Donnerstag, 14. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 3

Fortsetzung vom 07.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt.

Der entscheidende Impulsgeber für den Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527). 

Nun hat sich der „Fürstenstaat“ vor allem seit dem Ende des 2. Weltkrieges zunehmend in einen Fürsorgestaat verwandelt, „der den Menschen vor sich selbst und den Unwägbarkeiten des Lebens zu schützen sucht. Aus dem Krieger im Dienst der Staatsräson wurde ein Homunculus, ein Staatsdiener im Räderwerk des Absurden, der Bürokratie wie von Franz Kafka beschrieben. (…) Der technisch-rationale Staat erschafft eine verwaltete Welt ohne Jenseitsbezug, vermag jedoch die Sinnfrage nicht zu beantworten – jenseits eines bloßen Verfassungspatriotismus. Der Nationalismus füllt teilweise diese Lücke, ist aber ein schwer zu bändigendes Tier.“

 

In diesem Kontext sieht Lüders nun die Rückkehr der Moral in die Politik. „Sie bietet Halt in unsicheren Zeiten. Der Philosoph und Medienwissenschaftler Norbert Bolz datiert diese Rückkehr auf den Ersten Weltkrieg: Mit dessen Ende `setzt ein politischer Moralismus ein, der … radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Nun gibt es wieder gerechte Kriege und ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das impliziert auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Das gilt bis zur Gegenwart.´

 

Norbert Bolz (* 1953)

Unter der Maßgabe von Vernunft gebietet die `Staatsräson´, keine entfesselten (Welt-)Kriege zu führen. Sieht sich eine imperiale Macht veranlasst, es dennoch zu tun, geht es nicht länger, wie in früheren Zeiten, um Beutezüge oder regional begrenze Scharmützel, auch nicht um die Geburt einer Nation. Sondern um Vorherrschaft oder wenigstens doch einen bevorzugten Platz im globalen Machtgefüge. Die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung hinter einem Banner zu versammeln und zu einen, verlangt nach einer klaren Unterteilung der Welt in Gut und Böse.“

 

Dies wiederum ebnet der Moral den Weg in die Politik: “Sie dient der Legitimation staatlichen Handelns. Auf Kosten von Realpolitik und Pragmatismus, zu Lasten nationaler Interessen. Die (vermeintliche) Moral gebietet den Cut mit Russland. Der allerdings führt in eine politische Sackgasse.” Die Staatsräson dagegen schreie förmlich nach Diplomatie. “Die aber gilt geradezu als anrüchig, unter Berufung auf `Werte´: Denn mit den Bösen reden die Guten nicht. Diese, der eigenen Seligsprechung dienenden Werte allerdings sind wenig mehr als Camouflage. Vor allem geht es um Macht und Einfluss in der Weltpolitik.” Nach außen aber gehe es um eine Wehrhaftigkeit von Demokraten im Kampf gegen den Totalitarismus!

 

“Was aber die Politik als Tatsache oder moralisches Gebot behandelt, sind immer Konstruktionen von interessierter Seite. Deswegen hat Max Weber Augenmaß und Verantwortung gefordert. Fehlen sie auf Führungsebene, ist es um deren Urteilskraft schlecht bestellt. Ein guter Politiker handelt demzufolge sachorientiert und problemlösend, nicht moralisch. In Deutschland ist das mittlerweile die Ausnahme: `Die Geschichte der Bundesrepublik war bis zur Jahrtausendwende von einem verantwortungsbewussten Reformismus geprägt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Nicht nur die Protestbewegungen, sondern auch öffentlich-rechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich´, so Norbert Bolz. Mehr noch: `Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.´”

Fortsetzung folgt

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023 

Donnerstag, 7. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 2

Fortsetzung vom 29.02.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders.

“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”

In einem ethischen Kontext bezeichnen Werte oder Wertvorstellungen moralische Qualitäten, sittliche Ideale, die dem eigenen Handeln idealerweise zugrunde liegen und Ausdruck von Charaktereigenschaften sind. “Ein glaubhaft werteorientiertes Handeln ist nicht allein verhaftet im Hier und Jetzt, sondern strebt nach Transzendenz und stellt das Gemeinwohl über die Interessen Einzelner. Obwohl Werte und Wertvorstellungen seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten rhetorisch und propagandistisch missbraucht werden, sind sie doch ein hohes Gut und keineswegs geringzuschätzen. Im Gegenteil: Wer die Frage nach Moral und Ethik stellt, fragt gleichzeitig nach dem richtigen Leben.”

Damit eng verbunden ist – vor allem seit Platon – die Frage nach gerechter Herrschaft. “Wie kann das Gute, ursprünglich das Göttliche, Eingang finden in politisches Handeln, in die Regierungsführung? Hier die richtigen Antworten zu finden, waren ganze Generationen von Staatsphilosophen, Kirchenvertretern und Denkern bemüht, seit der griechischen Antike, seit Sokrates.”

 

Im Mittelalter waren Politik, Religion und Moral miteinander verschmolzen. Mit Beginn der Neuzeit, im Zuge der Renaissance vollzog sich in Europa sukzessive die Trennung der Politik von der Moral, die die Voraussetzung war für die Konstruktion des modernen, von der Religion sich emanzipierenden Staates, der schließlich die Staatsräson über die Tugend und die Moral stellte.

 

“Der entscheidende Impulsgeber für diesen Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527). Nachgerade traumatisiert von der Zersplitterung Italiens in zahlreiche Kleinststaaten, beschwor er ein vereintes Land unter Führung des von ihm idealtypisch beschriebenen `Fürsten´, italienisch `il Principe´. Das gleichnamige Buch, 1513 verfasst, gilt als das erste Werk politischer Philosophie. Machiavelli beschreibt darin die Grundsätze der Staatsräson, frei von moralischen und religiösen Vorstellungen. 

 

Machiavelli (1469 - 1527)

Anders als im christlichen Denken des Mittelalters, das von einem göttlichen Heilsplan ausging, erwuchsen in der Renaissance die geistigen Grundlagen für Weltanschauungen diesseits von Gott, hielt das Säkulare Einzug in Staat und Gesellschaft. Für Machiavelli, obgleich er durchaus den Nutzen der Religion für den Herrscher erkannte, folgt die Politik ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Das Primat des `Fürsten´ seien der Machtgewinn und der Machterhalt.

 

Eine moralische Haltung vermöge in einem Umfeld aus Habgier, Hinterlist und Heuchelei nur von Nachteil zu sein. Der Fürst, ein autokratischer Herrscher, wisse sich dabei nur einem Ziel verpflichtet: der Sicherung und dem Erhalt des Staates.”

 

Die Trennung der Politik von der Moral sei Machiavelli zufolge jedoch kein Plädoyer für Sittenverfall. Politisches Handeln ist gleichwohl nur dann sinnvoll, wenn die eingesetzten Mittel dem Staat oder den Staaten zum Vorteil gereichen. „Machiavellismus ist heute ein negativ besetzter Begriff, der für eine skrupellose Machtpolitik steht (und im Bereich der Psychologie für psychopathische Charakterzüge narzisstisch veranlagter Menschen). Diese Wahrnehmung hat sich jedoch erst lange nach Machiavellis Tod durchgesetzt und wird ihm nur teilweise gerecht.“

(Fortsetzung folgt)

 

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

 

 

Donnerstag, 29. Februar 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 1

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. Insbesondere der Krieg gegen die Ukraine ist geeignet, das Feld von Moral und Politik in all seiner Komplexität darzustellen.

 

Um eines von Anfang an klarzustellen: Der russische Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig, falsch, zerstörerisch und menschenverachtend! Die Antwort “des Westens” aber ist einzig und allein ein vollständiger Bruch mit Russland “auf allen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und letztendlich auch kulturell.” Nur: Nach über zwei Jahren Krieg haben die westliche Politik der militärischen Unterstützung der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland weltweit zu schwerwiegenden Folgen geführt, ohne jedoch den Krieg zu beenden. 



Aber es geht, Lüders zufolge, nicht nur darum, ob der vollständige Bruch mit Russland unrealistisch und politisch fragwürdig ist, sondern auch darum, dass er mit Symbolik überladen ist: “Das absolute Gute, verkörpert vom Westen, sucht sich vom absolut Bösen zu befreien. Moralische Selbsterhöhung geht leider in den meisten Fällen einher mit Realitätsverleugnung und Heuchelei.” 

 

Denn auch das Beispiel des Überfalls auf die Ukraine macht deutlich, dass “die Tugendhaften nicht etwa Bannerträger einer universellen humanistischen Gesinnung wären. Vielmehr verkörpern sie ein überaus selektives Gerechtigkeitsempfinden. Genau deswegen ist die Politisierung von Moral und die Moralisierung von Politik auch so fragwürdig. In beiden Fällen handelt es sich um eine moderne, säkulare Form des Sakralen, in der nicht Papst und Antichrist miteinander ringen, wohl aber Freiheit und Totalitarismus.”

 

So fragt Lüders – und legt damit den Finger in die Wunde selbstgerechter Moralität -, warum diejenigen, die vehement Sanktionen gegen Russland einfordern, niemals auch vergleichbare Boykottmaßnahmen gegenüber den USA erhoben haben. “Das hätte sich doch angeboten, im Vietnam- oder im Irak-Krieg beispielsweise. Beide waren nicht weniger völkerrechtswidrig und skrupellos wie der jetzige in der Ukraine. Natürlich gibt es viele gute Gründe, den russischen Präsidenten anzuprangern. Warum aber greifen bei ihm offenbar andere Maßstäbe als bei westlichen Akteuren? Wieso suchen westliche Entscheider Wladimir Putin vor einem internationalen Strafgerichtshof anzuklagen, nicht aber George W. Bush oder Tony Blair, die beiden Drahtzieher des auf Lügen und Manipulationen fußenden Irak-Krieges?” Starke Thesen!

 

Das Problem ist jedoch, dass das moralische Empfinden sehr schnell dort endet, wo es eigenen Interessen weniger dienlich ist. Dagegen fordert Lüders, „ganzheitlich zu denken, auch andere Perspektiven einzunehmen oder gar Fakten in Erinnerung zu rufen“. Das sei kein Manko, sondern „die Voraussetzung, um globale Probleme pragmatisch lösen und vom Ende her denken zu können, anstatt sie zu ideologisieren und damit zu verschärfen. Es ist nicht zuletzt eine propagandistische Leistung (…) Die eigene, die westliche Politik gilt dementsprechend als gut und werteorientiert, nichtwestliche als böse und demokratiefeindlich.

 

“Kurzum: Die Welt läuft rund, solange `wir´ sie dominieren. Die Amerikaner nennen das, wie erwähnt, eine `regelbasierte Ordnung´ und meinen damit die Fortschreibung ihrer Vorherrschaft. (…) In der hiesigen Politik und den Medien ist stets die Rede vom `russisch geführten Angriffskrieg in der Ukraine´. Das ist sachlich nicht falsch und dennoch propagandistisch unterlegt. Oder hat man je vom US -geführten Angriffskrieg im Irak gehört? Dem NATO-geführten Angriffskrieg in Serbien (1999), in Afghanistan (2001–2021)?” Ist der eigentliche Skandal vielleicht, dass Russland nun auch versucht, seine imperialen Ansprüche mit militärischen Mitteln zu erzwingen – und “damit ebenjenes `Geschäftsmodell´” kopiert, “auf das der Westen ein Monopol zu haben glaubt. Namentlich die USA”?

 

“Warum gilt, vor diesem Hintergrund, der zweifelsohne verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine als unvergleichlich verabscheuungswürdig, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, während sich der amerikanische Imperialismus bisweilen höchster Wertschätzung erfreut?”, fragt Lüders. Dabei dient die Gegenüberstellung amerikanischer und russischer Politik keinesfals der “Exkulpierung Putins und keineswegs der Relativierung jenes Leids, das heute die Ukrainer erfahren wie gestern die Iraker.” Man könne aber das eigentlich Selbstverständliche nicht deutlich und oft genug hervorheben: Politik und Moral sind zweierlei. Wer also das eigene politische Handeln unter Verweis auf höhere Werte zu legitimieren sucht, ist in der Regel kein Humanist, sondern lediglich ein Gesinnungsethiker. Der Moral sagt und die Durchsetzung eigener hegemonialer Interessen meint.”

 

“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”


(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023


Sonntag, 14. Januar 2024

Josef Kraus und die Fallgruben und Verirrungen der Bildungspolitik

Das Buch „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ von Josef Kraus ist nach eigenen Angaben eine „eine – bisweilen grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben.“, denn aus den seit den 60er Jahren vollmundig angekündigten Reformen sind schlechthin Deformationen geworden – ob diese Bildung nun einem „radikalen Egalisierungswahn“ unterwarfen oder später den „Neugründungsmythen deutscher Bildungspolitik“, die unter den Namen „Pisa“ und „Bologna“ bekannt wurden.

Josef Kraus (*1949): Lehrer, Psychologe und von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Während diejenigen, die mit der Pisa-Flagge durch die Bildungslandschaften tapsen, weiterhin – und scheinbar völlig unbeeindruckt von gegenteiligen Ergebnissen der Bildungsforschung – die Einheits- und Gesamtschule anpreisen und zugleich das „gegliederte, begabungs- und leistungsorientierte Schulwesen“ auf den Müllhaufen der Geschichte verdammen wollen, so verkündigen diejenigen, die im Namen von „Bologna“ unterwegs sind, dass nun – mit Bachelor, Master, Workloads und Credit Points - endlich Effizienz, Mobilität, Modularisierung, Kompatibilität, Praxistauglichkeit, »Employability« Einzug in das Bildungssystem Eingang gefunden hat.

 

Für Kraus ist es eine wirklich verblüffende Situation: „Da können Bildungsexperimente, die immer zugleich Experimente an Schutzbefohlenen sind, noch so völlig scheitern, sie werden dennoch durchgezogen oder – wie etwa im Fall der Gesamtschule mit ihrer durchschlagenden Erfolglosigkeit – in neuem Gewand unter dem Etikett `Gemeinschaftsschule´ präsentiert. Damit und mit kuriosen Lehrplanreformen kann man ein Schulwesen innerhalb (…) von fünf Jahren an die Wand fahren (…) Hier scheint zu gelten, was Peter Sloterdijk feststellte: `Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die Flucht zu schlagen.´“

 

Für Kraus sind es vor allem fünf Fallgruben, in die die „bildungspolitischen Schlaumeier“ stets hineintapsen:

 

Eine dieser Fallen ist die Egalitäts-Falle. „Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte und Inhalte gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.“ 

 

Gleichheit oder Gleichmacherei?

 

Eine zweite Falle sei die Hybris-Falle, also der „aus dem Marxismus (`Der neue Mensch wird gemacht´) und dem Behaviorismus (`Der neue Mensch ist konditionierbar!´) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem `begabt´ werden.“

 

Eine dritte Falle wäre die „Falle der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeits-pädagogik. Diese tut – angestrengt und sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilen.“ 

 

Eine vierte Falle schließlich ist die Quoten-Falle. „Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen und es dürften möglichst wenige oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!“

 

Schließlich die fünfte, die Beschleunigungs-Falle. „Das ist die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen.“

 

Natürlich sind diese Fallgruben je nach Bundesland unterschiedlich stark ausgeprägt, aber in jedem Fall drohen durch diese falschen Maßstäbe „Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken.“ Und dennoch würde munter „drauflos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt. Die Kinder aus  `gutem´ Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus `bildungsfernen Elternhäusern aber bleiben in ihren `restringierten Codes´, in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert.“ 

 

So richtig gut sieht der Turm fon Piesa auch nicht aus ...

Die Folge ist eine unfruchtbare und verödete Bildungslandschaft, „weil ihre Grundlage erodiert. Die misslungenen, aber offiziell dennoch für erfolgreich erklärten Reformen sind wie ein Eingriff in die Ökologie von Bildung mit all ihren Folgen bis hin zum Verlust an Artenvielfalt, zum Beispiel Schularten-Vielfalt. Man könnte auch sagen: Diese Bildungsnation wird von den einen willentlich, von anderen naiverweise an die Wand gefahren – brav assistiert von den meisten Parteien, von den meisten Bildungsforschern, von moralisierenden Schwätzern, von diversen Stiftungen sowie von manch karriereorientiertem Lehrer und Schulleiter.“

 

Solch eine Entwicklung fällt nicht vom Himmel. Hinter der dargestellten Entwicklung und ihren Fallgruben erkennt Kraus verschiedene Grundhaltungen – er nennt sie „mentale und intellektuelle Verirrungen“, die sich fatal auf die Bildungspolitik auswirken: 

 

Eine solche Verirrung ist beispielsweise: „Deutsche sind gerne Gesinnungs-ethiker. Gleichheit, Gerechtigkeit, Kuscheligkeit – so lauten die pädagogischen Glaubens- und Gesinnungsbekenntnisse. Immer und immer wieder werden sie mantramäßig vorgebetet, ohne Rücksicht auf die Folgen solcher Haltungen.“

 

Wie Max Weber in seiner Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik herausgearbeitet hat, fühle sich der Gesinnungs-ethiker nur dafür verantwortlich, „dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlösche. Der Verantwortungsethiker dagegen bedenke stets die Motive und Ergebnisse seines Handelns.“ So gehe es vielen in der deutschen Bildungsdebatte nicht um „eine rationale Verantwortungsethik, nicht um das qua Bildung und Erziehung behutsam Machbare, sondern um die reine Gesinnung. Jedenfalls gehören die Deutschen zu den Weltmeistern der `political correctness´ und der `educational correctness´ mit ihren Denkverboten, Denkgeboten, Tabus, mit ihren Euphemismen, mit ihren Hui- und Pfui-Begriffen gerade in der Pädagogik.“

 

Eine weitere Verirrung ist für Kraus das egalitäre Denken, wenngleich dieses nicht einer gewissen Paradoxie entbehrt: „Dieselben Leute, die ständig von Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit reden, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an `Bildung´ soll messbar, nützlich, verwertbar sein. Der Mensch wird zum `Humankapital´ und damit verdinglicht.“

 

"Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört ..."

Schon 1961 hatte die OECD, „die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: `Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist.´“

 

Ein weiterer Kardinalfehler des aktuellen Diskurses über Bildung sei schließlich deren „Infantilisierung durch Psychologisierung“ – wobei das, was in die Pädagogik hereingenommen wird, „triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie“ ist. „Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnissen her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man Kinder damit in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, weil man ihnen ja eigentlich mehr zutrauen kann, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den `Helikoptereltern´, rundum `gepampert´.“

 

Josef Kraus geht es mit diesem Buch „um Diagnosen und Analysen. Für abgehobene Visionen, die nicht schulreif sind und es nicht werden können, bin ich nicht zu haben. Auch deshalb nicht, weil Visionen mit ihren Perfektionismusvorstellungen etwas Destruktives an sich haben; sie verhindern nämlich, dass das real (!) Beste aus einer Situation gemacht wird.“

 

Dass sich Kraus sich da und dort „einer durchaus kräftigen Rhetorik“ bedient, hat seinen Grund darin, dass es ihm auch darum geht, „Misstrauen zu säen gegenüber vermeintlichen bildungspolitischen Göttern. Die wollen ihr Ding drehen, und sie scheren sich nicht um den Willen des Volkes. Sie mögen Runde Tische einbestellen. Aber es ist oft nur eine Inszenierung, die nach Demokratie ausschauen soll (…) Das muss man sich nicht gefallen lassen.“

 

Dafür braucht es Mut, wie schon vor zweieinhalb Jahrtausenden „Perikles gesagt hat: `Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.´“

 

Zitate aus: Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München 2017 (Herbig)