der jüngere der beiden Attentäter, wurde sofort getötet, Aristogeiton verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Der Bruder des ermordeten Herrschers, Hippias, setzte die Tyrannis fort und wurde von Mitgliedern der aristokratischen Familie der Alkmaioniden mit spartanischer Hilfe erst 510 v. Chr. vertrieben. Dies bildete den Auftakt der politischen Reformen des Kleisthenes im Jahr 508/7 v. Chr. und führte in den folgenden Jahren zu einer Demokratie, die sich nach Athens Erfolgen in den Perserkriegen zwischen 490/80 und 460 v. Chr. stabilisierte.

Schon aus dem ausgehenden 6. Jh. v. Chr. sind Skolia überliefert - also anlässlich eines Symposions vorgetragene Lieder als Beitrag zur geistigen Erbauung der Teilnehmer -, die die das Attentat als Befreiung Athens und Gründungsakt der sogenannten Isonomie (‚Gleiches Gesetz für alle Bürger‘) rühmten.

In der ersten historischen Darstellung des Geschehens bei Herodot (gegen 440–430 v. Chr.) werden die Alkmaioniden als die eigentlichen Befreier Athens gefeiert. Harmodios und Aristogeiton hätten durch den Mord des Hipparchos lediglich die Familie der Tyrannen in Zorn versetzt und der Gewaltherrschaft keineswegs ein Ende bereitet. Thukydides dagegen liefert eine pikantere Version des Attentats. Hippias sei der tyrannische Herrscher gewesen, während der ermordete Hipparchos sein jüngerer Bruder war. Dieser sei in Liebe zu dem jungen Harmodios entbrannt gewesen, der wiederum der Geliebte des Aristogeiton war. Als Harmodios seine Liebe nicht erwiderte, habe Hipparchos seine Wut über die Zurückweisung an dessen Schwester ausgelassen. So habe Harmodios aus Rache und Aristogeiton aus Eifersucht das Attentat auf Hipparchos verübt, während sie sich an Hippias nicht herangewagt hätten. Dieser habe dann noch drei Jahre eine Schreckensherrschaft über Athen ausgeübt, bis er auf Veranlassung der Spartaner von den verbannten Alkaioniden vertrieben worden sei.

Gleichwohl hat sich schließlich die Erinnerung an die Tat als außerordentlichen Befreiungsakt relativ bald durchgesetzt und die beiden Tyrannentöter wurden als demokratische Gründungsheroen anerkannt.

Es war Platon, der im früheren 4. Jh. v. Chr. die homoerotische Beziehung der Attentäter und ihren Einsatz für die Demokratie miteinander verknüpfte. Im Symposion steht das Paar für die idealistische Kraft homoerotischer Liebe. Auch im pseudoplatonischen Hipparchos konkurrieren die homoerotische und demokratische Motivation der Tötung nicht. 

Im späten 5. Jh. lobten indes athenische Redner wie Andokides in seinem Werk "Über die Mysterien" die beiden Attentäter als beispielhafte Tyrannentöter, und zwar in einer Zeit, wo man die Tyrannis als größte Gefahr für die Demokratie ansah. Im Jahr 343 v. Chr. waren die Frontstellungen in Athen schließlich so geklärt und Personenkulte selbst in der Demokratie so fortgeschritten, dass Demosthenes in seinen Reden vor der Volksversammlung Harmodios ungehindert zur Gruppe derer zählen konnte, die von den Athenern für ihre Wohltaten Statuen, Trankopfer und Hymnen erhielten und von ihnen wie Götter und Heroen verehrt wurden.

Der Diskurs um die Befreier erhielt auch in Athen eine geradezu sakral-religiöse Komponente. In der Nähe der späteren Staatsgrabmäler der Gefallenen lag das vermeintliche Grab des Harmodios und Aristogeiton. Dort wurden Opfer für die Attentäter dargebracht und zwar gleichzeitig mit Opfern für die Bürgersoldaten, die ihr Leben für die Polis gelassen hatten. Die Erinnerung an die im Krieg für Athen gefallenen Bürger wurden also bewusst mit den Befreiungshelden verbunden.

Bereits kurz nach der Vertreibung des letzten Tyrannen im Jahre 509 v. Chr. rrichteten die Athener auf der Agora, dem zentralen Platz ihrer Polis, Bronzestatuen des Harmodios und Aristogeiton. Die außerordentliche Symbolik dieser Skultpren des Bildhauers Antenor zeigt sich darin, dass damit erstmals überhaupt Bildnissen von Sterblichen Platz im politischen Raum einer griechischen Polis gegeben wurde. Bedauerlicherweise raubten die Perser die Statuen bei der Brandschatzung Athens im Jahre 480/79 v. Chr., aber bereits 477/6 v. Chr. wurden neue Bronzestatuen der Attentäter am selben Ort, nicht weit von der Stätte des Attentats, errichtet, noch bevor Athen wiederaufgebaut war. Ein Denkmal für die Befreier von der Tyrannis war offensichtlich mittlerweile unverzichtbar geworden.

Die beiden Statuen, von denen Kopien aus späterer Zeit erhalten sind, stammten aus der Werkstatt des Kritios und Nesiotes. 


Harmodios und Aristogeiton
(Römische Marmorkopie, Archäologisches Museum Neapel)



Leicht überlebensgroß stehen Harmodios, der Unbärtige, und Aristogeiton, der Bärtige, beide nackt und im Ausfallschritt vor ihren Betrachtern. Der Jüngere hat das Schwert zum Schlag erhoben. Der Ältere gewährt ihm Deckung und hat die Waffe zum Stoß gezückt. Unterhalb der Statuen las man auf der Steinbasis eines der Preislieder auf die Attentäter, die sie als Licht ihrer Heimat priesen.

Die Gestaltung des Denkmals enthält klare Bezüge, die von den damaligen Betrachtern sofort erkannt wurden: Die an Athletenbilder erinnernde Nacktheit und die dadurch sichtbaren trainierten Körper schrieben den beiden Attentätern die aristokratische kalokagathia - „das Schöne und Gute“ - zu, eine Idee, die physische Qualität mit ethischer Gesinnung verband. Der explizit gemachte Altersunterschied verwies auf ihre homoerotische Beziehung, eröffnete aber auch die Identifikation für alle Altersgruppen der männlichen Bürger; der Jüngere fungiert dabei als Modell des mutig Zuschlagenden, der Ältere als das des besonnen Agierenden.

Mit dem Denkmal wurde die Gemeinschaft und Verbundenheit von zwei Bürgern geehrt, nicht die Leistung eines einzigen. Der Tyrann bleibt unsichtbar. Vielmehr stand der Betrachter an seiner Stelle in der Rolle des angegriffenen Opfers, so dass das Monument jeden Betrachter davor warnte, nach einer Tyrannis zu streben.

Die Statuen hoben die Helden also in zeitloser Form heraus, distanzierten sie ikonographisch vom alltäglichen Bürgerhabitus und ordneten sie – obwohl sie für die Demokratie standen – aristokratischen Idealen zu. Vor allem aber gaben sie ihrem Handeln ein dauerhaftes und mahnendes Beispiel. 

Die Erinnerung an die Tyrannentöter im öffentlichen Raum Athens wurde vom frühen 5. Jh. v. Chr. ergänzt durch die Erinnerung beim semiprivaten Symposion, die die Skolia sprachlich bereits für das späteste 6. Jh. v. Chr. bezeugt hatten. „Den Harmodios singen“ konnte im späten 5. Jh. zum Synonym für ein Gelage werden, so Aristophanes in seinem Werk Acharner. 

Aufgrund seines aristokratischen Charakters versicherte sich beim Gastmahl eine elitäre Gruppe von Bürgern ihrer Überlegenheit und reklamierte die Tyrannenmörder auch für sich. Auf einem Vorratsgefäß für Wein – einem Stamnos – , den man bei einem solchen Gelage benutzte, um Wein und Wasser zu mischen, wurde tatsächlich das Attentat dargestellt: Der bärtige Aristogeiton ersticht Hipparchos, Harmodios holt zum Schlag aus. Alle drei sind durch ihre Mäntel als Bürger gekennzeichnet; der Tyrann ist nur andeutungsweise luxuriöser gekleidet. Im Kontext des Symposions wird der tyrannische Charakter des Opfers so eher heruntergespielt, die Leistung des älteren, also erwachseneren Attentäters wird hervorgehoben. Zudem erinnert man der Tat in einer Form und auf einem Gefäß, wo sonst vielfach die großen Taten mythischer Heroen zur Darstellung kamen.


Harmodios und Aristogeiton ermorden den Tyrannen Hipparchos
(Martin-von-Wagner Museum der Universität Würzburg)



Im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. stellte man die Statuen, wie es an der Basis unter ihren Füßen erkennbar ist, als Schildzeichen der Figur der Stadtgöttin Athena auf Ölamphoren dar, die in Athen die Sieger bei den Panathenäenspielen gefüllt als Preise bekamen – genau im Jahr nach einem anti-demokratischen Umsturzversuch, als man die Demokratie wiederhergestellt hatte. Die Statuen der Tyrannenmörder wurden in dieser Krisensituation zum Zeichen der demokratischen Polis, die die Stadtgöttin selbst im Kampf schirmten. 

Auch die spätere Geschichte der Stauen auf der Athener Agora wirft ein bezeichnendes Licht auf die Heroisierung der Befreier: Einerseits wurde seit dem 4. Jh. v. Chr. ein Areal um das Statuenpaar von anderen Statuen freigehalten – vor allem kamen ihnen keine anderen Bildnisse nahe, die man für Wohltäter der Polis errichtete. Sie erhielten so auch räumlich einen außeralltäglichen, geradezu sakrosankten Charakter. 

Diese Regel wurde nur durchbrochen, wenn man solche Personen ehren wollte, die ebenfalls als Befreier bezeichnet werden konnten, z.B. nach 307 v. Chr.die hellenistischen Könige Antigonos und Demetrios, aber auch nach 44 v. Chr. die Caesarmörder Marcus Brutus und Gaius Cassius. Allein schon die Nähe zu den Heldendenkmälern konnte der Heroisierung anderer als ‚Befreier‘ dienen, der Platz um die Tyrannenmörder war ein heroisch aufgeladener städtischer Raum.

Auch in Rom im Tempel der Fides (Treue) wurden im 1. Jh. v. Chr. auf dem Kapitol Statuen von Homodios und Aristogeiton aufgestellt, also in einer Zeit der Konflikte um Republik und Herrschaft von Einzelnen in Rom, zu denen auch die Ermordung von Caesar gehörte. 

Die Denkmäler der Tyrannenmörder waren also in Rom und vor allem in Athen langfristig ein sichtbares Zeichen  für die Befreiung von einer Alleinherrschaft und in Athen zudem auch ein Symbol der demokratischen Verfassung. Damit besitzen die Ehrenstatuen, die man ihnen in Athen errichtet hatte, bleibende und zeitlose Bedeutung als Ikonen der Stadt und der politischen Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Tyrannei.


Zitate aus: Peter Eich / Ralf von den Hoff / Sitta von Reden: „Freiheitsheld (Antike)“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 11.06.2019. DOI: 10.6094/heroicum/fhhd1.0 - https://www.compendium-heroicum.de/lemma/freiheitsheld-antike/ (zuletzt eingesehen am 11.10.2020)

Donnerstag, 3. August 2017

Homer und die physische Gewalt in der Illias (Teil 2)

Fortsetzung vom 27.07.2017


Mit den beiden großen Heldenepen Homers, der Ilias und der Odyssee, beginnt im 8. Jahrhundert v. Chr. nicht nur die griechische, sondern die gesamte abendländische Literaturgeschichte. Gleichwohl nimmt die Schilderung von Kämpfen und Schlachten rund zwei Drittel des gesamten Werks ein.

Die Todesszenen mit Blut, Eingeweiden, zerschnittenen Muskeln und Sehnen sind im Epos überlagert von grausigen Todes- und Schmerzensschreien. Die Getöteten brüllen angesichts der Verletzungen „wie die Stiere“ (20, 203), liegen „brüllend, in den Staub verkrallt“ (13, 393), der Kampflärm ist untermalt vom Stöhnen der Sterbenden (21, 20), die ihr „Leben ausröcheln“ (5, 585).

Kampfszene

Die Szenerie des Kampfes ist demnach nicht nur visuell in ihrer ungeheuren Bewegungsvielfalt, dem durch die Kämpfer aufgewirbelten Staub, den farbig geschilderten, grausigen Verletzungen und Todesstößen dargestellt, sondern diese Bilder werden abgerundet durch Hinweise auf die Akustik von Schlachtenlärm und Todeskämpfen. Letztere werden zugleich übertönt vom Triumphgeschrei der Sieger.

Die Art der Darstellung kam offenbar beim antiken Publikum ausgesprochen gut an. Hierfür wurden verschiedene Gründe angeführt. Zum einen hat man beobachtet, dass die Troianer in den Kämpfen überwiegend unterlegen sind und die grausigen Detailschilderungen mit zwei Ausnahmen ausschließlich ihr Schicksal in der Niederlage dokumentieren. Daraus hat man geschlossen, dass auch das Publikum proachäisch eingestellt war und deshalb den grausam ausgemalten Tod der Troianer genossen habe.

Es würde freilich mit Blick auf Intentionen und Rezeption des Epos zu kurz greifen, die Darstellung physischer Gewalt auf ästhetischen Qualitäten zu reduzieren. Das zeitgenössische Publikum, das in archaischer Zeit zunächst aus den Adligen der griechischen Polis-Welt bestand, sah in den Kämpfen der homerischen Helden immerhin eine Referenzgröße für eigenes Handeln. Homer vermittelte mithilfe seiner drastischen Schilderungen eine heroische Kampfbereitschaft, der man nacheifern konnte.

Achill verbindet die Wunden von Patroklos
Damit ist freilich nichts darüber gesagt, ob die Zuhörer in den Kampf-handlungen eigene Kriegserfahrungen wieder-erkannten. Der kaiser-zeitliche Autor Dion von Prusa nahm beispielsweise an, die Art des Todes sei dem Charakter der einzelnen Personen angepasst worden (55, 21). 

Doch dies ist eine späte Sicht, die vor allem die ästhetische Gestaltung zu würdigen weiß. Zweifellos, die Arten der Verwundungen und der tödlichen Verletzungen passen gut in die archaische Zeit, als militärische Kämpfe mit denselben Fern- und Nahwaffen ausgetragen wurden und das Töten weiterhin mühsame Handarbeit war.

Als man die Ilias in der griechischen Welt vortrug, waren aber die im Epos üblichen Kampfarten mit Streitwagen und der Konzentration auf Zweikämpfe schon Geschichte. Sie wurden durch die Phalanx, eine geordnete Reihe Schwerbewaffneter, ersetzt, die sich in der Schlacht nicht in Zweikämpfe auflöste, sondern als geschlossene Formation operierte. Die Schlachtendarstellungen Homers müssen auf den Zuhörer anachronistisch gewirkt haben. Dies war wiederum vom Dichter durchaus beabsichtigt, wollte er doch sein Publikum in eine längst vergangene Zeit unbesiegbarer Helden zurückversetzen.

Die verstörende Wirkung, welche die vermeintlich genaue Beschreibung von Verwundung und Tod gehabt haben könnte, wird demnach durch Elemente aufgehoben, welche die Ereignisse einer anderen Zeit zuordneten. Hinzu kam ein anderes wichtiges Element der epischen Erzählung, mit dem das Geschehen in ein abstraktes Referenzsystem eingepasst wurde und das wir bereits kennengelernt haben: das persönliche und permanente Eingreifen der Götter in das Geschehen.

In der Odyssee heißt es gar, der ganze Krieg und das damit verbundene Verderben wurde von den Göttern veranlasst, damit die „Künftigen Stoff für Gesänge bekommen“ (Od. 8, 579 f.); eine durchaus zynisch wirkende Notiz. Die Götter kontrollieren die Kämpfe, lenken selbst einzelne Geschosse und bestimmen letztlich den Sieger des Krieges. Die Götter sind nah, sie sprechen mit den Helden und zeigen sich ihnen, sind aber zugleich unerreichbar und in ihrem Handeln unkalkulierbar.

Achill bereitet die Schändung der Leiche Hektors vor ...
Es gehört zur Tragik und zum unentrinnbaren Schicksal der verschiedenen Protagonisten, dass sie einen Krieg, den sie nicht mehr wollen, führen müssen, weil die Götter es so wollen. Im Moment des Todes lassen die Götter den Menschen allein. Schon im 6. Jahrhundert v. Chr. gibt es zum Beispiel mit dem Vorsokratiker Xenophanes in Griechenland erste Stimmen, welche die Götter der Ilias für unmoralisch halten, da sie nicht nur unendliches Leid bringen, sondern die Menschen auch zu unrechtmäßigem Handeln anstiften. Dies sei eine unziemliche Erfindung der Dichter, die den untadeligen Göttern jene Fehler anhängten, die sie bei den Menschen beobachteten.

Die Menschen waren demnach in der Welt der Epen auf sich selbst verwiesen, denn die Götter ließen sich nicht beeinflussen. Folge hiervon war, dass man sich als Zeitgenosse an den Helden der Dichtung orientieren musste. Man sollte diesen nicht einfach nacheifern, sondern aus ihrem Versagen wie aus ihren Erfolgen lernen. Kraft, Mut, die persönliche Ehre galt es unter Beweis zu stellen, denn „immer der Beste zu sein“ sollte Ziel eigenen Handelns sein - unter Umständen auch die persönliche Bewährung im Kampf und die Bereitschaft wie Fähigkeit, physische Gewalt ohne Wenn und Aber auszuüben.

aus: Martin Zimmermann: Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013



Donnerstag, 27. Juli 2017

Homer und die physische Gewalt in der Illias (Teil 1)

Mit den beiden großen Heldenepen Homers, der Ilias und der Odyssee, beginnt im 8. Jahrhundert v. Chr. nicht nur die griechische, sondern die gesamte abendländische Literaturgeschichte. Insbesondere die Ilias stellt in Stoffgestaltung, Erzählung, Einzelbild und dramatischer Gestaltung das alles überragende erste Referenzwerk europäischer Literatur dar. Dies gilt zum einen für die literarische Gestaltung, zum anderen aber auch für die geschilderten Ereignisse, die man in der Antike für historisch hielt.

Handschrift eines Teiles des 8. Buches der Illias (Illias Ambrosiana, 5./6. Jh.)

Die Ilias ist allerdings auch ein wichtiger Markstein für das Thema Gewalt und die von Homer hierzu entworfenen Bilder sind besonders wirkmächtig.

Der Troianische Krieg ist nach antiker Vorstellung in das späte 2. Jahrtausend v. Chr. zu datieren. Dennoch sollte man - trotz aller bewussten Archaismen, mit denen der Dichter versuchte, seinen Hörern einen lebhaften Eindruck von der Welt der Vorfahren zu geben – die Ilias als Dichtung lesen, welche die Ideale, gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Verwerfungen der archaischen Zeit, insbesondere des späten 8. Jahrhunderts v. Chr., widerspiegelt.

Das Thema der Ilias ist nicht, wie man anhand des erst Jahrhunderte später entstandenen Titels vermuten könnte, der zehn Jahre dauernde Troianische Krieg, sondern nur ein kleiner Ausschnitt von 51 Tagen. Homer verdichtet auf diese Weise meisterhaft die mit dem Krieg verbundenen Grundkonflikte zwischen Göttern und Menschen wie der Menschen untereinander.

Das eigentliche, schon im ersten Vers benannte Thema ist der Groll des Achill, der sich von dem großen Heerführer Agamemnon zurückgesetzt fühlt, da dieser ihm Briseis, eine als Kriegsbeute Achill zustehende und bereits zugeteilte Frau, streitig gemacht hat. Achill verweigert daraufhin, ganz in gekränkter Ehre zürnend, den Kampf – mit verheerenden Folgen.

Agamemnon und Achill - Mosaik aus Pompeii
Mit dem Konflikt zwischen Agamemnon und Achill, dem nicht endenden Groll Achills und der Situation am troianischen Königshof lotet Homer sämtliche Bereiche zwischenmensch-licher Konflikte und Befindlichkeiten aus. In zahllosen Einzelepisoden werden die Menschen in Bewährung und Versagen vorgeführt.

Zentraler Aspekt ist ferner das Adelsethos der archaischen Zeit, das in allen Nuancen durchgespielt wird. Hierzu gehört auch, dass Achills Verweigerung in zweifelhaftem Licht erscheint und so die Grenzen der ewigen Gewaltbereitschaft benannt werden. Freundschaft, Gastfreundschaft, Ehe, Solidarität, Verpflichtung gegenüber den Vorfahren, Bewährung im Kampf, Witwenschaft wie Waisennot und anderes mehr werden vor dem Hintergrund des Krieges thematisiert und reflektiert.

Man hat im moralisch-ethischen wie sozialen Gehalt den Wesenskern, das eigentliche dichterische Anliegen, erkennen wollen, für das der Troianische Krieg selbst nur den Hintergrund lieferte. Dies hat viel für sich und erklärt gut die Faszination, die vom Epos ausgeht und die Wirkmächtigkeit ebenso wie eine breite, die Zeiten überdauernde Rezeption sicherte.

Dennoch nimmt die Schilderung von Kämpfen und Schlachten rund zwei Drittel des gesamten Werks ein: In 16 der 24 Gesänge werden Schlachten beschrieben. Sage und schreibe 318 tote Krieger, von denen 243 Namen tragen, werden in den Kampfszenen einzeln vorgeführt, wobei sie auf rund 60 verschiedene Todesarten sterben. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer namenloser Kämpfer und Verwundeter.

Auf den modernen Leser wirken die langen Kampfbeschreibungen ermüdend. Der antike Zuhörer hingegen scheint diese Partien besonders goutiert zu haben. Anders ist sonst der prominente Platz der Kampfschilderungen nicht zu erklären. Bei der Zusammenführung der vielen Einzelepisoden wird Homer jedenfalls die Publikumserwartungen bedacht haben, die den wandernden Sängern, den Rhapsoden bestens vertraut gewesen sein dürfte, da sie selbst dem Adel angehörten.

Aus heutiger Sicht ist nicht nur der Umfang der Schlachtschilderungen irritierend, sondern auch die detailversessene Beschreibung von Verletzungen und Todesarten. Die anatomisch exakt anmutende Wiedergabe von Kriegs- und Kampfverwundungen ließ im 19. Jahrhundert einen Gelehrten sogar vermuten, bei Homer habe es sich um einen griechischen Militärarzt gehandelt, der bestens mit den Wunden vertraut war, welche die zeitgenössischen Waffen wie Pfeile, Speere und Schwerter geschlagen hatten.

Kupferstich von John Flaxman zur Ilias (1793)

In vielen Fällen werden die Protagonisten kurz vorgestellt und ihre Herkunft erläutert, ehe Homer den Zweikampf selbst schildert. Am Ende steht in der Regel der Tod eines Kämpfers, der auf sehr unterschiedliche Weise beschrieben wird. Zunächst gibt es einfach ausgemalte Szenen, in denen der kurze Hinweis den Todesstoß zusammenfasst:

Der Speer „durchbohrte die Stirn, und die eherne Spitze drang in die Knochen, und ihm umhüllte Dunkel die Augen“ (4, 460 f.). In einem anderen Fall fährt die Lanze in „die Brust neben der Warze, rechts, und gerade durch die Schulter“ (4, 480 f.). Einem wieder anderen Krieger drang die Waffe „in die Schläfe, und durch die andere Schläfe drang die eherne Spitze“ wieder heraus (4, 502 f.). In weiteren Kämpfen wird schlicht der Kopf abgeschlagen (11, 261).

Alle Teile des Körpers sind von den Verletzungen betroffen, wobei zwischen den Kriegsparteien ein wichtiger Unterschied besteht. Die Troianer haben häufiger Rückenverletzungen, was ihrer Rolle im Epos durchaus entspricht, denn sie sind es, die häufiger auf der Flucht gezeigt werden.

Die Achäer, Agamemnon und seine Mitkämpfer, werden im Epos bisweilen wie wilde Tiere, vor allem wie Eber und Löwen beschrieben, die entsetzliche Verletzungen anrichten können. Odysseus etwa wütet mit einem Gefährten, „wie wenn zwei Eber sich unter jagende Hunde stürzen“ (11, 324 f.). Agamemnon kämpft gar wie ein Löwe, der einer Kuh (d.h. einem Troer) nachstellt: „Er packt sie und bricht ihr den Nacken heraus mit den starken Zähnen zuerst und schlürft dann das Blut und die Eingeweide“ (11, 175 f.). Diesem grausigen Bild entsprechend beschreibt Homer den Tod einzelner Troer, wie beispielsweise den des Diores, der im Kampf von einem Wurfgeschoss getroffen worden war, das ihm „die beiden Sehnen und die Knochen zerschmetterte“ (4, 521). 

Weiter heißt es: „Der aber fiel rücklings nieder / in den Staub, und breitete beide Arme aus nach seinen Gefährten, / den Lebensmut verhauchend. Doch der lief herbei, der ihn getroffen, / Peroos, und stieß mit dem Speer in den Nabel, und alle / Gedärme ergossen sich auf die Erde, und ihm umhüllte Dunkel die Augen“ (4, 522–526).

Der Tod des Sarpedon

Anderen Kämpfern fährt der Speer in den Kopf, und „das Gehirn wurde drinnen ganz mit Blut vermengt“ (12, 185 f.; 20, 399 f.). Einer wird getroffen „unter dem Kinnbacken und dem Ohr, und die Zähne stieß hinaus das Ende des Speers und schnitt mitten durch die Zunge“ (17, 617 f.).

Besonders eindrücklich ist das Bild des Mannes, der im Rücken getroffen wird, wobei die Lanze den gesamten Körper durchdringt. Er sinkt nieder, „und eine Wolke umhüllte ihn, eine schwarze, und er zog an sich, zusammengesunken, die Eingeweide mit den Händen“ (20, 417 f.). Einem Unterlegenen wird der Kopf unter dem Ohr abgeschlagen, „und nur die Haut hielt noch, und seitwärts herab hing der Kopf“ (16, 340 f.).

Besonders kleinteilig ist die Beschreibung der Verletzung, die Pandaros erleidet. Die Lanze wird von der Göttin Athene „auf die Nase neben dem Auge (gelenkt), und sie durchbohrte die weißen Zähne. Und ihm schnitt ab die Wurzel der Zunge das unaufreibbare Erz, und die Spitze fuhr ihm heraus am untersten Kinn.“ (5, 291–293).


Achills´ Kampf am Fluss
Johann Balthasar Probst
(1673 - 1748)
Eine Lanze trifft „in den Schenkel, wo der dickste Muskel des Menschen ist, und rings um die Spitze der Lanze zerrissen ihm die Sehnen“ (16, 314‒316), einen „Oberarm schälte des Speeres Spitze aus den Muskeln und schmetterte den Knochen gänzlich herunter“ (16, 323 f.).

Eindrucksvoll ist auch der Tod des Erymas (16, 345–350): „Idomeneus aber stieß dem Erymas in den Mund mit dem erbarmungslosen Erz, / und gerade hindurch fuhr hinten heraus der eherne Speer, / unterhalb des Gehirns, und spaltete die weißen Knochen. / Und herausgeschüttelt wurden die Zähne, und es füllten sich ihm / mit Blut die beiden Augen, und aus dem Mund und durch die Nasenlöcher / sprühte er es, klaffend.

(Fortsetzung folgt)


aus: Martin Zimmermann: Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013