Donnerstag, 30. Juli 2020

Konrad Liessmann und die Veränderung des Menschen durch Bildung (Teil 1)


Vermutlich kennt jeder von uns das schöne bildungsbürgerliche Ideal vom gebildeten Menschen, der Goethe und Thomas Mann liest, der sich mit Kant beschäftigt und der sich also auskennt in ethischen Fragen. Durch diese Beschäftigungen wird man nicht nur selbst ein anderer, ein besserer Mensch, sondern kann die Welt gleich mit retten.

Es ist eine zentrale These moderner Bildungstheorien, dass sich Menschen und Gesellschaften durch Bildung verändern lassen. Mit dieser Ansicht setzt sich Konrad Liessmann in seinem Beitrag für die Reihe Wissen des SWR 2 kritisch auseinander, denn vielen gilt Bildung immer noch als jenes Instrumentarium, mit dem nicht nur die Menschen einen hochwertigen Arbeitsplatz und ihr individuelles Glück finden, sondern mit dem auch die drängenden sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gelöst werden können.

Man kann mit guten Gründen von der anthropologischen Prämisse ausgehen, dass der Mensch nicht nur als unfertiges Wesen auf die Welt kommt, sondern auch als dasjenige Wesen, das sich eben nicht nur unter möglichst günstigen Bedingungen entfalten können soll, sondern das sich immer erst "bilden" muss.

Der Mensch, das unfertige Wesen, das sich erst "bilden" muss ...

Liessmann weist allerdings darauf hin, dass auch wenn sich die Rede von der Entfaltung in einer romantischen Pädagogik, die in jedem Neugeborenen ein Bündel von Talenten sehen will, das zum Blühen gebracht werden soll, großer Beliebtheit erfreut, sie damit jede Idee von Bildung letztlich sabotiert.

Dieses Verständnis von Bildung impliziert, dass es kein vorgegebenes Muster oder Programm gibt, das ein Mensch im Laufe seines Lebens erfüllen können soll, sondern dass der Mensch immer auch Resultat seines eigenen Tuns ist. Reduzierte man Bildung allerdings auf diese Notwendigkeit und bezeichnete alles, was Menschen im Laufe ihres Daseins tun und lassen, als Bildung, hieße das zwar, dass sich niemand in dieser Weise nicht selbst bilden könnte, „Bildung“ fiele aber zusammen mit "Leben". „Mit solch einer Prämisse verlöre der Begriff der Bildung seine Trennschärfe.“

Diese Tendenz ist vor allem in der modernen Pädagogik spürbar. Selbst diejenigen, die nicht lesen gelernt haben, gelten dann nicht als ungebildet, wenn sie in ihrem Leben andere Kompetenzen erworben haben, wie die Beherrschung der Grundfunktionen eines mittels Bildsymbolen steuerbaren Smartphones. Auf diese Weise kann letztlich alles ein Ausdruck von Bildung sein, nur wird dieser Begriff damit bedeutungslos. „Die Rede von Bildung und Selbstbildung ist nur dann attraktiv, wenn Bildung inhaltlich bestimmt und als Ziel, als Norm formuliert wird.“

Nicht alles, was uns beeinflusst und verändert, nicht alles, was wir lernen, bildet uns auch. Bildung muss von den vielen Faktoren, die das Leben des Menschen auch bestimmen können und die von den genetischen Dispositionen über die Zufälle der Geburt bis zu den Erfahrungen des Lebens reichen, unterschieden werden.

Bildung in diesem Sinne hieße, sich bewusst einem Prozess der Veränderung auszusetzen und nicht zu warten, was das Leben so aus uns macht. Nur unter der Voraussetzung, dass nicht jede Form, in der sich Menschen entwickeln, Bildung genannt werden kann, setzt die Rede von Bildung eine entscheidende Differenz: die zwischen "gebildet" und "nicht gebildet".

Gebildet - Ungebildet
Die mittlerweile zum Standardvokabular gehörenden Begriffe "bildungsnah" und "bildungsfern" sind ihrerseits höchst problematisch, da diese räumliche Metaphorik suggeriert, dass Bildung irgendwo platziert ist und man sich in mehr oder weniger großer Distanz dazu aufhalten kann. Diese Formulierungen unterschlagen allerdings die Anstrengung, die darin besteht, dass Bildung als Arbeit an sich selbst begriffen werden muss.

Zumindest wird der Begriff "bildungsnah" ja nicht synonym für den "Gebildeten" verwendet, sondern markiert eher die Möglichkeit, standardisierte Bildungs-karrieren mit den entsprechenden Zertifikaten aufgrund des Milieus, in das man hineingeboren wurde, ohne größere Probleme durchlaufen zu können.


Die Frage ist also, was das Konzept der "Selbstveränderung durch Bildung" tatsächlich bedeuten kann. Liessmann unterstellt dem Begriff der „Selbst-veränderung“ drei Bedeutungen, aus denen er schließlich sein Verständnis von Bildung ableitet:

„Erstens: Ich bin es, der sich in seinem Identitätsgefühl verändert, und dies aus freien Stücken; man könnte hier von Selbstbildungsautonomie sprechen. Ich möchte ein anderer werden.“

Selbstveränderung durch Bildung im Sinne eines autonomen Projekts des Subjekts geht davon aus, dass es so etwas wie die Einsicht in das Ungenügen, in die Defizite einer Ich-Identität geben kann und dann gezielt Bildung eingesetzt wird, um dieses Ungenügen, dieses Defizit zu beheben.

Das ist sicher möglich. Allerdings hält sich bei konventionellen Bildungsprozessen dieser Anspruch eher in Grenzen. Dahinter steht das Konzept einer Persönlichkeitsbildung, die vom idealtypischen Bild einer reifen Persönlichkeit und seinen Bildungsanstrengungen ausgeht, tatsächlich aber werden diese Bildungsanstrengungen selten unternommen, um das eigene Ich zu modifizieren.

Zwar ist es unbestritten, dass Menschen – sei es aus Neugier, Interesse oder Gründen der beruflichen Qualifikation – Dinge lernen und sich Wissen aneignen, was selbstverständlich auf die Entwicklung der Persönlichkeit einen Einfluss haben kann, die damit einhergehende Veränderung eines Ich ist allerdings nicht das vorrangige Ziel. Niemand lernt eine Sprache, liest einen Roman, studiert Astronomie, betreibt Mathematik, erwirbt Programmierkenntnisse, um sich primär in seiner Identität zu verändern. Das bedeutet natürlich nicht, dass man durch solche Bildungsprozesse nicht verändert wird – aber die Richtung und die Intensität sind dabei der Kontrolle des Subjekts weitgehend entzogen.

Persönlichkeitsbildung ist sicherlich ein wichtiges Nebenprodukt von Lernprozessen. Gleichzeitig weiß man aber auch, dass Identitäten konstruiert und deshalb veränderbar sind. In den Identitätsdebatten werden Veränderungen der eigenen Identität daher weniger als Folge von Bildungsprozessen beschrieben, sondern eher als Durchsetzung von Selbstkonzepten in einer diesen gegenüber skeptischen sozialen Umwelt beschrieben. Das betrifft religiöse, ethnische und kulturelle Identitäten ebenso wie die Frage der sexuellen Orientierung.

Mythos Selbstoptimierung

Ähnlich liegt der Fall bei dem jüngst diskutierten Modell der Selbstoptimierung. Natürlich hat Bildung sehr viel mit Gestaltung und der Arbeit an sich selbst zu tun. Bei der Selbstoptimierung geht es in der Regel allerdings darum, bestimmte Eigenschaften eines Menschen nach effizienztheoretisch bestimmten Para-metern zu verbessern, etwa das Aussehen, die körperliche Leistungsfähigkeit, die psychische Belastbarkeit, die Intelligenz, das Gedächtnis oder auch nur die Ernährungsgewohnheiten. Dies sind natürlich alles Maßnahmen, die das Ich nicht unberührt lassen, auch wenn dieses Ich dabei nicht im Fokus des Veränderungsprozesses steht.

Allerdings kommt es hier durchaus zu interessanten Überschneidungen zwischen Optimierungsziel und der Anwendung von Techniken aus der Welt der bildungsbürgerlichen Ideals, etwa wenn jemand seine Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft durch psychotechnische Optimierungsmaßnahmen steigern will, zu denen etwa auch die Lektüre von Büchern wie „Rilke für Gestresste“ oder „Nietzsche für Manager“ gehört. Damit würde durch diese Strategien ein Anschluss an kanonische Bildungsgüter hergestellt werden, die nun als Werkzeuge der Optimierung dienen.

„Zweitens: Es ist mein Selbst, das durch Bildung verändert wird; dies setzt ein substanzielles "Selbst" voraus, das durch eine aktivierende und kontrollierende Ich- Instanz verändert werden kann: Bildung als Selbstsuche oder Selbstverwirklichung.“

Es kann nun aber sein, dass jemand nicht allein mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten oder seinem Ich-Gefühl, sondern mit seinem gesamten Selbst unzufrieden ist und es gezielt durch Bildung verändern möchte. Solch ein Mensch möchte sein Selbst überhaupt erst finden, herausfinden, wer er eigentlich ist, unter Umständen möchte er vielleicht sogar ein anderer Mensch werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Mensch in eine Situation gerät, die man das Kierkegaard-Paradoxon nennt.

Der dänische Philosoph hat dieses in seinem epochalen Buch „Die Krankheit zum Tode“ entwickelt. Er hat darin die These entfaltet, dass Identitätskrisen prinzipiell die Form der Verzweiflung zukommt. Auch wenn man glaubt, man verzweifelt an etwas – an einer Situation, an einem Schicksalsschlag, an einem Ereignis – verzweifelt man, so Kierkegaard, eigentlich immer an sich selbst. Man kann dabei diese prekäre Suche nach seinem Selbst in dreifacher Weise erfahren: Man kann "verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben“, man kann „verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ oder man kann „verzweifelt selbst sein wollen."

Kierkegaard demonstriert dies plastisch an einem herrschsüchtigen Menschen, der „entweder Caesar werden möchte oder gar nichts“. Wird dieser Herrschsüchtige nun nicht Caesar, dann verzweifelt er darüber – aber dies bedeutet, "dass er, eben weil er nicht Caesar geworden ist, es nun nicht aushalten kann, er selbst zu sein."

Der Verzweifelnde verzehrt sich selbst auf der Suche nach seinem Selbst. Und dies deshalb, weil das Selbst nichts ist, was man irgendwo finden und dann behalten könnte, sondern das Selbst ist eine dynamische Beziehung, keine Entität ist, die man irgendwo finden könnte, sondern eine dynamische Beziehung. Kierkegaard hat dies wunderbar formuliert: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“

Identitätsfindung im Modus der Verzweiflung

Wir bilden unser Selbst, indem wir uns zu uns selbst fragend, kritisch, liebend, ablehnend verhalten. Bildung nun kann unter diesen Gesichtspunkten nicht bedeuten, dass diese oder eine andere Form der Selbstveränderung gelingen könnte, ohne die Form der Verzweiflung anzunehmen, sondern Bildung hieße dann die Einsicht, dass Selbstveränderung in einem substanziellen Sinn ohne Verzweiflung, ohne Krisen nicht möglich ist. In diesem Sinne wäre Bildung weniger Motor der Selbstveränderung, als die Erkenntnis, dass die Melancholie die Begleiterin aller Formen der Identitätssuche sein wird.

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Konrad Liessmann: Veränderung durch Bildung? Über eine rhetorische Figur, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 10. Februar 2019

Donnerstag, 23. Juli 2020

Rainer Volk und der Krieg unter Tage

Seit der Antike bekriegt sich die Menschheit nicht nur über, sondern auch unter der Erde, in Stollen, Schächten und Tunneln. Im Dunkeln, in Panik schürender Enge, ständig in Gefahr zu ersticken, lebendig begraben oder aus gegnerischen Tunneln heraus überraschend angegriffen zu werden.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, so Rainer Volk in seinem Beitrag für den SWR 2, dass ab jenem Zeitpunkt, wo es Stadtmauern gab, die Leute auf der anderen Seite versucht haben, diese zu überwinden – oder, wenn das nicht möglich war, zu "unterwinden". Gelang es dem Angreifer sich unterirdisch an die Festung heran zu graben und eine Bresche zu sprengen, war der Weg ins Festungsinnere zumeist frei.

In früheren Jahrhunderten besaßen vor allem Bergknappen das für militärischen Tunnelbau nötige Wissen. Sie waren die harte Arbeit unter Tage in Erz-, Salz- oder Kohleminen gewohnt und erfahren darin, Stollen zu hauen und mit Balkenwerk abzustützen. Im Kriegsfall waren sie als Spezialisten hoch begehrt, hoch bezahlt – und hochgefährdet.

Bergbau im Mittelalter

Die "Mineure", so der militärische Terminus für diese Bergleute, hatten eines der gefährlichsten Kriegshandwerke überhaupt inne. Sie hatten bei der Arbeit kaum Sauerstoff und, vor allem bei langen Tunnelsystemen, war es nicht immer möglich, genügend Sauerstoff in die Tunnel zu bringen. Häufig musste man, um Sauerstoff zu sparen, dann auch noch auf Licht verzichten. Die Mineure arbeiteten vielfach also im Stockdunkeln. Man kann sich nur schwer die starke psychische Belastung ausmalen, der diese Menschen ausgesetzt waren.

Bereits in der Antike hackten und gruben sich Mineure in monatelanger Arbeit unter gegnerischen Festungsmauern hindurch. Häufig legten sie in ihren mühsam gegrabenen Stollen Feuer, um sie zum Einsturz zu bringen – und mit ihnen die Mauern darüber. Hinlänglich bekannt ist der Einsturz der Mauern von Jericho – erzählt im Alten Testament im Buch Josua im Kapitel 6. Da man damals noch keine Wurfgeschosse kannte, liegt eigentlich die Vermutung nahe, dass man die Mauern durch ihr Untergraben zum Einsturz gebracht hat.

Im Geschichtswerk "Ab urbe condita" des Titus Livius finden sich im IV. Buch im 22. Kapitel weitere konkrete Hinweise auf den antiken Tunnelkrieg. Bei der Eroberung der Latinerstadt Fidena im Jahre 426 v. Chr. wurden die Stadtmauern von den römischen Belagerern zielgerichtet untergraben. Titus Livius schreibt: „Weil er (gemeint ist der römische Feldherr Quinctus Servilius Prictus) keine Hoffnung hatte, die Stadt durch einen Angriff zu nehmen, oder sie zur Kapitulation zu zwingen, entschloss er sich, eine Mine unter die Festung zu graben – auf der gegenüber liegenden Seite der Stadt, wo man wegen des natürlichen Schutzes am wenigsten wachsam war. 

Titus Livius "Ab urbe condita"
Er lenkte seine Gegner so ab, dass sie nie merkten, wie die Arbeit voranschritt. Erst als der Weg durch den Berg vom Lager bis in die Zitadelle fertig gegraben war, stellten die Etrusker fest, dass sich die Stadt in der Hand ihrer Feinde befand.“

Ob Jericho und Fidena allerdings wirklich durch Tunnel erobert wurden, ist angesichts fehlender archäologischer Beweise nicht mit Sicherheit zu sagen. Anders sieht es mit den in der Region südwestlich von Jerusalem entdeckten und sehr gut erhaltenen Tunnelsystemen aus, die die Aufständische der jüdischen "Bar-Kochba-Revolte" im 2. Jahrhundert nach Christus gegen die Römer gegraben hatten. In den Tunneln versteckten sie sich vor der römischen Übermacht, und griffen sie bei günstiger Gelegenheit plötzlich wie aus dem Nichts an.

Diese Gänge waren so eng und niedrig, dass man sich bücken oder sogar kriechen musste. Oft verliefen sie gekrümmt, manche mit bis zu 90 Grad, oder veränderten durch senkrechte Schächte ihr Niveau. Es ist anzunehmen, dass ein Angreifer, der in dieses System eindringen wollte, dessen Labyrinth-Struktur nicht kannte und keine Waffen benutzen konnte, wenn er kroch. Denn er musste eine Lichtquelle in der Hand halten. Dadurch war er im Nachteil gegenüber denen, die im Hinterhalt auf ihn warteten. Die Übermacht einer für den Kampf Mann gegen Mann geschulten militärischen Einheit wurde so aufgehoben.

Im Mittelalter, als langsam wirksame Sprengstoffe aufkamen, wurde die Arbeit der Mineure effizienter, aber auch gefährlicher. 1453 stand der osmanische Sultan Mehmet II. vor den Toren Konstantinopels, die Hauptstadt des oströmischen Reiches, bzw. des griechisch-orthodoxen Byzanz. Er zog mit einem riesigen Heer vor die Stadt, das den Verteidigern zehnfach überlegen war. Doch den Eroberungsgelüsten der Osmanen standen die gewaltigsten Festungsmauern der Alten Welt im Wege: Drei Mauerringe aus römischer Zeit, von denen der innerste 13 Meter hoch und an die vier Meter stark war. Mit großem Getöse feuerten die Osmanen ohne Unterlass schwere Geschütze auf die Mauern, um Breschen zu schlagen. Doch kaum weniger gefährlich waren ihre Angriffsversuche im Verborgenen.

Die Belagerung von Konstantinopel 1453 durch den osmanischen Sultan Mehmet II.
Überwinden der Stadtmauern oder "unterwinden"?

Zur osmanischen Streitmacht zählten Bergleute aus serbischen Silberminen, die in der Nähe des Goldenen Horns begannen, die byzantinischen Mauern zu untergraben. Doch auch die griechischen Verteidiger konnten auf Fachleute wie den schottischen Bergmann John Grant zurückgreifen, der Gegenstollen graben ließ. Es gelang Grant, in den osmanischen Stollen einzudringen und dort Feuer an die hölzernen Abstützpfähle zu legen. Das Dach des Stollens stürzte ein und begrub viele der Bergleute unter sich.

Den Griechen gelang es sogar, einen Offizier der osmanischen Mineure gefangen zu nehmen. Er gestand ihnen unter Folter die genaue Lage anderer Tunnel. John Grant ließ sie mit Rauch füllen, zum Einsturz bringen oder mit Wasser aus den Zisternen Konstantinopels fluten, bis die Osmanen den Tunnelkampf schließlich aufgaben und sich auf das Zerschießen der Mauern beschränkten.

Am Tunnelkampf als heimliche Angriffstechnik hielten osmanische Heere freilich fest, auch als sie 230 Jahre später vor den Toren Wien auftauchten. Unter den etwa 120.000 osmanischen Belagerern sollen 5.000 Mineure und Sklaven gewesen sein, die im Hochsommer 1683 an Dutzenden von Stellen begannen, Tunnel unter die Wiener Befestigungsanlagen zu graben. Immer wieder detonierten gewaltige Sprengladungen direkt unter den Wällen der belagerten Stadt und brachten sie zum Einsturz. In ihrer Verzweiflung sollen die Verteidiger jeden Hausbesitzer verpflichtet haben, einen Mann abzustellen, der im Keller auf verdächtige Grab- und Hackgeräusche horchte.

Die Rettung kam diesmal von einem sächsischen Militäringenieur, den Kaiser Leopold I. als Chef seines Pionier-Korps verpflichtete: Georg Rimpler, der zuvor bereits bei Tunnelkriegen in Osteuropa und auf Kreta mitgekämpft hatte. Für Rimpler waren die vielen Gewölbe-Nischen und Keller Wiens so etwas wie "seismographische Vorposten". Rimpler stellt Wachen ab, die die Aufgabe hatten, darauf zu achten, ob man hört oder durch Erschütterungen merkt, dass sich feindliche Mineure annähern würden. Dazu stelle man entweder Kübel mit Wasser auf oder auch Erbsen in Schalen. Immer dann, wenn sich das Wasser bewegt hat oder die Erbsen begonnen haben zu rollen, war das ein Hinweis darauf, dass möglicherweise in der Nähe gegraben wurde.

Angriff der Türken auf das belagerte Wien
(Radierung von Romeyn de Hooghe, 17. Jh.)

Unter der Leitung Georg Rimplers begannen die Verteidiger nun ihrerseits, Abwehrstollen zu graben, um dem zerstörerischen Werk osmanischer Mineure Einhalt zu gebieten. Wenn sie aufeinander trafen, kam es zum Albtraum vieler Soldaten: Nahkampf, Mann gegen Mann, in der Enge und Dunkelheit der Tunnel.

Wie die Angreifer legten auch die Wiener unterirdische Sprengladungen und versuchten, osmanische Tunnel in die Luft zu jagen, doch ihre Sprengungen waren deutlich weniger effektiv als die der erfahreneren Osmanen. Als das Belagerungsheer nach einer verlorenen Schlacht schließlich abziehen musste, entdeckten die Wiener unter mehreren ihrer Wälle gegnerische Stollen mit fertig platzierten Sprengladungen, die nicht mehr gezündet worden waren.

Wegen der wachsenden Reichweite von Kanonen wurden Befestigungen im Laufe der Neuzeit immer weitläufiger und erhielten vorgeschobene Bastionen. Tunnel mussten also immer länger werden, um Wälle und Kasematten zu untergraben, so geschehen in Petersburg im US-Bundesstaat Virginia im Jahr 1864, gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs.

Die Stadt war ein wichtiger und stark befestigter Eisenbahn-Knotenpunkt unweit von Richmond, der Hauptstadt der Konföderierten. Sie wurde Monate lang von Unions-Truppen belagert – ohne Erfolg. In den Reihen der Nordstaaten kämpfte Oberstleutnant Henry Pleasants, ein erfahrener Bergmann aus Pennsylvania. Henry Pleasants wurde in Buenos Aires geboren und wanderte als 13-Jähriger mit seinen Eltern in die USA ein. Pleasants war Ingenieur. Bei Beginn des Bürgerkriegs 1861 lebte er in der Kleinstadt Pottsville, Pennsylvania. Das war ein Zentrum des Steinkohlebergbaus in den USA – und Pleasants leitete dort zu Beginn des Bürgerkriegs die Zeche.

Henry Pleasants plante, wie einst die Osmanen vor Wien, einen Tunnel bis unter die Stellungen der Konföderierten zu graben und dort eine riesige Menge Sprengstoff detonieren zu lassen. So wollte er eine Bresche für den entscheidenden Sturmangriff der Unions-Truppen schlagen. Auf die Soldaten seines Regiments konnte Pleasants zählen. Viele von ihnen waren, wie er, Bergleute aus Pennsylvania.

Als sie im Juni 1864 Befehl erhielten zu graben, wussten sie was zu tun war. Sie gruben mit Hacken und Schaufeln und behalfen sich, als sie tiefer gruben, mit einer Art Schlitten aus Munitionskisten, um den Abraum wegzuschaffen. Sie mussten dabei für Frischluft sorgen, je tiefer sie gingen. Letztlich war der Tunnel gut 150 Meter lang und endete unter einer Stellung der Südstaaten. An seinem Ende verzweigte er sich T-förmig in zwei Sprengstoff-Kammern. In der letzten Juliwoche 1864 packten sie dort etwa 3,6 Tonnen Schwarzpulver hinein.

Am 30. Juli 1864, um 4 Uhr 44 morgens erschütterte eine gewaltige Explosion das Schlachtfeld: Der Krater, den sie hinterließ, war über 50 Meter lang, 30 Meter breit und neun Meter tief. Etwa 280 Soldaten der Konföderierten kamen bei der Explosion um. Trotzdem gelang den Unions-Truppen kein Sieg im Battle of the Crater, der "Schlacht um den Krater", wie sie in den USA bis heute genannt wird.

Der Krater in Petersburg heute

Als „Höhepunkt des Minenkriegs“ gilt bis heute der Erste Weltkrieg. Bereits 1914 begannen Deutsche, Franzosen und Briten an der Westfront Tunnel zu graben. Die Hoffnungen auf schnelle Siege hatten sich rasch als Illusion erwiesen, weshalb man unter anderem auf den Kampf unter Tage zurückgriff. Wieder war man auf Spezialisten aus dem zivilen Bergbau angewiesen, Bergleute, die Erfahrungen mitbringen, wie man in einem relativ weichen und feuchten Grund Stollen vortreiben kann, aber auch Techniker, die Entwässerungs- und Kanalsysteme angelegen konnten.

Die verheerendste Tunnelschlacht fand 1917 bei Messines im äußersten Westen Flanderns statt, wo sich der Frontverlauf seit drei Jahren kaum verändert hatte und sich gut Tunnel graben ließen. Auf Seiten der Aliierten trieben Pioniere aus Kanada, Australien und Großbritannien hier 19 Stollen bis zu 45 Meter tief in die Erde, um unter die deutschen Stellungen zu gelangen. Der längste Tunnel maß 660 Meter. Nach zwei Wochen nervenzerreißendem Artilleriebeschuss aus deutschen Schützengräben detonierten am 7. Juni 1917 400 Tonnen Dynamit in unterirdischen Kammern. Es war eine der größten nicht-nuklearen Explosionen der Geschichte.

Die Explosion in Messines soll bis London zu hören gewesen sein.

Der offizielle deutsche Heeresbericht meldete: „Punkt 4 Uhr früh verkünden dumpfe Erschütterungen bis 25 km landeinwärts den Beginn der Schlacht. An 19 Punkten zerreißen Zehntausende von Zentnern Dynamit den Erdboden, schleudern haushohe Wogen von Rauch, Flammen und mächtige Brocken in die Luft. Stark aber, wie jedes elementare Ereignis, war die seelische Wirkung auf unsere aus dem Schlaf gerissenen Truppen. Der weitgetriebene Luftdruck und die ausgestrahlten Hitzewellen verbreiten Verwirrung. Auch die rückwärtigen Besatzungen wissen von dem betäubenden Eindruck der umfassenden Sprengungen zu berichten.“

Die Deutschen beklagten 2.900 Tote, 15.000 Verwundete und fast 8.000 Vermisste – nach britischen Schätzungen war die Zahl der Opfer sogar noch höher. Dennoch wurde der strategische Zweck der Entente-Truppen, die Deutschen zurückzudrängen, nicht erreicht.

Doch der Erste Weltkrieg markiert nicht das Ende des Tunnelkriegs. Der Bau der Maginot-Linie an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland in den 20er Jahren, ein fast 1.000 Kilometer langer, weitgehend unterirdischer Festungsgürtel, konnte die Kapitulation Frankreichs nicht verhindern. „Erfolgreicher“ waren da schon die Kämpfer des Vietminh und Vietcong, die während der Indochina-Kriege Tunnel- und Höhlensysteme mit einer Gesamtlänge von mehreren Zehntausend Kilometern gegraben haben. Sie verfügten über Küchen, Schlafkammern, Lagerräume und Krankenstationen, wie in der Maginot-Linie, über Trinkwasserbrunnen und sogar Munitionsfabriken und Druckereien unter Tage.

Auch in Afghanistan boten Taliban-Kämpfer mit einem System aus Tunneln und Höhlen der hochtechnisierten US-Armee Paroli. Und im Frühjahr 2015 verbreitete der so genannte Islamische Staat, er habe einen Kommando-Komplex der syrischen Luftwaffe in Aleppo mit einer Sprengladung in einem eigens gegrabenen Tunnel zerstört.

Bemerkenswert ist es vielleicht, dass Pioniere der Bundeswehr heutzutage nicht mehr lernen, wie militärische Tunnel gebaut oder zerstört werden. Im Kriegsfall müssten die hochgerüsteten Streitkräfte des Westens also wohl, wie in früheren Jahrhunderten, auf das Wissen ziviler Bergbau-Ingenieure zurückgreifen …


Zitate aus: Rainer Volk, Tunnelkampf – Krieg unter Tage, SWR2 Wissen, Sendung vom 28. Mai 2016


Dienstag, 14. Juli 2020

Winckelmann und die Nachahmung der Alten

Im Jahre 1764, also ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, legte Johann Joachim Winckelmann seine zweibändige Geschichte der Kunst des Alterthums vor, mit der Winckelmann einen geradezu revolutionären Anspruch erhob, indem er die Epochen der Kunstgeschichte auf eine Weise darstellte, die wissenschaftlich, literarisch und künstlerisch wiederum Epoche machte.


Johann Joachim Winckelmann (1717 - 1768)

Alberico Archinto, der päpstliche Botschafter in Sachsen und Polen, hatte Winckelmanns Fähigkeiten erkannt und ihm um 1750 eine Karriere in Rom in Aussicht gestellt. Im Juni 1754 konvertierte der Gelehrte zum Katholizismus, um seine Chancen am päpstlichen Hof zu erhöhen. Für Unterstützung in Dresden widmete er 1755 seine schnell berühmt gewordenen Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst dem sächsischen Kurprinzen. Im selben Jahr reiste Winckelmann mit einem Stipendium in den Süden. Am 19. November traf er in Rom ein und fasste dort im Spätsommer des folgenden Jahres den Plan zu seiner Kunstgeschichte. 

Ab 1759 arbeitete Winckelmann – als Antiquar und Bibliothekar im Dienst des Kardinals Alessandro Albani – an seinem Werk, das die antike Kunst in völlig neuem Licht erscheinen ließ. 1761 lag der Text bei der Dresdener Hofbuchhandlung; die Wirren des Siebenjährigen Kriegs verzögerten das Erscheinen. Im Frühjahr 1763 wurde Winckelmann zum Oberaufseher aller Altertümer in und um Rom  sowie zum Scriptor linguae teutonicaeernannt, der die deutschsprachigen Manuskripte der vatikanischen Bibliothek betreute. 


Kurz vor Weihnachten 1763 kam die Geschichte der Kunst des Alterthums dann in zwei Bänden auf den Markt. Der Erfolg war spektakulär. Winckelmann nutzt in seinem Werk „Kunst“ als Seismograph für die Entwicklung von Zivilisationen. Winckelmann konzentrierte sich in seiner Darstellung auf bildende Kunst, indem er ein bis in seine Zeit ein striktes Gefälle konstruierte, in denen Zyklen der Dekadenz aufeinanderfolgen. 

Bei Winckelmann allerdings spielen einzelne Künstler allenfalls eine untergeordnete Rolle als Befehlsempfänger ihres Zeitalters oder als Diener des Schönen. Seine Geschichte erzählte von abstrakten überpersönlichen Größen wie „der Kunst“ und „ihrer Zeit“ und von der Evolution der Plastik und der Malerei sowie ihrer Stile, die sich nach eigenen Gesetzen konstituierten und keine Rücksicht auf die Intentionen von Menschen nahmen.

Winckelmann interessierte sich also nicht für die Lebensgeschichten von Künstlern, sondern er untersuchte, wie die Kunst ihr „Wesen“ historisch zum Ausdruck brachte. Er konzentrierte sich auf Epochenkräfte und erhob damit einen radikalen wissenschaftlichen Innovationsanspruch, der eigentümlich quer stand zu der ebenso radikalen Idealisierung der Vergangenheit, die er in seinen "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke der Malerei und Bildhauerkunst (1755) in eine berühmte Formulierung gefasst hatte: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […].“


Apollo von Belvedere

 „Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.“ 


Warum aber suchte sich Winckelmann ausgerechnet eine Region heraus, die er nie angeschaut hat, um Anschauung als wissenschaftliche Notwendigkeit zu verkünden? Steffen Martus zufolge folgte Winckelmanns Gräkomanie dem aufklärerischen Faible für Anfänge. Er konnte der griechischen Kultur eine bestimmte Form der Ursprünglichkeit unterstellen. Obwohl Winckelmann in vielen Aspekten Vorgänger hatte, frönte er auch wissenschaftstheoretisch der Lust am Anfang, weil die griechischen Studien um 1740 in Deutschland nicht besonders hoch im Kurs standen, wenig Widerstand boten, relativ exklusiv waren und damit Raum für akademische Innovationen boten.

Winckelmann spiegelte den Stil einer Kunst im Gesamtstil einer Zeit und ihrer natürlichen Umgebung. Bei ihm korrespondierte die „Lage der Länder“ mit der „Witterung“, der „Nahrung“, der Flora und Fauna eines Landstrichs, mit der körperlichen „Bildung der Einwohner“, ihrer „Denkungs-Art“, ihrem „Character“, ihrer „Sprache“ und ihren „Mundarten“, mit „Erziehung“, „Gottesdienst, Regierungsform und Lebensart“. In dieses komplexe Ensemble bettete Winckelmann die Kunst ein.

Damit zeigte er, wie verhältnismäßig menschliche Kreativität war und dass schöpferische Ideen in Lebensbezügen und -vollzügen entstanden. Dies galt für die Antike genauso wie für die Gegenwart Winckelmanns: „Die äußeren Umstände wirken nicht weniger in uns, als die Luft, die uns umgibt, und die Gewohnheit hat so viel Macht über uns, daß sie so gar den Körper und die Sinne selbst, von der Natur in uns geschaffen, auf eine besondere Art bildet; wie unter andern ein an Französische Music gewöhnte Ohr beweiset, welches durch die zärtlichste Italienische Music nicht gerühret wird.“ Unter diesen Vorzeichen gab Winckelmann der Faszinationsgeschichte der Antike eine neue Wendung und begründete den deutschen Klassizismus.

Eine besondere Rolle spielte für Winckelmann das Klima. Umweltbedingungen wirken auf jedes Ding und jedes Lebewesen, beeinflussen jede Pflanze, jedes Tier und jeden Menschen, gleich welchen Standes. Winckelmann entzifferte die Züge, die das Klima in den Gestalten eines Landstrichs hinterlässt: In „wärmern Ländern“ sehen diese demnach anders aus als in „kalten“, weil die Haut sanfter und ihre Farbe blühender ist, weil die Züge des Gesichts besser proportioniert sind. 

Diese physiologischen Effekte betreffen sogar die Sprachklänge beziehungsweise die „Nerven der Zunge“, die sich unter milden Bedingungen vokalreicher, sanfter und musikalischer ausbilden. Sonnenschein und angenehme Temperaturen beeinflussen auch die Art des Denkens, machen es „feiner und schlauer“, malerischer und bildreicher, weil die Sinne „durch schnelle und empfindliche Nerven in ein feingewebtes Gehirn wirken“. Bei den Griechen handelte es sich um „zum Denken gewöhnte Menschen“, „die den Geist in seinem größten Feuer, von der Munterkeit des Körpers unterstützet, beschäftigten“.

Unter dem Einfluss des griechischen „Himmels“ entwickelte sich also eine ideale Kultur. Jene „edle Einfalt“ und „stille Größe“, die Winckelmann schon in seinen Gedancken über die Nachahmung als Leitparole des Klassizismus ausgegeben hatte, ging auf das „sanfte Gefühl der reinen Schönheit“ zurück, wie es sich allein unter den harmonischen Bedingungen dieser Region einstellen konnte.

Auf der einen Seite entstand so Kunst, die sich ganz auf ihr „Wesen“ besann; auf der anderen Seite zeigte Winckelmann auf, wie gerade diese in sich ruhende Kunst aus spezifischen Umweltbedingungen hervorging und sich damit in die Verhältnisse ihrer historischen Epoche verwickelte.


Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
in der Malerei und Bildhauerkunst (2. Auflage)

Winckelmann folgt auch in diesem Punkt der Aufklärung, die den Menschen als Gewohnheitstier kennengelernt hat. Die besondere Qualität der griechischen Lebensweise resultierte bei ihm aus der Vertrautheit mit bestimmten Formen des Sozialen, des Umgangs, der Sprache, des Denkens oder der Kunst, die durch natürliche Bedingungen, politische Umstände und erbliche Anlagen einfach da sind.

Winckelmann behauptete das gleich- und mittelmäßige Klima Griechenlands als zentrale Steuerungsinstanz. Daraus ergaben sich soziale und politische Konsequenzen: Der Blüte griechischer Kultur in Athen korrespondierte ein „Democratisches Regiment“, weil dort das „ganze Volk“ an der Politik partizipierte – man könnte sagen: weil dort ein bestimmtes politisches Klima herrschte, das die öffentlichen Belange zur Angelegenheit von jedermann machte und Politik und Kunst als zwei Seiten einer Epoche koppelte. Die Kräfte des Zeitalters wirkten auf die gesamte Kultur und Gesellschaft gleichmäßig ein.

Die „Freyheit“, so Winckelmann, sei die „vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst“. Er meinte damit, dass Anerkennung und Ehre nicht per Geburt vorsortiert wurden, sondern dass allen die Möglichkeit offenstand, „groß“ zu werden. Daher gab es auch für die Kunst sehr viel mehr Gelegenheiten, sich an politischer Größe zu bewähren und engagierte Bürger etwa durch Statuen zu „verewigen“.

Für diese Freiheit wurden die Griechen durch das herrschende Klima und die daraus resultierenden Vorlieben und Neigungen determiniert. Deswegen, so Winckelmann, erhielt sich die griechische Freiheit auch unabhängig von wechselnden Regierungsformen. Winckelmann verband „Freyheit“ also mit keinem bestimmten politischen System, etwa mit der Demokratie, auch wenn er die Blütephasen der Kunstgeschichte meist in Situationen politischer Liberalität platzierte, sondern er entwickelte am Leitfaden dieses Ideals vielmehr eine allgemeinere Form der politischen Anteilnahme, bei der die Zuständigkeiten nicht – wie in einer ständischen Gesellschaft – von vornherein relativ strikt verteilt waren, sondern die dazu führte, dass sich stets alle mitgemeint fühlten und sich politisch oder künstlerisch für relevant hielten.

Literatur: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Hamburg 2015