Donnerstag, 26. November 2015

Adam Ferguson und die Idee der bürgerlichen Gesellschaft

In dem Maße, in dem sich die ständische Ordnung des Alten Reiches im Laufe des 18. Jahrhunderts verflüchtigte, drängte im 19. Jahrhundert das Bürgertum  - ausdifferenziert in „Bildungsbürgertum“ und „Wirtschaftsbürgertum“ - immer mehr in das Zentrum der Gesellschaft. Das Bürgertum zeigte sich dabei höchst dynamisch, brennend vor Ehrgeiz und beflügelt von Selbstvertrauen. Zwar waren auch zuvor schon vereinzelte Vertreter dieser Schicht in Erscheinung getreten, doch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wuchs ihre Zahl und vor allen ihr Einfluss.

Porträt einer bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert:
Der 
Arzt und Schriftsteller Wolfgang Müller von Königswinter 

In Familie, in Vereinen, an öffentlichen Orten und in Institutionen wurde die bürgerliche Kultur geprägt und weitergegeben. „Bürgerlichkeit“ bedeutete zugleich auch immer den Anspruch auf politische Partizipation, die sich in kommunaler Selbstverwaltung ebenso zeigte wie in der „bürgerlichen“ Revolution von 1848/49.

Gemeinsam verstanden sich Bildungs- und Wirtschaftsbürger als Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft konzipierten bürgerlichen Gesellschaft. „Mit gutem Grund: Schließlich waren sie es, die neben dem Prinzip der individuellen Leistung auch andere Vorstellungen dieses neuen, in den Studierstuben aufklärerisch gesinnter Meisterdenker erdachten Gesellschaftsmodells aufgriffen, für sich annahmen und verbreiteten. Ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt waren die Hauptangriffspunkte. Vordenker war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804). Er forderte, ganz im Geiste der Urväter des Gedankens, eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger, denen der „Ausgang“ aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gelungen war.“

Es war vor allem die anti-adlige und anti-absolutistische Stoßrichtung, die auf ein bürgerliches Echo stieß, denn sie verkündete den „Abschied von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und klerikalem Deutungsmonopol.“

Das Bürgertum setzte dagegen die Vision einer von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane den Einflüssen des mündigen Bürgers unterstand.

Dazu gehörte auch ein neues Verhältnis zur Geschichte, zur eigenen und zur Geschichte der Menschheit insgesamt. „Bislang bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen. Nicht mehr das `Schicksal´ bestimmte in den Augen des Bürgertums seine Gegenwart und Zukunft; allein persönliche Tatkraft machte den Bürger zum Herrn seiner selbst.“

Zu den Mosaiksteinen der bürgerlichen Kultur gehörte stets „eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem Stundenplan, die Betonung von Erziehung und Bildung, eine empathisch-emphatische Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt die Konzeption und weitgehende Realisation eines spezifischen Familienideals.“

Adam Ferguson (1723–1816)
So schreibt der schottische Historiker Adam Ferguson: „Der Mensch ist von Natur aus Glied einer Gemeinschaft. Betrachtet man das Individuum in dieser Eigenschaft, dann scheint es nicht mehr für sich selbst geschaffen zu sein. Es muß auf sein Glück und seine Freiheit verzichten, wo diese dem Wohl der Gesellschaft widersprechen. … Wenn also das öffentliche Wohl Hauptzweck der Individuen ist, so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist: denn in welchem Sinne kann eine Öffentlichkeit irgendein Gut genießen, wenn ihre Glieder, einzeln betrachtet, unglücklich sind?

Allerdings sind die Interessen der Gesellschaft und die ihrer Glieder leicht zu versöhnen. Wenn das Individuum der Öffentlichkeit jede nur mögliche Rücksichtnahme schuldet, so wird es, indem es diese Rücksichtnahme erweist, auch des größten Glücks teilhaftig, dessen es seiner Natur nach fähig ist. Die größte Wohltat, welche die Öffentlichkeit ihrerseits ihren Mitgliedern erweisen kann, besteht darin, sie mit sich verbunden zu halten.

Derjenige Staat ist der glücklichste, der von seinen Untertanen am meisten geliebt wird, und die glücklichsten Menschen sind die, deren Herzen sich für eine Gemeinschaft engagieren, in der sie jeden Antrieb zu Großmut und Eifer finden und einen Spielraum zur Betätigung jedes ihrer Talente und jeder ihrer tugendhaften Anlagen.“

" ... so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist." (Adam Ferguson)

Ähnlich argumentiert der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), der in seinem Bestseller „Die bürgerliche Gesellschaft“ (1851) schrieb: „Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind.“

Sicherlich ist die Vorstellung, dass der eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen sozialen Schicht ausstrahlen würde und dass auf Dauer alle, unabhängig von Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der „bürgerlichen Gesellschaft“ partizipieren sollten sollte, gleichermaßen „großherzig und großspurig“.

Aber es war ein durch und durch optimistisches Programm – ein neues, weit weniger starres Weltbild als das des Ancien Régime, das diese Ideen überwölbte. Aus diesem Ideal, das bis ins Alltagsleben eindrang, erwuchs ein Ensemble, das den Lebensstil einer ganzen Gesellschaftsschicht prägte, einschließlich der deutenden Werte und Vorstellungen - mit anderen Worten: aus diesem Ideal erwuchs eine spezifische „bürgerliche Kultur, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner Bankiers, eines Oldenburger Rechtsanwalts und eines Heidelberger Professors im Innersten zusammenhielt.“


Zitate aus: Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)   -   Weitere Literatur: Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1986

Donnerstag, 19. November 2015

Heinrich Triepel und die heikle Unterscheidung zwischen Hegemonie und Imperium

In seinem Buch „Die ohnmächtige Supermacht“ analysiert Michael Mann die zentralen Fragen der us-amerikanischen Außenpolitik mit Hilfe der Kategorien Hegemonie und Imperium. Hegemonie ist für ihn eine regelgebundene Form der Vorherrschaft – im Unterschied zum Imperium, bei dem die dominierende Macht sich an keinerlei Regeln gebunden fühlt: „Die Amerikaner müssen sich entscheiden, ob sie die Hegemonie wollen und sich dann an die Regeln halten. Doch wenn sie das Empire wollen und damit scheitern, werden sie auch die Hegemonie verlieren. Die Welt würde das wenig kümmern.“


"Die Amerikaner müssen sich entscheiden,
ob sie die Hegemonie oder das Empire wollen!" 

Demgegenüber bezweifeln andere Politologen wie Chalmers Johnson, dass zwischen Imperium und Hegemonie ein substantieller Unterschied besteht. Er geht vielmehr davon aus, dass die Verwendung der Begriffe Teil einer rhetorischen Strategie ist, durch die eine reale Machtausübung in ein helleres Licht oder in den Schatten gestellt werden soll. „Hegemonie“ wäre danach nur eine euphemistische Variante für „Imperium“.

Es war wohl der deutsche Rechtshistoriker Heinrich Triepel, der wie kein anderer in seinem großen Werk „Die Hegemonie“ (1938) über das Verhältnis von Imperialität und Hegemonie nachgedacht hat.

Carl Heinrich Triepel (1886 - 1946)
Auch Triepel hält eine kategorische Unterscheidung zwischen Imperium und Hegemonie für zweifelhaft. Hegemonie sei lediglich „eine der Formen, in denen sich imperialistische Politik auszudrücken vermag“. Ihr Charakteristikum bestehe in einer „Selbstbändigung der Macht“.

Triepel beobachtete gleichwohl, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte eine Tendenz zur größeren Respektierung der Selbständigkeit jener Gebiete durchgesetzt habe, die unter der Herrschaft der imperialen Macht stehen, ihr selbst aber nicht angehören. Er bezeichnete diese Tendenz als das „Gesetz der abnehmenden Gewalt.“

Was Triepel damit aussagen wollte, war die Tatsache, Imperialität in einem Prozess der „Selbstbändigung der Macht“ inzwischen überwiegend die Gestalt von Hegemonie angenommen habe. „Man darf ruhig behaupten, daß in der Politik des modernen Imperialismus der Erwerb von Hegemonie mehr und mehr die typische Form der Machterweiterung geworden ist.“

Für Triepel treffen Imperium und Hegemonie dort zusammen, „wo der Imperialismus bewusst auf Inkorporation fremder Länder in das Gefüge eines alten Staates verzichtet. Sie können sich dort, sie müssen sich nicht begegnen.“

Insbesondere dort, wo föderative Elemente den Prozess der Bildung von Imperien prägen, lässt sich eine Tendenz zur Umwandlung imperialer in hegemoniale Politik beobachten. Aber er bezweifelte auch, dass sie sich immer und überall durchsetzen werde – was wohl zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Buches Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhundert eine mehr als angebrachte Vorsicht war.

Bei seiner Suche nach den Anfängen der Hegemonie „als einer durch gesteigerte Selbstbindung gekennzeichneten Form imperialer Herrschaft“ stieß Triepel auf die antiken griechischen Historiker, die sich mit Entstehung und Scheitern des athenischen (See-)Imperiums beschäftigt haben. Schon bei ihnen ist ein ein abgestufter Gebrauch der Begriffe ἀρχή (arché) und δύναμις (dýnamis) einerseits sowie ἡγεμονία (hegemonía) andererseits zu beobachten: Danach bezeichnen „arché“ – und häufig auch „dýnamis“ - in einem starken Sinn Machtbeziehungen, die Triepel mit dem Begriff der „Herrschaft“ wiedergibt. Dagegen ist mit „hegemonía“ eine schwächere Machtbeziehung gemeint, die Triepel mit „Vorherrschaft“ übersetzt.

Der Attisch-Delische Seebund: Ein Imperium Athens
Triepels Beobachtungen werden auch von Michael Doyle bestätigt, der in seiner vergleichenden Untersuchung von Imperien Unterschiede zwischen der athenischen und der spartanischen Bündnispolitik im 5. vorchristlichen Jahrhundert beschrieben und anschließend eine kategoriale Unterscheidung zwischen Imperium und Hegemonie entwickelt hat:

„Während es sich bei dem von Athen dominierten Delisch-Attischen Seebund um ein Imperium gehandelt habe, sei der Peloponnesische Bund mit Sparta als führender Macht eine Hegemonie gewesen. Diese ist für Doyle dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Dominanzanspruch allein auf die „Außenpolitik“ der Bündnispartner beschränkt und von Eingriffen in deren innere Entwicklung absieht: Weder die politische noch die wirtschaftliche Ordnung, weder Verfassungsfragen noch die Regulierung von Märkten werden von ihr beeinflusst, geschweige denn unter Verweis auf den eigenen Führungsanspruch verändert.“

Eine solche Selbstbeschränkung ist Doyle zufolge in einem Imperium nicht anzutreffen. „Für imperiale Herrschaft sei vielmehr charakteristisch, dass sie keine klaren Grenzziehungen zwischen Innen und Außen kenne und sich demzufolge permanent in die inneren Angelegenheiten der Bündnispartner einmische.“ Genau das habe auch den Unterschied zwischen Athen und Sparta ausgemacht:

„Sparta beschränkte sich darauf, die Außenbeziehungen der Bündner unter Kontrolle zu halten und dafür zu sorgen, dass der Peloponnesische Bund gegenüber den beiden anderen großen Mächten des ägäischen Raumes, den Persern und den Athenern, eine einheitliche Position bezog; Athen dagegen habe ständig in die Angelegenheiten seiner Bündnispartner eingegriffen: Es achtete darauf, dass die demokratische Partei die Oberhand behielt, zog Gerichtsverfahren an sich, bei denen es um die Verhängung der Todesstrafe ging, setzte eine einheitliche Währung im Bündnisgebiet durch und nötigte schließlich die Bündnerstädte zur Abtretung von Land, auf dem athenische Kolonisten angesiedelt wurden.“

Spartanische Hopliten

Offenbar war man in Athen der Auffassung, man könne sich nur dann auf die Bundesgenossen verlassen, wenn man sie unter entsprechender Kontrolle habe. „Und natürlich wollte die athenische Bürgerschaft von der Last des Seebundes auch profitieren. Mit dem Verweis auf langfristige Interessen waren in der Volksversammlung keine sicheren Mehrheiten zu gewinnen; das war nur durch den Aufweis kurzfristiger Vorteile möglich. Für Doyle ist die spartanische Aristokratie zu einer hegemonialen Politik in der Lage gewesen, während die athenische Demokratie einen notorischen Hang zum Imperium hatte.“

So wird man sagen müssen, „dass die Hegemonie die einzige Form war, in der Sparta, in politischen wie sozialen Fragen grundsätzlich konservativ eingestellt, das Bündnis organisieren konnte. Dagegen musste Athen, wo der Ausbau des Bündnisses mit der Entwicklung der radikalen Demokratie im Innern Hand in Hand ging, die Dynamik der eigenen Entwicklung in die Bündnisstrukturen weiterleiten und so im gesamten ägäischen Raum einen Prozess in Gang setzen, der auf eine dramatische Umwälzung der sozioökonomischen Strukturen hinauslief.“

Im Anschluss an die Überlegungen von Triepel spricht Doyle also dann von einem Imperium, „wenn ein Beziehungsgeflecht zwischen einem Zentrum und einer Peripherie besteht, die in Form von staatenübergreifenden Sozialstrukturen verbunden sind. Bei einer Hegemonie dagegen handle es sich um ein Beziehungssystem zwischen Zentren, von denen eines deutlich stärker als die anderen ist.“

Imperium = ein Beziehungsgeflecht zwischen einem Zentrum und einer Peripherie, die in Form von staatenübergreifenden Sozialstrukturen verbunden sind 

Ob also eine politische Ordnung als imperial oder hegemonial zu klassifizieren ist, hängt dann nicht nur vom sozioökonomischen Entwicklungsstand, sondern auch und vor allem von der relativen politischen Stärke der nachgeordneten Bündnispartner und Mächte ab. „Ist der Abstand erheblich und wird er womöglich durch die Dynamik des Zentrums noch vergrößert, so ist eine „Imperialisierung“ der Dominanzstrukturen die zwangsläufige Folge.

Gleichwohl ebenso entscheidend wie das Machtgefälle zwischen den Bündnispartnern ist für die Herausbildung einer Hegemonie aber der Umstand, dass die nachgeordneten Mächte kein Interesse daran haben beziehungsweise keine Anstrengungen unternehmen, die aktuelle Hegemonialmacht zu verdrängen und selbst deren Position einzunehmen. Nur wenn die Hegemonialmacht davon ausgehen kann, wird sie es bei einem bloßen Vorherrschaftsanspruch belassen und nicht versuchen, die hegemonialen in imperiale Verhältnisse zu verwandeln.

Für die Frage, ob die USA nun ein Imperium oder ein Hegemon sind, heißt das zunächst, dass der Unterschied zwischen beidem sehr viel fließender ist, als oft angenommen. „Wird Imperialität allein an der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kleineren Staaten festgemacht, während der Hegemon an deren innerer Ordnung nicht wesentlich interessiert sei, so sind die USA, seitdem sie unter Präsident Carter zu einer offensiven Menschenrechtspolitik übergegangen sind, ein Imperium, während sie zuvor, als sie auch Militärdiktaturen in der Nato duldeten, ein Hegemon waren. Damit ist freilich die Wertehierarchie zwischen beiden Begriffen auf den Kopf gestellt.“

Daher schlägt Herfried Münkler in seinem Buch „Imperien - Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ vor, beide Begriffe „ganz wertfrei zu verwenden und damit unterschiedliche Kräfteverhältnisse zwischen den Angehörigen einer politischen Ordnung zu bezeichnen: Hegemon ist dann der Erste unter tendenziell Gleichen, wobei wichtig ist, dass sich die Gleichheit nicht auf Rechte und Pflichten beschränkt, sondern auch tatsächliche Fähigkeiten und Leistungen erfasst. Von Imperien soll dagegen gesprochen werden, wenn das Machtgefälle zwischen der Zentralmacht und den anderen Angehörigen der politischen Ordnung so groß geworden ist, dass es auch durch Gleichheitsfiktionen nicht mehr überbrückt werden kann.“
 
Hegemon = der Erste unter tendenziell Gleichen

Die Frage ist bloß, um welche Art von Macht es geht: um ökonomische, kulturelle, politische oder militärische Macht. Und weil dies alles selten in derselben Rechnung aufgeht, wird kaum je Einmütigkeit darüber bestehen, ob eine Ordnung nun eher imperial oder hegemonial zu denken und weiterzuentwickeln sei.


Zitate aus: Herfried Münkler: Imperien: Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005 (rowohlt) - Weitere Literatur: Heinrich Triepel: Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938 (Kohlhammer) - Michael Mann: Die ohnmächtige Supermacht – Warum die USA nicht die Welt regieren können, Frankfurt a.M. 2003 (Campus) - Michael W. Doyle: Empires, 1986 (Cornell University Press), online bei google books



Donnerstag, 12. November 2015

Kant und die Metaphysik - Teil 3: Sokratische Bescheidenheit

Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.

Immanuel Kant (1724 - 1804)

Anlass für Kants Schrift ist seine Beschäftigung mit dem nordischen Seher und Propheten Emanuel Swedenborg. Kant hatte viel Wunderliches von Swedenborg gehört. Man staunte und diskutierte über dessen Fähigkeit, vor allem mit Geistern oder den Seelen von Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können, auf Erden wie im Himmel.

In all seinen Offenbarungen über die Geheimnisse und Wunder in Himmel und Hölle, im Geisterreich und auf Erden hat Swedenborg immer wieder darauf hingewiesen, dass ihm alles von Gott selbst mitgeteilt worden sei. Es handle sich dabei um lebendige Erfahrungen seines `inneren Menschen´, dem all diese staunenswerten Dinge nur vor dem `inneren Auge´ erschienen.

Alle diese Erfahrungen sind für Kant gleichwohl nur `Privaterscheinungen´, die Swedenborg zur Beglaubigung seines Wissens anführte. „Er war sein einziger Zeuge. Er lebte in seiner eigenen Welt und kommunizierte in seiner engelhaften Privatsprache.

Intersubjektivität statt Solipsismus

Gegen diesen Solipsismus, demzufolge nur das eigene Ich existiert, stellt Kant die intersubjektive Welt gemeinsamer Erfahrungsmöglichkeiten aller Menschen entgegen. „Er vertraut auf die Übereinstimmung der Erfahrungsbasis verschiedener Subjekte, die sich auch im öffentlichen Gebrauch einer Sprache manifestiert, deren Weltbezug jeder mitvollziehen kann.“

Im Anschluss an Heraklit drückt Kant diesen Gedanken so aus: „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne.“

Damit knüpft Kant direkt an Newtons Mathematische Prinzipien der Naturlehre an: „Weil wir den subjektiven Wahrnehmungen solche Gegenstände, Tatsachen und Prozesse zuordnen können, welche sich nach Grundsätzen Newtons betrachten und erklären lassen, ist eine intersubjektive Verständigung über die Welt möglich. Nicht als Geheimnis, sondern als alles, was tatsächlich der Fall ist, interessiert den Naturphilosophen die Welt.“

Kant geht es darum, die Illusionen einer „geheimen“ Philosophie zu überwinden. Auch er stellt die Metaphysik unter den Verdacht der Sinnlosigkeit, „weil sie sich jeder Überprüfbarkeit anhand intersubjektiv erfahrbarer Tatsachen entzieht. Sie bietet weder wahre noch nachweislich falsche Sätze. Ihre Scheinerfahrungen, Scheinbegriffe und Scheinurteile sind nicht zu verifizieren, aber auch nicht zu falsifizieren, weil sie allein den Imaginationen einzelner Subjekte entspringen, die seherisch begabt zu sein scheinen.“

Jenseits der Grenze liegt das
Schattenreich der Metaphysik
Damit will Kant nichts mehr zu tun haben. Am Ende seiner Reise durch das Schattenreich gilt ihm die Metaphysik als erledigt. Sie soll ihn künftig nichts mehr angehen. Es gibt Nützlicheres zu tun, als sich mit diesem Unsinn herumzuplagen.

Alles, was jenseits der Grenze dessen liegt, das sich gemeinsam denken und sagen lässt, ist einfach Unsinn – eben weil es jenseits der Grenze liegt. Kant skizziert das Schattenreich, in dem sich die Phantasten paradiesisch zu Hause fühlen, als ein `unbegrenztes Land´, `wo sie sich nach Belieben anbauen können.´

„Auch die anderen Bilder, mit denen er die metaphysischen und spiritualistischen Träumereien erhellt, spielen auf Unbegrenztes an: Luftschlösser; ein leerer Raum, wohin uns die `Schmetterlingsflügel der Metaphysik´ zu heben scheinen.“

Jahrzehnte später, in der Kritik der reinen Vernunft (1781) wird er „von dem platonischen Trieb ins Grenzenlose reden, vom Flug einer leichten Taube, welche die Sinnenwelt verlässt und sich `auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes´ hebt; oder vom weiten und stürmischen Ozean, diesem eigentlichen Sitz des `Scheins´, wo Nebel und schmelzendes Eis festes Land vorspiegeln und `herumschwärmende Seefahrer mit leeren Hoffnungen´ in täuschende Abenteuer gelockt werden.

Kant aber will auf dem Boden bleiben und Land sehen.“ Um träumerische Spekulationen zu vermeiden, müssen bei allen philosophischen Fragen nach der geistigen Natur und der seelischen Immaterialität klare Grenzen gezogen werden.

Nicht-Wissen-Können
„Gegen alle metaphysischen Hirngespinste verpflichtet Kant die Metaphysik auf eine gleichsam nur negative Aufgabe …nämlich auf die Schranken und Grenzsteine eines Wissens, über das wir nicht hinausreichen können. Keine philosophische Untersuchung dürfe über sie `ausschweifen´. `Insofern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft.´“

Kant setzt das Sokratische Nichtwissen an die Stelle des platonischen Erkenntnisanspruches: Die Metaphysik erweitert nicht das wissenschaftliche Wissen. Aber man lernt durch sie, was Sokrates wusste: Ich weiß es nicht. „Ein bescheidenes Misstrauen stellt sich ein, wenn der Gelehrte an die Grenzen des Erkennbaren stößt und gestehen muss: Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht einsehe."

„`Ich weiß also nicht, ob es Geister gebe.´ Diese Unwissenheit führt zu dem Schluss, dass man in Zukunft zwar von den Geistern und von dergleichen Wesen `noch allerhand meinen, niemals aber mehr wissen könne.´“

Kant offenbart sich hier also als überzeugten Agnostiker, der jeden Wissensanspruch in Zweifel zieht, mit dem man die Grenze einer intersubjektiven Welterfahrung zu überschreiten versucht.

Dieses Nicht-wissen-Können ist kein vorläufiges Nicht-wissen, das in dem Satz ausgedrückt werden kann: Wir wissen es zwar noch nicht, aber wir können es wissen und werden es einst auch wissen. Für Kant steht vielmehr unverrückbar fest: Weil es sich bei der Seele und dem Geist nicht um Gegenstände der Natur handelt, die den Sinnen erscheinen und erfahrungswissenschaftlich analysiert werden können, ist ein Wissen darüber grundsätzlich und für immer ausgeschlossen: Wir werden es niemals wissen.

„Der metaphysische Lehrbegriff von geistigen Wesen liefert uns kein Problem, das wissenschaftlich gelöst werden kann. Er konfrontiert uns mit einem Rätsel, das die Grenze jeder möglichen Erfahrungswissenschaft übersteigt. Das Mysterium des Geistes und der Seele ist theoretisch unbegreifbar.“

Kant bleibt also sokratisch bescheiden. „Angesichts der Rätsel des Geistigen gesteht er eine Unwissenheit, die durch keine Theorie aufgehoben werden kann. Denn weder kann der menschliche Verstand begreifen, was jenseits seiner Grenzen liegt; noch kann sinnlich erfahren werden, was in einer anderen Welt möglicherweise existiert, in unserer Welt aber nicht anzutreffen ist außer in Scheinerfahrungen eines Phantasten, der seine Wahrnehmungserlebnisse missversteht."

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)

Donnerstag, 5. November 2015

Kant und die Metaphysik - Teil 2: Ein Herr namens Swedenborg

Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.

Das Werk beginnt mit dem wuchtigen Satz: „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten.“ Dieser Satz ist zugleich eine Warnung: „Die Grenze zu diesem Reich darf nicht überschritten werden. Der Weltweise, der Deutlichkeit und Klarheit als methodische Richtlinien seiner philosophischen Tätigkeit schätzt, darf kein Phantast sein. Er will sich nicht verblenden lassen wie die Menschen, die nicht das sehen, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vorgaukelt.“

Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) 
Um sich darüber klar zu werden, hat Kant sich der Person des schwedischen Gelehrten Emanuel Swedenborg zugewandt. Der berühmte Geisterseher findet auch in Deutschland begeisterte Anhänger. Er dient Kant als Spiegelbild und Doppelgänger, von dem er sich trennen muss, um aus den Träumen der Metaphysik aufzuwachen.

„Kant will den Swedenborg in sich überwinden, will den eigenen Geister-Unsinn erkennen, um ihn verwerfen zu können.“

Emanuel Swedberg wurde am 29. Januar 1688 in Stockholm geboren. Seine naturwissenschaftliche Neugier führte ihn nach England, wo er Newton hörte, und begann Mathematik, Mechanik und Astronomie zu studieren. 30 Jahre lang, von 1716 bis 1747, arbeitete in Schweden als Bergwerksassessor gearbeitet. Für seine praktischen Leistungen und wissenschaftlichen Forschungen wurde er mit dem Namen `von Swedenborg´ geadelt und als Mitglied in die Königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen.

Gegen 1740 ist er auf der Höhe seines wissenschaftlichen Ruhms. Er arbeitet sein großes Werk `Regnum Animale´ aus und schreibt eine bemerkenswerte Abhandlung über das Gehirn - doch zugleich gerät er angesichts dieser wissenschaftlichen Arbeit in eine tiefe Krise. Er befürchtet, dass vor allem das Leib-Seele-Problem seine wissenschaftlich geschulten Verstandeskräfte übersteigt. „Es gelingt ihm nicht, seelische Ereignisse zu naturalisieren. Swedenborg ist an eine Grenze der forschenden Naturerkenntnis gestoßen, die ihm als unüberwindbar erscheint. Er sehnt sich nach Zeichen einer göttlichen Bestätigung, ob er auf dem richtigen Erkenntnisweg ist.“

In dieser Krise, in der das naturbezogene Wissen an seine Grenze stößt und auch der religiöse Glaube in den Strudel des wissenschaftlichen Zweifels gerät, werden Swedenborgs Träume immer intensiver und irritierender. Er beginnt traumartige Halluziniationen zu erleben, weil er extrem seine Atmung reduziert und sich damit beinahe in den Zustand eines Erstickenden bringt. „Hypnagogisch spielt sich alles in ihm ab, vor seinem inneren Gesicht. Mit seinen `geistigen Augen´ sieht er in sich Feuer brennen, und seine Gedanken werden immer `lichtroter´. Auch fühlt er sich in Gesellschaft himmlischer Engel, die in ihm anwesend sind.“

In der Nacht vom 6. zum 7. April 1744 erlebt Swedenborg schließlich seine erste große Christusvision: „Er ist zwar nicht ganz wach gewesen, als der Gottessohn ihn zum Geliebten wählt. Aber das hindert ihn nicht, in seinem Leben eine entscheidende Wende zu vollziehen.

Swedenborg wird zum Liebhaber himmlischen Wissens
Er hat bisher nach wissenschaftlicher Erkenntnis auf verschiedenen Gebieten gestrebt, wobei er meist streng empirisch vorging, vertrauend auf Experiment und Beobachtung. Jetzt aber glaubt er einzusehen: Die Grenze, an die er als Wissenschaftler gestoßen war, muss übersprungen werden. Er sucht das ganz Andere, und das göttliche Mysterium geschieht.“

Schließlich offenbart sich ihm Gott selbst. Von ihm erfährt er, wozu er ausersehen ist: „Er soll den Menschen den geistigen Sinn der Heiligen Schrift auslegen. Angeleitet allein durch göttliche Hilfe soll er den Rest seines Lebens diesen Auftrag zu erfüllen streben. Er soll die himmlischen Geheimnisse zu lüften versuchen, die in Gottes veröffentlichtem Wort verborgen sind.“

`Mir wurde in derselben Nacht zu meiner Überzeugung die Geisterwelt, die Hölle und der Himmel geöffnet, wo ich viele Bekannte desselben Standes wiedererkannte: Von dem Tage an entsagte ich aller weltlichen Gelehrsamkeit und arbeitete in geistigen Dingen, wie mir der Herr befahl zu schreiben.´

Swedenborg ist zum Liebhaber himmlischen Wissens geworden, aus der Krise seines naturwissenschaftlichen Denkens rettet er sich durch eine spiritualistische Wende, die ihn zur göttlichen Wahrheit bringt.

Aber Kant erkennt Swedenborg als das, was er ist, als einen `Genius´, der ihn wie im Märchen ins „Schlaraffenland der Metaphysik“ zu verführen droht.

Damit wird klar, dass es Kant eigentlich um das erkenntnistheoretische Problem einer verlässlichen Erfahrungsbasis geht, auf der sich wissenschaftliche Theorien und metaphysische Systeme gründen lassen.

Metaphysik oder verlässliche Erfahrungsbasis,
auf die sich wissenschaftliche Theorien gründen lassen?

Kant hat sich durch die acht Bände der „Arcana Coelestia“, dem visionären Hauptwerk Swedenborgs hindurchgearbeitet. Aber dieses „große Wunderwerk“ ist letztlich nicht mehr als wirre Ansammlung der `wilden Hirngespinste des ärgsten Schwärmers unter allen, als acht Quartbände voll Unsinn´.

Alle Visionen, die der nordische Visionär bei seinem ständigen und ununterbrochenen Verkehr in der Geisterwelt und im Himmel der Engel gesehen haben will und deren Einsicht er allein von Gott erhalten habe, interpretiert Kant als Einbildungen eines Menschen, „der seine eigene, aus mythischen, biblischen und literarischen Quellen intertextuell zusammengelesene Schöpfung als geheime Weltordnung missversteht.“

Insbesondere interessiert sich Kant für das, was Swedenborg mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben will, also für die empirische Basis seines Wissens. Diese Basis jedoch ist für Kant zusammengesetzt aus `Scheinerfahrungen´, die Swedenborg als eigenwillige, verkehrte Interpretationen subjektiver Wahrnehmungserlebnisse interpretiert.

Kant stellt nicht in Frage, was Swedenborg erlebt hat. Jeder kennt phantastische Wahrnehmungserlebnisse, die etwa im Halbschlaf oder bei Geistesabwesenheit entstehen.

Aber Kant wendet sich gegen die Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe fest, mit denen Swedenborg zu beschreiben und zu erklären versuchte, was in und mit ihm geschah. „Hier neigte ein Phantast zu einer verrückten Scheinerfahrung, die sich vor allem durch einen Rückgriff auf eine schwärmerische Bibellektüre als Offenbarung missverstand.

Verbindung mit der Geisterwelt ...
eine Art von Selbstbetrug!
Swedenborgs Verbindung mit der Geisterwelt war eine Art von Selbstbetrug über die Wahrnehmungen und Empfindungen, die intensiv erlebt und visionär überinterpretiert wurden.“


Mit seiner kritischen Analyse der Träume eines Geistersehers hat Kant auch die Träume der Metaphysik als möglichen Schein entlarvt. „Alles Reden von Geist und Seele als immateriellen Wesen, alle Spekulationen über die geheimnisvolle Gemeinschaft von Leib und Seele, seine Imagination einer moralischen `Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen´, die metaphysischen Luftgebilde einer transzendenten Welt, gezimmert aus erschlichenen Begriffen – waren auch … nur Blendwerke einer Einbildungskraft, die nur Scheineinsichten mit sich bringen konnte."

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)