Das Buch „Wie man eine Bildungsnation an
die Wand fährt“ von Josef Kraus ist nach eigenen Angaben eine „eine – bisweilen
grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik
und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben.“, denn aus den seit den
60er Jahren vollmundig angekündigten Reformen sind schlechthin Deformationen
geworden – ob diese Bildung nun einem „radikalen Egalisierungswahn“ unterwarfen
oder später den „Neugründungsmythen deutscher Bildungspolitik“, die unter den
Namen „Pisa“ und „Bologna“ bekannt wurden.
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Josef Kraus (*1949): Lehrer, Psychologe und von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands |
Während diejenigen, die mit der
Pisa-Flagge durch die Bildungslandschaften tapsen, weiterhin – und scheinbar völlig
unbeeindruckt von gegenteiligen Ergebnissen der Bildungsforschung – die Einheits-
und Gesamtschule anpreisen und zugleich das „gegliederte, begabungs- und
leistungsorientierte Schulwesen“ auf den Müllhaufen der Geschichte verdammen
wollen, so verkündigen diejenigen, die im Namen von „Bologna“ unterwegs sind,
dass nun – mit Bachelor, Master, Workloads und Credit Points - endlich
Effizienz, Mobilität, Modularisierung, Kompatibilität, Praxistauglichkeit,
»Employability« Einzug in das Bildungssystem Eingang gefunden hat.
Für Kraus ist es eine wirklich
verblüffende Situation: „Da können Bildungsexperimente, die immer zugleich
Experimente an Schutzbefohlenen sind, noch so völlig scheitern, sie werden
dennoch durchgezogen oder – wie etwa im Fall der Gesamtschule mit ihrer
durchschlagenden Erfolglosigkeit – in neuem Gewand unter dem Etikett `Gemeinschaftsschule´
präsentiert. Damit und mit kuriosen Lehrplanreformen kann man ein Schulwesen
innerhalb (…) von fünf Jahren an die Wand fahren (…) Hier scheint zu gelten,
was Peter Sloterdijk feststellte: `Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die
Flucht zu schlagen.´“
Für Kraus sind es vor allem fünf
Fallgruben, in die die „bildungspolitischen Schlaumeier“ stets hineintapsen:
Eine dieser Fallen ist die
Egalitäts-Falle. „Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte
und Inhalte gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass
es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine
verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.“
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Gleichheit oder Gleichmacherei?
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Eine zweite Falle sei die Hybris-Falle,
also der „aus dem Marxismus (`Der neue Mensch wird gemacht´) und dem
Behaviorismus (`Der neue Mensch ist konditionierbar!´) abgeleitete Wahn, jeder
könne total gesteuert und zu allem `begabt´ werden.“
Eine dritte Falle wäre die „Falle der
Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeits-pädagogik. Diese tut – angestrengt und
sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun
müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilen.“
Eine vierte Falle schließlich ist die
Quoten-Falle. „Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten
möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen und es dürften möglichst wenige oder
gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn
alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!“
Schließlich die fünfte, die Beschleunigungs-Falle.
„Das ist die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in
immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser
gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und
Akademikerquote kommen.“
Natürlich sind diese Fallgruben je nach
Bundesland unterschiedlich stark ausgeprägt, aber in jedem Fall drohen durch
diese falschen Maßstäbe „Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft,
natürliche Reifung und Qualität zu versinken.“ Und dennoch würde munter „drauflos
re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne
Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dass die
allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen
sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt. Die Kinder aus `gutem´
Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun
kompensiert, die Kinder aus `bildungsfernen Elternhäusern aber bleiben in
ihren `restringierten Codes´, in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert.“
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So richtig gut sieht der Turm fon Piesa auch nicht aus ... |
Die Folge ist eine unfruchtbare und
verödete Bildungslandschaft, „weil ihre Grundlage erodiert. Die misslungenen,
aber offiziell dennoch für erfolgreich erklärten Reformen sind wie ein Eingriff
in die Ökologie von Bildung mit all ihren Folgen bis hin zum Verlust an
Artenvielfalt, zum Beispiel Schularten-Vielfalt. Man könnte auch sagen: Diese
Bildungsnation wird von den einen willentlich, von anderen naiverweise an die
Wand gefahren – brav assistiert von den meisten Parteien, von den meisten
Bildungsforschern, von moralisierenden Schwätzern, von diversen Stiftungen
sowie von manch karriereorientiertem Lehrer und Schulleiter.“
Solch eine Entwicklung fällt nicht vom
Himmel. Hinter der dargestellten Entwicklung und ihren Fallgruben erkennt Kraus
verschiedene Grundhaltungen – er nennt sie „mentale und intellektuelle
Verirrungen“, die sich fatal auf die Bildungspolitik auswirken:
Eine solche Verirrung ist
beispielsweise: „Deutsche sind gerne Gesinnungs-ethiker. Gleichheit,
Gerechtigkeit, Kuscheligkeit – so lauten die pädagogischen Glaubens- und
Gesinnungsbekenntnisse. Immer und immer wieder werden sie mantramäßig
vorgebetet, ohne Rücksicht auf die Folgen solcher Haltungen.“
Wie Max Weber in seiner Unterscheidung
zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik herausgearbeitet hat, fühle sich der
Gesinnungs-ethiker nur dafür verantwortlich, „dass die Flamme der reinen
Gesinnung nicht erlösche. Der Verantwortungsethiker dagegen bedenke stets die
Motive und Ergebnisse seines Handelns.“ So gehe es vielen in der deutschen
Bildungsdebatte nicht um „eine rationale Verantwortungsethik, nicht um das qua
Bildung und Erziehung behutsam Machbare, sondern um die reine Gesinnung.
Jedenfalls gehören die Deutschen zu den Weltmeistern der `political correctness´
und der `educational correctness´ mit ihren Denkverboten, Denkgeboten, Tabus,
mit ihren Euphemismen, mit ihren Hui- und Pfui-Begriffen gerade in der
Pädagogik.“
Eine weitere Verirrung ist für Kraus das
egalitäre Denken, wenngleich dieses nicht einer gewissen Paradoxie entbehrt: „Dieselben
Leute, die ständig von Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit reden,
betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung
von Bildung. Alles an `Bildung´ soll messbar, nützlich, verwertbar sein. Der
Mensch wird zum `Humankapital´ und damit verdinglicht.“
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"Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört ..." |
Schon 1961 hatte die OECD, „die ja auch
für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier
festgehalten: `Heute versteht es sich von selbst, dass auch das
Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig
ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das
Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und
Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen
Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der
Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer
vielleicht sogar überlegen – ist.´“
Ein weiterer Kardinalfehler des
aktuellen Diskurses über Bildung sei schließlich deren „Infantilisierung durch
Psychologisierung“ – wobei das, was in die Pädagogik hereingenommen wird, „triviale
Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie“ ist. „Alle
Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter
Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren
Bedürfnissen her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts
zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert
werden. Dass man Kinder damit in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart
einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen
ein bisschen etwas zuzumuten, weil man ihnen ja eigentlich mehr zutrauen kann,
werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den `Helikoptereltern´,
rundum `gepampert´.“
Josef Kraus geht es mit diesem Buch „um
Diagnosen und Analysen. Für abgehobene Visionen, die nicht schulreif sind und
es nicht werden können, bin ich nicht zu haben. Auch deshalb nicht, weil
Visionen mit ihren Perfektionismusvorstellungen etwas Destruktives an sich
haben; sie verhindern nämlich, dass das real (!) Beste aus einer Situation
gemacht wird.“
Dass sich Kraus sich da und dort „einer
durchaus kräftigen Rhetorik“ bedient, hat seinen Grund darin, dass es ihm auch
darum geht, „Misstrauen zu säen gegenüber vermeintlichen bildungspolitischen
Göttern. Die wollen ihr Ding drehen, und sie scheren sich nicht um den Willen
des Volkes. Sie mögen Runde Tische einbestellen. Aber es ist oft nur eine
Inszenierung, die nach Demokratie ausschauen soll (…) Das muss man sich nicht
gefallen lassen.“
Dafür braucht es Mut, wie schon vor
zweieinhalb Jahrtausenden „Perikles gesagt hat: `Zum Glück brauchst du
Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.´“
Zitate aus: Josef Kraus: Wie
man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München
2017 (Herbig)