Donnerstag, 25. Dezember 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus -Teil 7: Totale Herrschaft - Eine neue Staatsform

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Arendt kommt am ihres Werkes zu dem Ergebnis, dass es sich bei der totalen Herrschaft um „eine neue, noch nie dagewesene Staatsform“ handelt, d.h., „dass sie auf einer menschlichen Erfahrung gegründet ist, die nie zuvor zur Grundlage menschlichen Miteinanderlebens gemacht worden ist, die politisch sozusagen noch niemals produktiv geworden ist“ (944).

Totale Herrschaft - Eine neue Staatsform
Die Originalität totalitärer Herrschaftsapparate wird zunächst schon darin deutlich, dass die Urteile über Staaten und Regierungen seit den Theorien der Antike auf der Unterscheidung zwischen gesetzmäßiger Regierung und tyrannisch-gesetzloser Willkür beruhen.

Im Totalitarismus nun tritt an die Stelle des positiv gesetzten Rechts das `Gesetz der Geschichte´ oder das `Recht der Natur´. Schon Engels hatte in seiner Grabrede auf Karl Marx folgende Worte gebraucht: „Just as Darwin discovered the law of development of organic life, so Marx discovered the law of development of human history“ (951, Anm.1). Die Geschichte oder die Natur ist demnach „eine Art von Instanz, wie sie das positive Recht, das immer nur konkrete Ausgestaltung einer höheren Autorität zu sein behauptet, selbst braucht und auf die es sich als Quelle seiner Legitimität immer irgendwie beruft“ (947).

Arendt beobachtet, dass das Wort `Gesetz´ in der totalitären Sprache seine Bedeutung grundlegend geändert hat: „Es deutet nicht mehr auf des Zaun des Gesetzes hin, dessen relative Stabilität den Raum der Freiheit schafft und behütet, in welchem menschliche Bewegungen und Handlungen stattfinden und sich abspielen; sondern es bezeichnet vorerst und wesentlich eine Bewegung. (…) So braucht totalitäre Herrschaft den Terror, um die Prozesse von Geschichte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungsgesetze in der menschlichen Gesellschaft durchzusetzen“ (953).

Arendt entwickelt die Idee des Totalitarismus als neuer Staatsform in bewusster Nachfolge Montesquieus, der in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ bekanntlich zwischen den Staatsformen Monarchie, Republik und Tyrannis unterschied.

Danach hat die Monarchie ihr Wesen in gesetzlicher Regierung, in der die Macht in den Händen eines einzigen Monarchen liegt. „Gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Ehre, das auf dem Wunsch nach Auszeichnung beruht“ (954). Die Republik wiederum hat ihr Wesen in verfassungsmäßiger Regierung, in der die Macht in den Händen des Volkes liegt. „Gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Tugend, das auf der Liebe zur Gleichheit beruht“ (954). Die Tyrannis schließlich hat ihr Wesen in gesetzloser Herrschaft, „in der Macht von der Willkür eines einzelnen ausgeübt wird; ihr Prinzip des Handelns ist die Furcht“ (954).

Das Wesen totalitärer Herrschaft aber ist Arendt nach der Terror, „der aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines einzelnes (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, dass jede freie, unvorhergesehene Handlung ausgeschlossen wird“ (955).

Terror: Das Wesen totalitärer Herrschaft
(© by Klemens ETZ)
Es lässt sich bei den totalitären Regimes gut beobachten, dass jede Gewaltherrschaft die Zäune der Gesetze dem Erdboden gleichmachen muss. „Totalitärer Terror, sofern er dies in seinen Anfangsstadien auch tut, unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen Formen der Tyrannis. Nur dass dieser nicht den willkürlich-tyrannischen Willen eines einzelnen über die ihres Schutzes beraubten und zu Ohnmacht verdammten Menschen loslassen will, noch die despotische Macht eines einzigen gegen alle anderen, noch, und am allerwenigsten, die Anarchie eines Krieges aller gegen alle“ (957).

Während sich die Tyrannis mit der Gesetzlosigkeit begnügt, setzt der totale Terror an die Stelle der Zäune des Gesetzes und der gesetzmäßig etablierten und geregelten Kanäle menschlicher Kommunikation ein eisernes Band, das alle so eng aneinander schließt, dass nicht nur der Raum der Freiheit, wie er in verfassungsmäßigen Staaten zwischen den Bürgern existiert, sondern auch „die Wüste der Nachbarlosigkeit und des gegenseitigen Misstrauens, die der Tyrannis eigentümlich ist, verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschmolzen in ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen“ (957f).

Die Furcht wiederum entsteht in der Tyrannei dadurch, dass der Raum der Freiheit, den die Gesetze umhegten, von der Willkür des Tyrannen in eine Wüste verwandelt ist. Aber selbst in der Wüste gibt es noch ein Minimum menschlichen Kontakts, „sie bewahrt noch eine Spur jenes Raumes, den menschliche Freiheit braucht, um wirklich zu werden. In ihre bewegen sich Menschen noch und begegnen einander, beraten von den Prinzipien der Furcht und des Misstrauens. Furcht und Misstrauen können aber keine Ratgeber mehr sein, wenn unter totalitärer Herrschaft der Terror beginnt, seine Opfer nach objektiven Merkmalen, ohne allen Bezug auf irgendwelche Gedanken oder Handlungen der Betroffenen, auszuwählen“ (960).

Wenn der Terror das Wesen der totalitären Herrschaft ist, dann rechnet sie strenggenommen überhaupt nicht mehr mit handelnden Menschen und kann daher auch kein eigentliches Prinzip des Handelns, auch nicht das der Furcht, gebrauchen.

"Vier Beine gut - Zwei Beine schlecht"
An seine Stelle eines Handlungsprinzips setzt der Totalitarismus ihre „wissenschaftliche Weltanschauung“, also etwas, das mit dem menschlichen Willen zum Handeln nichts mehr zu tun hat, dafür aber die Menschen lehrt, die Bewegungsgesetze zu verstehen, „die der Terror vollstreckt und die ja angeblich von Geschichte und Natur über eine ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind“ (961).

So ist das vielleicht wichtigste Merkmal des Totalitarismus der Anspruch auf totale Welterklärung, der nicht nur die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden verspricht, also die totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und verlässliches Vorhersagen des Zukünftigen, sondern als ideologisches Denken auch und vor allem völlig unabhängig von aller konkreten Erfahrung ist" (964).

Arendt erkennt das eigentliche Wesen der Ideologie darin, aus einer Idee eine Prämisse zu machen, aus einer Einsicht in das, was gegenwärtig ist, eine Voraussetzung für das, was sich in der Zukunft zwangsläufig ereignen soll. Werden aber die Aussagen der Ideologie bzw. wissenschaftlichen Weltanschauung buchstäblich ernst genommen, dann entstehen Konsequenzen, „von denen sich der gesunde Menschenverstand, der sich an der Wirklichkeit auch dann orientiert, wenn er von ihr gelegentlich irregeführt wird, nichts hatte träumen lassen" (967).

Dasjenige, was nach Montesquieu den Geist der Gesetze "in einer jeden politischen Formation garantiert, ist die Grunderfahrung, aus der das jeweils verschiedene Prinzip öffentlichen Handelns entspringt und die als solche das Gemeinsame ist, was Struktur der Staatsform Im Anschluss an Montesquieu sieht Arendt die politisch ausschlaggebende gemeinsame Grunderfahrung aller Menschen in einer Republik die Erfahrung, dass alle Menschen gleich sind. „Dieser Gleichheit entsprechen republikanische Gesetze, und aus der Liebe zu ihr, die Tugend ist, entspringt republikanisches Handeln.“

Gleichheit: Die Grunderfahrung in der Republik
Gleichheit in einer Republik aber meint weder Gleichheit aller Menschen vor Gott und auch nicht die Gleichheit allen menschlichen Schicksals vor dem Tod, sondern die Gleichheit menschlicher Stärke. „Dass wir gleich geboren werden, heißt politisch nur, dass wir - bei aller Verschiedenheit der Anlagen - von Natur mit gleicher Stärke ausgestattet sind. (Gleichheit konnte Hobbes daher im Leviathan als eine 'equality of ability' zu töten definieren.) Die Grunderfahrung der Republik ist das Zusammensein mit gleich starken Mitbürgern; die republikanische Tugend, die das öffentliche Leben in ihr durchwaltet, ist die Freude, nicht allein zu sein; denn nur weil wir von Natur gleich, mit gleicher Kraft begabt sind, sind wir miteinander zusammen. allein sein heißt immer, zu existieren ohne seinesgleichen" (971f).

In einer Monarchie ist die politisch ausschlaggebende Grunderfahrung die Erfahrung, „dass wir durch Geburt einer vom anderen verschieden und auf eine natürliche Weise voneinander und voreinander ausgezeichnet sind. Der Liebe zur Auszeichnung, die Ehre ist, muss die monarchische Gesetzgebung gerecht werden, denn sie bestimmt das Handeln in einer Monarchie. Im Zusammensein mit anderen, aber auch im Kampf mit ihnen kann sich der Einzelne auszeichnen und zu dem kommen, „was jeder wahrhaft sein eigen nennen darf; die Ehre, die das öffentliche Leben in ihr durchwaltet, ist die Freude, dies Eigene gefunden und in öffentlicher Anerkennung bestätigt zu haben" (972).

Ehre: Die Grunderfahrung in der Monarchie
Wenn Arendt dieses Schema auf die totalitäre Herrschaft anwendet, dann tut sie dies zunächst unter Zuhilfenahme der Tyrannis, als derjenigen „Staatsform, mit der die totalitäre Herrschaft zweifellos am meisten Ähnlichkeit hat" (973).

In der Tyrannis steht die „Furcht als Prinzip öffentlich-politischen Handelns in engstem Zusammenhang mit jener Grundangst, die wir alle in Situationen völliger Ohnmacht erfahren haben, nämlich in Situationen, in denen wir aus gleich welchen Gründen nicht handeln können“ (973).

Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit: „Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. (…) In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigenen, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde“ (977).

Verlassenheit: Die Grunderfahrung im Totalitarismus
Was den modernen Menschen dabei so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist für Arendt die überall zunehmende Verlassenheit. „Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist. Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt und die `eiskalte Logik´, mit der totalitäre Gewalthaber ihre Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, woraus wenigstens noch Verlass ist“ (978).

Arendt gibt zu, dass Furcht eigentlich gar kein Prinzip des Handels ist, sondern nichts anderes ist als die Verzweiflung, nicht handeln zu können. „Innerhalb des politischen Bereichs ist sie eine Art antipolitisches Prinzip. Darum meint Montesquieu, dass die von ihr beseelte Tyrannis die einzige Staatsform sei, die an sich selbst zugrunde geht, die den Kern des eigenen Verderbens in sich trägt. Es bedarf äußerer Umstände, um Monarchien zu Fall zu bringen oder Republiken zu verderben; bei der Tyrannis ist dies Verhältnis genau umgekehrt: sie verdankt ihren Bestand immer nur äußeren Umständen; sich selbst überlassen, geht sie an sich selbst zugrunde“ (973).

Ausgehend von der aus der Antike herrührenden Einsicht erklärt Arendt, dass insbesondere die Staatsformen, die auf der Gleichheit ihrer Bürger beruhen, in besonders großer Gefahr stehen, in Tyranneien umzuschlagen: „Wenn die republikanischen Gesetze, deren Sinn immer ist, die natürliche Kraft jedes einzelnen Bürgers so zu begrenzen, dass Raum bleibt für die als gleich angesetzte Stärke seiner Mitbürger, zusammenbrechen, entsteht ein Chaos“ (973f).

Wäre also totalitäre Herrschaft nichts anderes als eine moderne Form der Tyrannei, so würde sie sich ebenso damit zufriedengeben, die politische Sphäre der Menschen zu zerstören, also ihr Handeln zu verwehren und Ohnmacht zu erzeugen. Totalitäre Herrschaft aber wird wahrhaft total in dem Augenblick – und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend zu rühmen –, „wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, dass die also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischen Handeln) wieder eingesetzt werden können“ (975).

Totale Herrschaft raubt den Menschen ihre Fähigkeit zum Handeln

Auf diese Weise raubt totalitäre Herrschaft den Menschen nicht nur ihre Fähigkeit zu handeln, „sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen“ (975).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)


Donnerstag, 18. Dezember 2014

Lenin und der Staat

Lenin (1870 - 1924)
In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1951) setzt sich Albert Camus mit den Ideologen auseinander, die nach innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört neben Karl Marx mit seinem utopischen Messianismus auch Lenin, der mit seinen Gedanken zur Revolution letztlich alle sentimentalen Formen der revolutionären Aktion ohne Gnade auslöschen wollte. Revolution und Moral seien letztlich zwei voneinander unterschiedliche Dinge, und die revolutionäre Gewalt werde sicherlich nicht „im Gehorsam der Zehn Gebote aufgestellt.“

Mit Lenin entsteht Camus zufolge eine völlig neue Form des Kommunismus. So tritt Lenin „ins Kommando ein, sucht nach dem besten Gang des Motors und entscheidet, welche Tugend zu einem Lenker der Geschichte passt und welche nicht.“

Er tastet zwar ein wenig am Anfang, zögert vor dem Problem, ob Russland zuerst das kapitalistische und industrielle Stadium durchmachen muss – das aber hieße daran zu zweifeln, ob die Revolution in Russland stattfinden könnte – und so wirft er den wirtschaftlichen Fatalismus einfach über Borg und macht sich ans Werk, der sozialistischen Lehre eine vollkommen neue wissenschaftliche Grundlage zu geben.

Dabei leugnet Lenin zunächst die Spontaneität der Massen, dass heißt er geht von der Prämisse aus, das die Arbeiter nicht von sich aus eine unabhängige Ideologie ausarbeiten werden: „`Die Theorie´, sagt er, `muss sich die Spontaneität unterwerden.´ Unverschlüsselt heißt das, die Revolution bedürfe der Führer und der ideologischen Führer.“ Die sozialistische Lehre ist also eine Angelegenheit der intellektuellen Lehrer, bzw. von Berufsrevolutionären.

Das Proletariat aber hat von diesem Augenblick an keine Sendung mehr. „Es ist nur ein machtvolles Mittel unter anderen in den Händen revolutionärer Asketen.“

Das Proletariat verkommt zu einem machtvollen Mittel
in den Händen von Berufsrevolutionären.

Diese Gedanken zum Problem der Machtergreifung ziehen schließlich die Frage nach dem Staat nach sich, einem Thema, dem sich Lenin in seiner Schrift „der Staat und die Revolution“ (1917) widmet. Sie gehört zu den sonderbarsten und widerspruchvollsten Werken der sozialistischen Theorieliteratur.

Mit Hilfe von Marx und Engels wendet sich Lenin gegen jeden Reformismus, der sich des bürgerlichen Staates bedienen möchte, um die Ziele des Sozialismus zu erreichen. Der bürgerliche Staat mit seinem Verwaltungs- und Sicherheitsapparat müsse allein schon deshalb verschwinden, weil er in seinem Wesen nicht anderes ist als eine Einrichtung zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere.

Der proletarische Staat sei gerade kein Staat wie jeder andere, sondern ein Staat, „der seinem Wesen nach nicht aufhört zu verfallen: `sobald es keine Klassen mehr gibt, die man unterdrückt halten muss … ist ein Staat nicht mehr nötig … An die Stelle der Regierung der Personen tritt die Verwaltung der Sachen. Der Staat ist nicht abgeschafft, er geht ein´.“

Wenn der bürgerliche Staat schließlich besiegt ist, bildet sich der proletarische Staat zurück. Die Diktatur des Proletariats ist also deshalb notwendig, „1. um zu beseitigen oder zu unterdrücken, was von der bürgerlichen Klasse noch übrig geblieben ist; 2. und die Sozialisierung der Produktionsmittel zu verwirklichen. Sind diese beiden Aufgaben vollendet, geht sie sofort ein.“

Nur zehn Seiten später behauptet Lenin nun, dass die Macht notwendig sei „zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter `und auch, um die große Masse der Bevölkerung, Bauernschaft, Kleinbürgertum, Halbproletariat, bei der Errichtung der sozialistischen Wirtschaft zu leiten´. Die Wende ist hier unbestreitbar; der provisorische Staat von Marx und Engels wird mit einer neuen Mission beauftragt, die ihm ein langes Leben verleihen kann.“

Die Revolution ist letztlich die Angelegenheit von qualifizierten Führern und Lehrern.

Das aber ist der Grundwiderspruch in der sozialistischen Staatstheorie, wie er insbesondere im Stalinismus deutlich wurde, denn: Entweder hat dieses Regime die klassenlose Gesellschaft verwirklicht, dann rechtfertigt sich die Beibehaltung eines ungeheuren Unterdrückungsapparates nach marxistischen Begriffen nicht, oder es hat sie nicht verwirklicht, und dann ist der Beweis erbracht, dass die marxistische Doktrin irrig und insbesondere die Sozialisierung der Produktionsmittel nicht gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Klassen.“

Bis zur obersten Stufe des Kommunismus, auf der „jeder nach seinen Bedürfnissen“ lebt und handelt, wird es also einen Staat geben. Auch Lenin gibt zu, dass er nicht weiß und vor allem nicht wissen kann, mit welcher Geschwindigkeit die Entwicklung auf diese oberste Stufe erfolgen wird, und `dass es keinem Sozialisten in den Sinn gekommen ist, den Eintritt der höheren Stufe des Kommunismus zu versprechen.´

Auf dem Weg zur höheren Stufe des Kommunismus: "Jeder nach seinen Bedürfnissen"!

Für Camus steht fest, dass „an dieser Stelle die Freiheit endgültig stirbt. Von der Herrschaft der Massen, vom Begriff der proletarischen Revolution geht man zuerst zur Idee einer von Berufsagenten unternommenen und geleiteten Revolution über. Die unbarmherzige Kritik am Staat söhnt sich darauf mit der notwendigen, doch vorübergehenden Diktatur des Proletariats in Gestalt seines Führers aus. Am Schluss verkündet man, das Ende dieses vorläufigen Zustandes sei nicht vorherzusehen, und überdies sei es niemandem eingefallen, ein Ende zu versprechen.“

So also stellt sich Lenin den Zusammenhang von Revolution und Staat vor: Solange es auf der Welt, nicht in einer bestimmten Gesellschaft, einen Unterdrückten oder einen Besitzer gibt, wird der Staat also aufrechterhalten werden. „Ebenso lange wird er gezwungen sein, sich zu vergrößern, um die Ungerechtigkeiten eine nach der anderen zu beseitigen, die Regierungen der Ungerechtigkeit, die hartnäckigen bürgerlichen Nationen, die Völker, die für ihre eigenen Interessen blind sind. Und wenn auf der endlich unterworfenen, von Gegner gesäuberten Welt die letzte Ungerechtigkeit im Blut der Gerechten und Ungerechten ertränkt ist, dann wird der Staat, an die Grenze der Macht angelangt, ein scheußlicher Götze, der die ganze Erde umfasst, sich im schweigenden Reich der Gerechtigkeit brav auflösen.“

"Unser sozialistisches Leben" (Markus Hahne, 2011)

Hier identifiziert sich die sozialistische Doktrin endgültig mit der Prophetie. Zugunsten einer entfernten Gerechtigkeit legitimiert sie die Ungerechtigkeit während der ganzen Zeit der Geschichte; sie wird zu jener Vorspiegelung, die Lenin mehr als alles andere in der Welt verabscheute. Sie lässt das Unrecht, das Verbrechen und die Lüge hinnehmen durch die Verheißung des Wunders. Noch mehr Produktion und noch mehr Macht, ununterbrochene Arbeit, unaufhörliche Schmerzen, dauernder Krieg, und ein Augenblick wird kommen, da sich die allgemeine Knechtschaft im totalen Staat wunderbarerweise ins Gegenteil verkehren wird: in die freie Muße in einer universalen Republik.“

So könne man schließlich auch die pseudorevolutionäre Mystifikation wie folgt formulieren: „Man muss jede Freiheit töten, um das Reich zu erobern, und das Reich wird eines Tages die Freiheit sein.“

Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 296ff  

Donnerstag, 11. Dezember 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 6: Totale Herrschaft - Die Konzentrationslager

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Der außerordentlich blutige Terror im Anfangsstadium einer totalen Herrschaft dient vor allem dazu, den politischen Gegner zu erledigen und alle Opposition unmöglich zu machen. Der totale Terror aber erst dann entfesselt, wenn das Anfangsstadium überwunden ist und das Regime keinerlei Opposition mehr zu fürchten hat.

Auschwitz

Die Konzentrations- und Vernichtungslager im Totalitarismus haben hierbei die Funktion von Laboratorien, „in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Arendt zufolge handelt es sich „darum, festzustellen, was überhaupt möglich ist, und den Beweis dafür zu erbringen, dass schlechthin alles möglich ist“ (907).

Zwar ist uns nichts von dem, was sich in den Lagern abgespielt hat,  „unbekannt aus perversen und bösartigen Phantasiewelten“, doch urplötzlich stellt sich heraus, „dass das, was die menschliche Phantasie seit Jahrtausenden in ein Reich jenseits menschlicher Kompetenz verbannt hat, tatsächlich herstellbar ist“ (919f).

In keinem Fall sind die Konzentrationslager um der möglichen Arbeitsleistung willen eingerichtet worden. Vielmehr hängt die Unglaubwürdigkeit der Gräuel aufs engste mit ihrer ökonomischen Zwecklosigkeit zusammen. Die Nazis haben diese Zwecklosigkeit sogar bis zur offenen Zweckwidrigkeit betrieben, „als sie mitten im Kriege und bei offenbaren Mangel an rollendem Material Millionen von Juden transportierten und riesige, kostspielige Vernichtungsfabriken anlegten“ (918).

Totale Herrschaft geht davon aus, alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit neu zu organisieren, „als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten.“ Das Ziel dabei ist, „jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so dass jedes dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist“ (ebd.).

Sachsenhausen

Insofern dienen die Lager nicht nur der Ausrottung von Menschen, der Erniedrigung von Individuen, sondern auch „dem ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird, also etwas, was selbst Tiere nicht sind; denn der Pawlow´sche Hund, den man bekanntlich darauf dressiert hatte, nicht zu essen, wenn er hungrig war, sondern wenn eine Glocke ertönte, war ein pervertiertes Tier“ (908).

Dabei hängt das Experiment der totalen Herrschaft in den Konzentrationslagern vor allem davon ab, dass die Lager gegen die Welt der Lebenden vollkommen abgedichtet sind. „Mit dieser Abdichtung hängt die eigentümliche Unwirklichkeit und Unglaubwürdigkeit zusammen, die allen Berichten aus den Lagern innewohnt“ (908).

Daher sind die Berichte der Überlebenden von Konzentrations- und Vernichtungslagern für Arendt „von auffallender Monotonie“, denn „je echter diese Zeugnisse sind, desto kommunikationsloser sind sie, desto klagloser berichten sie, was sich menschlicher Fassungskraft und menschlicher Erfahrung entzieht.“ Mehr noch, die Ungeheuerlichkeit der begangenen Untaten „schafft automatisch eine Garantie dafür, dass den Mördern, die mit Lügen ihre Unschuld beteuern, eher Glauben geschenkt wird als den Opfern, deren Wahrheit den gesunden Menschenverstand beleidigt“ (908f).

 
Auschwitz

Das eigentliche Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager besteht nun darin, „dass die Insassen, selbst wenn sie zufällig am Leben bleiben, von der Welt der Lebenden wirksamer abgeschnitten sind, als wenn sie gestorben wären, weil der Terror Vergessen erzwingt. Der Mord geschieht also ganz ohne Ansehen der Person; er kommt dem Zerdrücken einer Mücke gleich (…) Es gibt keine Parallele zu dem Leben in den Konzentrationslagern“ (916f).

Der erste entscheidende Schritt ist die Tötung der juristischen Person, denn das Konzentrationslager steht immer außerhalb des normalen Strafvollzug, weil „die Insassen niemals `zur Ahndung von strafbaren oder sonst verwerflichen Taten´ eingeliefert werden“ (922).

Neben politischen Gefangenen und normalen Kriminellen fügte sich in Deutschland wie in Russland „ein drittes Element, das bald die Majorität aller Insassen bilden sollte. Diese größte Gruppe besteht aus Menschen, die überhaupt nichts getan haben, was, sei es in ihrem eigenen Bewusstsein oder im Bewusstsein ihrer Peiniger, in irgendeinem rationalen Zusammenhang mit ihrer Haft steht“ (925).

Dementsprechend waren die Gaskammern auch nicht als Abschreckungs- oder gar als Strafmaßnahme gedacht; sondern sie „waren bestimmt für Juden oder Zigeuner oder Polen `überhaupt´, und sie dienten letztlich dem Beweis, dass Menschen überhaupt überflüssig sind“ (926).

 
Auschwitz

Der nächste entscheidende Schritt in den Lagern ist die Ermordung der moralischen Person. „Dies geschieht wesentlich dadurch, dass zum ersten Mal in der Geschichte Märtyrertum unmöglich gemacht worden ist“ (929). In anderen Momenten hatte es die Möglichkeit gegeben, „sich auf das Gewissen zu berufen und seinen unsichtbaren Trost, dass es immerhin noch besser war, als Opfer zu sterben, denn als Beamter des Sterbens zu leben.“

Diesen individualistischen Ausweg der moralischen Person haben die totalitären Regierungen dadurch abgeschnitten, dass sie die Entscheidung des Gewissens selbst absolut fragwürdig und zweideutig gemacht haben. Die Alternative ist hier nicht mehr zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Mord und Mord. Arendt zitiert hier das Beispiel von der Frau in Griechenland, das Camus in einem Vortrag erwähnte hatte. Die Nazis hatten ihr die Wahl überlassen, welches von ihren drei Kindern getötet werden solle:

„In der Schaffung von Lebensbedingungen, in denen Gewissen schlechthin nicht mehr ausreicht und das Gute unter keinen Umständen mehr getan werden kann, wird die bewusst organisierte Komplizität aller Menschen an den Verbrechen totalitärer Regime auch auf die Opfer ausgedehnt und damit wirklich `total´ gemacht“ (930, unter Verwendung von Albert Camus: Die Krise des Menschen, Vortrag an der Columbia Universität New York, März 1946).

Das eigentlich Grauenhafte der Lager nicht die spontane Vertiertheit – diese trat merklich zurück, nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte –, sondern die absolut kalte, absolut berechnende und systematische Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde, „die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben“ (932f).

 
Dachau

Dass die Zerstörung der Individualität nach Vernichtung der juristischen und Ermordung der moralischen Peron in nahezu allen Fällen gelingt, ist wohl einleuchtend, geht aber am klarsten aus dem Verhalten der Inhaftierten selbst hervor, der Tatsache, „dass die Millionen von Menschen sich widerstandslos in den Gastod haben abkommandiert lassen“ (934).

Die Zerstörung der Individualität ist identisch mit „der Ertötung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen nicht erklärbar ist. Was danach übrig bleibt, sind jene unheimlichen, weil mit wirklichen, menschlichen Gesichtern ausgestatteten Marionetten, die sich alle benehmen wie der Pawlowsche Hund, die alle bis in den Tod vollkommen zuverlässig reagieren und nur reagieren. Das ist der größte Triumpf des Systems“ (935).

Die Rolle der Lager im Totalitarismus wird aber auch deutlich, wenn man dessen Totalitätsanspruch wirklich ernst nimmt und von der Prämisse ausgeht, dass totale Herrschaft in diesem Stadium eben keine Utopie mehr ist: „Die Unzweckmäßigkeit der Lager, ihre zynisch zugestandene Zweckwidrigkeit, ist nur scheinbar. In Wahrheit dienen sie effektiver der Aufrechterhaltung der Macht des Regimes als jede andere seiner Institutionen. Ohne die Lager, ohne die unbestimmte Angst vor ihnen und ohne die sehr bestimmte Erziehung zu totaler Herrschaft, die nirgendwo sonst in ihren radikalsten Möglichkeiten ausprobiert werden könnte, kann eine totale Herrschaft weder ihr Kerntruppen fanatisieren noch ein ganzes Volk in kompletter Apathie erhalten. Herrscher wie Beherrschte würden nur zu schnell wieder in `bürgerlichen Schlendrian´ anheimfallen, kurz, sie würden sich in jener Richtung entwickeln, die alle vom gesunden Menschenverstand beratenen Beobachter so sehr vorauszusagen liebten“ (936).

Es geht dem Totalitarismus also nicht darum, „nur“ ein despotisches Regime über Menschen zu errichten, sondern ein System, durch das Menschen überflüssig gemacht werden. „Totale Macht ist nur zu leisten und zu gewährleisten, wenn es auf nichts anderes mehr ankommt als auf absolut kontrollierbare Reaktionsbereitschaft, auf restlos aller Spontaneität beraubte Marionetten. Menschen sind, gerade weil sie so mächtig sind, vollkommen nur dann zu beherrschen, wenn sie Exemplare der tierischen Spezies Menschen geworden sind“ (937).

Konzentrations- und Vernichtungslager

Während die totale Herrschaft also einerseits „alle Sinnzusammenhänge zerstört, mit denen wir normalerweise rechnen und in denen wir normalerweise handeln, errichtet sie andererseits eine Art Suprasinn, durch den in absoluter und von uns niemals erwarteter Stimmigkeit jede, auch die absurdeste Handlung und Institution ihren `Sinn´ empfängt.“ Über die Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel zur Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben.

Hierbei zeigt sich für Arendt nachträglich, dass die Ideologien des 19. Jahrhunderts und die kuriosen `Weltanschauungen´ des wissenschaftlichen Aberglaubens und der Halbbildung nur so lange harmlos sind, als niemand im Ernst an sie glaubt. Sobald ihr Anspruch auf absolute und totale Geltung erst genommen wird, „entwickeln sie sich zu logischen Systemen, in denen nun jegliches zwangsläufig folgt, weil eine Prämisse axiomatisch angenommen ist“ (939).

In diesem bekannten Wunsch, ein eindeutiges Weltbild, eine in sich stimmige Weltanschauung zu haben, der aus der Erfahrungsunfähigkeit der modernen Massen stammt und der eigentliche Motor aller Ideologien ist, „liegt bereits jene Verachtung für Wirklichkeit und Tatsächlichkeit in ihrer unendlich variierenden und nie einheitlich zu fassenden reinen Gegebenheit, die eines der hervorstechenden Merkmale der totalitären fiktiven Welt bildet“ (939).

In dem Bestreben, den Beweis dafür zu erbringen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft schließlich entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. „Als das Unmögliche möglich wurde, stellte sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verziehen, kein Gesetz bestrafen. 

So wie die Opfer in den Fabriken zur Herstellung von Leichen und den Höhlen des Vergessens nicht mehr `Menschen´ sind in den Augen ihrer Peiniger, so sind diese neuesten Verbrecher selbst jenseits dessen, womit jeder von uns bereit sein muss, sich im Bewusstsein der Sündhaftigkeit des Menschen zu solidarisieren“ (941).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Karl Marx und die revolutionäre Prophezeiung

In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1951) setzt sich Albert Camus mit den Ideologien auseinander, die nach innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört selbstverständlich auch Karl Marx und sein utopischer Messianismus, der letztlich nicht anderes ist, als eine bürgerliche Prophezeiung, die ihren Ursprung im Fortschrittsgedanken, im Wissenschaftsverständnis und der Kultur der Technik und der Produktion hat – also in den bürgerlichen Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben.

Karl Marx (1818 - 1883)
Gleichwohl ist Marxens Prophezeiung nicht nur bürgerlich, sondern in ihrem Prinzip auch revolutionär: „Da die ganze menschliche Wirklichkeit in den Produktionsverhältnissen ihren Ursprung hat, ist das geschichtliche Werden revolutionär, weil die Volkswirtschaft es auch ist.“

Das Schema ist bekannt: Die gesamte Wirklichkeit ist ein unendliches Werden, „unterbrochen vom fruchtbaren Stoß der Gegenkräfte, die jedes Mal in einer höheren Synthese gelöst werden, welche ihrerseits das Entgegengesetzte hervorruft und aufs Neue die Geschichte vorrücken lässt.“ Im Gegensatz zu Hegel wird die Dialektik also nicht unter dem Gesichtspunkt des Geistes, sondern unter demjenigen der Produktion und der Arbeit betrachtet. Die Originalität von Marx besteht daher „in der Behauptung, dass die Geschichte zu gleicher Zeit Dialektik und Wirtschaft ist.

Die historische Aufgabe der kapitalistischen Wirtschaft besteht nach Marx darin, die Bedingungen einer höheren Produktionsweise vorzubereiten. „Diese Produktionsweise ist nicht an sich revolutionär, sie ist nur die Krönung der Revolution.“

Kapitalistische Produktionsweise

Das Ende der Geschichte fällt dann mit einer Apokalypse zusammen: Die unvermeidliche Niederlage des Privatkapitalismus am Ende der Geschichte führt in eine Art Staatskapitalismus, der sich in den Dienst der Gemeinschaft stellt, „damit eine Gesellschaft entsteht, in der Kapital und Arbeit, künftig das Gleiche, mit der gleichen Bewegung Überfluss und Gerechtigkeit hervorbringen werden.“

Camus beschreibt hier den „unglaublichen Ehrgeiz des Marxismus“, „seine maßlosen Vorhersagen“, um zu verstehen, dass eine solche Hoffnung dazu zwingt, konkrete Probleme der jetzt lebenden Menschen zu vernachlässigen, weil sie zweitrangig erscheinen.

Denn jeder Sozialismus ist utopisch, „allen voran der wissenschaftliche Die Utopie ersetzt Gott durch die Zukunft. Sie identifiziert die Zukunft mit der Moral, der einzige Wert ist der, der dieser Zukunft dient.“ So kommt es, dass die Utopie immer autoritär und mit Zwangsausübung verbunden sein wird: „Der Messianismus muss gegen die Opfer aufgebaut werden.“

Romantik und klassenlose Gesellschaft
Mit blinder Romantik prophezeit Marx die klassenlose Gesellschaft und die Lösung des Geheimnisses der Geschichte. „Prophezeiungen können jedoch, sobald sie die lebendige Hoffnung von Millionen von Menschen wiedergeben, nicht ungestraft ohne Schlusspunkt bleiben. Es kommt eine Zeit, wo die Enttäuschung die geduldige Hoffnung in Wut verwandelt und wo das gleiche Ziel, das mit wütendem Eigensinn bejaht und noch unerbittlicher verlangt wird, zur Suche nach anderen Mitteln zwingt.“

Noch 1917 hatte Rosa Luxemburg verkündet: „Die Revolution wird sich morgen mit Getöse in ihrer ganzen Größe aufrichten und zu eurem Schrecken mit allen Trompeten verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein.“ Es kam bekanntlich anders. So muss Karl Liebknecht zugeben: „Die Zeit war nicht erfüllt.“ „Aber er sagt auch, und dabei erfassen wir, wie eine Niederlage den besiegten Glauben bis zur religiösen Verzückung aufpeitschen kann: `Beim Krachen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, dessen Grollen sich schon nähert, werden die eingeschlafenen Truppen der Proletarier aufwachen wie beim Fanfarenton des Jüngsten Gerichts, und die Leichname der umgebrachten Kämpfer werden auferstehen und Rechenschaft verlangen von den Fluchbeladenen.´“

Allein die russische Revolution bleibt übrig. Aber die Revolution darf sich nicht auf die Bauernklasse stützen, sondern auf die Arbeiterklasse. „Diese Vereinfachung sollte die Kulaken teuer zu stehen kommen, die mehr als fünf Millionen geschichtlicher Ausnahmen darstellten und alsbald durch den Tod oder die Deportation in die Regel wieder eingefügt wurden.“

Propagandaplakat für die Enteignung der Kulaken

So entfernte sich das Ende der Geschichte noch mehr. „Der Glaube ist unverletzt, aber er biegt sich unter einer riesigen Menge von Problemen und Entdeckungen, die der Marxismus nicht vorausgesehen hatte. Die neue Kirche steht aufs Neue vor Galilei: Um ihren Glauben zu bewahren, wird sie die Sonne leugnen und den freien Menschen demütigen.“

Aber auch das Proletariat hat nicht gehalten, was Marx sich von ihm versprochen hatte. Die Gewerkschaftsbewegung erreichte auf dem Wege der Reformen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Erhöhung des Lebensstandards. Mit Nachdruck weist Camus aber auch darauf hin, dass die „wirkungsvollste revolutionäre oder gewerkschaftliche Aktion immer die Angelegenheit von Arbeitereliten gewesen ist, die der Hunger nicht auspumpte“ – eine Beobachtung, die auch heute noch zutrifft.

Natürlich sind wir immer noch weit von einer sozial gerechten Welt entfernt, aber die elenden Lebensbedingungen der Textilarbeiter haben sich eben nicht, wie Marx prophezeite, auch noch verschlimmert. Marxens Irrtum bestand in dem Glauben, „das schwärzeste Elend, insbesondere das industrielle Elend, könne zur politischen Reife führen.“

Arbeiter in der DDR
Das Gegenteil ist zu beobachten: Immer mehr wurde die Revolution einerseits Bürokraten und Doktrinären ausgeliefert, andererseits musste sie sich auf geschwächte und richtungslosen Massen stützen. Dabei hat der industrielle Sozialismus - und auch nicht der spätere real existierende Sozialismus in der DDR – nichts Wesentliches für die Stellung des Arbeiters getan, denn er hat am Prinzip von Produktion und Arbeit nicht gerüttelt, sondern sie im Gegenteil sogar verherrlicht. Er konnte dem Arbeiter lediglich eine historische Rechtfertigung anbieten, die vergleichbar ist mit der Verheißung himmlischer Freuden für jemanden, der in den Bergwerken Sibiriens stirbt.

Statt den Menschen zum Schöpfer seines eigenen Schicksals zu erheben, hat der autoritäre Sozialismus „diese lebendige Freiheit zugunsten einer idealen, kommenden Freiheit in Beschlag genommen. Dadurch hat er, ob er es wollte oder nicht, die Versklavung verstärkt, die mit dem Fabrik-Kapitalismus begonnen hatte. So bestand Camus zufolge „die geschichtliche Mission des Proletariats während hundertfünfzig Jahren, ausgenommen im Paris der Kommune, dem letzten Zufluchtsort der revoltierenden Revolution, darin, verraten zu werden.“

So musste die revolutionäre Prophezeiung mit wissenschaftlichem Anspruch gerade deshalb scheitern, weil sie eben nicht wissenschaftlich war. Marx wollte gleichzeitig deterministisch und prophetisch sein, dialektisch und dogmatisch. Wenn aber die Theorie allein durch die Ökonomie determiniert ist, „kann sie die Vergangenheit der Produktion beschreiben, aber nicht ihre Zukunft, die nur wahrscheinlich bleibt. Aufgabe des historischen Materialismus kann nur die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft sein, über die zukünftige Gesellschaft kann er, ohne dem wissenschaftlichen Geist untreu zu werden, nur Vermutungen anstellen.“

Der Marxismus ist also nicht wissenschaftlich, sondern bestenfalls wissenschaftsgläubig. So ist es für Camus auch nicht verwunderlich, „dass man, um den Marxismus wissenschaftlich zu machen und diese im Zeitalter der Wissenschaft nützliche Fiktion aufrechtzuerhalten, mit dem Terror vorgehen musste.“

"Vernunft" im Dienst der Prophezeiung:
Die Inquisition
Das Prinzip, die wissenschaftliche Vernunft in den Dienst einer Prophezeiung zu stellen ist überdies nicht neu. Von ihm wurden die Kirchen geleitet, „wenn sie die wahre Vernunft einem toten Glauben und die Freiheit des Geistes der Erhaltung der zeitlichen Macht unterstellen wollten.“

Am Schluss bleibt von Marxens Prophezeiung nur die Behauptung übrig, die Fristen seien eben etwas länger „und man müsse erwarten, dass eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige. Mit anderen Worten sind wir im Fegefeuer, und man verspricht uns, es gäbe keine Hölle.“
   
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 259ff