Donnerstag, 27. Juni 2013

Hannah Arendt und der deutsche Rassebegriff

„Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird. Weil die Einsicht unsere politische Denkungsart klärt und dadurch erneuert, ist das Buch geschrieben.

Es macht keine Vorschläge und gibt keine Programme. Denn es will als solches nur historische Erkenntnis. Daher halte ich dieses Buch für Geschichtsschreibung großen Stils.“

(erschienen 1951, dt. 1955)
Diese Worte schrieb Karl Jaspers im Geleitwort zu Hannah Arendts großem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das sie unter dem Eindruck des Holocaust 1951 in New York veröffentlichte und das vier Jahre später in deutscher Übersetzung erschien.

Wie Arendt selbst im Vorwort schreibt, handelt das Buch „von den Ursprüngen und Elementen der totalen Herrschaft, wie wir sie als eine, wie ich glaube, neue `Staatsform´ im Dritten Reich und in dem bolschewistischen Regime kennengelernt haben. Die Ursprünge liegen in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates und dem anarchistischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft“ (16).Auf der Suche nach den historischen Ursprüngen des Totalitarismus behandelt Hannah Arendt im zweiten Teil des Buches – „Imperialismus“ – auch die Entstehung des deutschen Rassebegriffes.

Für Arendt steht fest, dass der deutsche Rassebegriff auf die preußischen Patrioten nach der Niederlage von 1806 und die politische Romantik zurückgeht. Er war in seinen Ursprüngen ausgesprochen völkischer Art. Bevor er in eine Weltanschauung degenerierte, war er politisch gebunden, hatte aber – im Vergleich zum französischen Rassebegriff des französischen Adels – gerade „den Zweck, das Volk in allen seinen Schichten zu vereinigen, und nicht, eine Gruppe aus ihm herauszuspalten.“

Weil es also vor allem darum ging, „das Volk zum Bewusstsein seiner gemeinsamen Herkunft gegen die Fremdherrschaft zu mobilisieren“, ist das völkische Element für den deutschen Rassebegriff so lange entscheidend geblieben und auch niemals ganz aus ihm verschwunden: „Die Bedingungen und politischen Zwecke, die Abwehr der Fremdherrschaft und die Einigung des Volkes haben zum mindesten bis zur Reichsgründung in der Entwicklung des Rassebegriffs mitgewirkt, so dass sich hier in der Tat echter Nationalismus und typische Rassevorstellungen vielfach miteinander mischen und ebenjenes völkische Denken erzeugen, das es nur im deutschsprachigen Raum gibt.“

So habe die deutsche Rasseideologie in der Tat die Terminologie des völkisch gefärbten Nationalismus für Propagandazwecke immer mitbenutzt, nicht zuletzt um sich eine nationale Tradition zuzulegen, die sie in Wirklichkeit nicht hatte.

"Der Himmel segne unser gemeinsames Streben Ein Volk zu werden, das voll der Tugenden der Väter und Brüder durch Liebe und Eintracht die Schwächen und Fehler beider beseitigt.“ (aus dem Einladungsschreiben für das Wartburgfest 1817) 

Im Unterschied zum französischen Adel hatte der preußische Adel mit der Entwicklung des Rassebegriffs und des völkischen Denkens in Deutschland gar nichts zu tun. Vielmehr waren die „deutschen Patrioten, welche nach 1814 den deutschen Nationalismus zu einer Waffe für die Errichtung eines gesamtdeutschen Nationalstaates entwickelten, liberal.“ In der Hoffnung, dass der Sieg über die französische Besatzung auch zu einer Befreiung der deutschen Nation würde, bestanden sie auf der gemeinsamen Herkunft in der deutschen Sprache, ohne dabei jedoch auf Rasseelemente oder völkische Vorstellungen zu rekurrieren.

Turnvater Jahn (1778 - 1852)
Dies geschah erst, als sich die Hoffnungen auf den Beginn einer deutschen Nation getäuscht sahen. Jetzt begannen die Versuche, die bisherige, sich lediglich auf Sprache und Kultur gründende Definition des deutschen Volkes auf `realere´ Vorstellungen von `Blutsbanden´ zu erweitern. Diese letztlich natürlich erheblich abstrakteren Ideen nationaler Identität wurden von Männern getragen, die sehr verschiedenen politischen Lagern angehörten, „wie etwa der katholische Schriftsteller Joseph Görres, der liberale Nationalist Ernst Moritz Arndt und der Turnvater Jahn.

Sie waren sich darin einig, „dass das Volk selbst für die Geburt der Nation nicht reif war, dass ihm sowohl das Bewusstsein einer gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit wie der Wille für eine gemeinsame Zukunft fehlten.“ Daher müsse etwas gefunden werden, was sich irgendwie mit dem messen könnte, was die ganze europäische Welt als die glorreiche Macht der geeinten französischen Nation erfahren hatte.

Weil es demgegenüber aber „Deutschland“ nicht gab und auf deutschsprachigem Territorium einfach kein nationales Gebilde entstehen wollte, trat „an seine Stelle dann die Vorstellung, daß `alle Glieder ein gemeinsames Band der Blutsverwandtschaft umschlingt´ oder daß diejenigen, die es so offensichtlich nicht zu einer organischen Einheit gebracht hatten, allem äußeren Anschein zum Trotz `ein ursprüngliches Volk´ seien.“

Das zweite spezifisch deutsche Element in den Rasseideologien des 19. Jahrhunderts sieht Arendt in dem „Persönlichkeits- und Geniekult, mit dem sich das deutsche Bürger- und Spießbürgertum über seine ursprünglich politisch verursachten Minderwertigkeitsgefühle hinwegzuhelfen suchte.“ Hieraus entwickelte sich schließlich das, „was sich diejenigen darunter vorstellten, die meinten, es sei die ihnen, den Germanen, von der Natur selbst zugewiesene Aufgabe, die ganze Welt zu beherrschen und zu unterdrücken.“

Es sei natürlich ein Irrtum, so Arendt, die politische Romantik für den spezifisch völkischen Charakter des deutschen Nationalismus verantwortlich zu machen. Unter der Prämisse, „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten zu geben“ (Novalis), wurde selbstverständlich auch das deutsche Volk „romantisiert.“

Im Zentrum aber des romantischen Welt- und Lebensgefühls stand der Genie- und Produktivitätsbegriff, wobei „der Grad von Genie von der Anzahl der Einfälle abhing, die einer produzieren konnte.“ `Persönlichkeit´ aber ist vor allem ein gesellschaftlicher und dann auch politischer Begriff. Dies lässt sich an seiner Bedeutung für das deutsche Bürgertum ablesen, denn „was immer das deutsche Bürgertum in seiner schwierigen und politisch besonders ungünstigen Situation schließlich an gesellschaftlichem Selbstbewusstsein aufzuweisen hatte, verdankte es seinen Intellektuellen, unten denen die Romantiker eine hervorragende Stellung einnahmen.“ 

Über das Genie schreibt Jean Paul in seiner "Vorschule der Ästhetik" (1804) 

Das Problem war nur, dass die großartigen Eigenschaften, die die bürgerlichen Persönlichkeiten sich zulegten und „einander dauern in nationalistischer Terminologie bestätigten“ genau diejenigen waren, die sich unter den Aristokraten seit alters her unter Umständen wirklich in Form echter Familientradition fanden.

Solange die beiden Elemente des deutschen Rassebegriffs, das völkische, durch Blutsbande vereintes Nationalgefühl einerseits und der romantische Persönlichkeitskult andererseits, voneinander getrennt bleiben, „gehörten sie nur zu den vielen unverbindlichen Meinungen des 19. Jahrhunderts.“ Erst als sie miteinander verbunden wurden, „konnten sie zusammen so etwas wie die theoretische Grundlage für eine Rasseideologie erzeugen.“

Dies geschah Hannah Arendt jedoch vorerst nicht in Deutschland, sondern in Frankreich, „und der Erfinder dieses explosiven Amalgams ist nicht ein bürgerlicher Intellektueller, sondern ein in seiner Weise hochbegabter und in allen seinen politischen Ambitionen getäuschter Adliger, der Comte Arthur de Gobinau.“

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 365ff


Donnerstag, 20. Juni 2013

Elias Canetti und die Natur des Befehls

Am 02. Juni 2013 wurde der neue brasilianische Stürmerstar Neymar Da Silva beim spanischen Fußballklub FC Barcelona im Stadion Camp Nou präsentiert. 56.500 fussballbegeisterte Fans bereiteten Neymar einen stürmischen Empfang. Die Stimmung im Stadion ähnelte mehr einem wichtigen Spiel als einer relativ kurzen Präsentation, bei der gewöhnlich ein paar Kabinettstückchen vorgeführt und einige Bälle ins Publikum geschossen werden.

Befehlsempfänger Neymar
Bei der anschließenden Pressekonferenz wurden die üblichen höflichen Statements abgegeben, wenngleich eine Äußerung Neymars aus dem Rahmen fiel. Er sagte: „Ich fühle mich im Katalanischen wohler als im Spanischen.“

Es ist schon mittlerweile zur Tradition beim FC Barcelona geworden, dass seine Spieler – neue wie alte – regelmäßig zu Fragen der Linguistik Stellung nehmen. Diese verblüffende Tatsache ist nur verständlich vor dem Hintergrund der Diskussion um die Regelung der Mehrsprachigkeit in Spanien.

Es soll nun jedoch nicht um die politischen Auseinandersetzungen und ideologischen Kämpfe zwischen der Zentralregierung und der autonomen Region Katalonien gehen, sondern um einen wichtigen Herrschafts- und Unterwerfungsritus: Gemeint ist der Befehl. Denn wie anders als „auf Befehl“ ließe sich die Äußerung Neymars, der sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal vier Stunden in Barcelona aufhielt, erklären?

Elias Canetti (1905 - 1994)
Elias Canetti, Nobelpreisträger für Literatur, aber auch Vermittler zwischen Denktraditionen und literarischen Gattungen hat sich immer wieder mit dem Thema der Gefährdung des Individuums durch totalitäre Macht beschäftigt, vor allem aber in seinem philosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“ (1970), der einige wichtige Gedanken zum Zusammenhang von „Befehl und Verantwortung“ enthält.

Canetti geht davon aus, dass „Menschen, die unter Befehl handeln, der furchtbarsten Taten fähig sind. Wenn die Befehlsquelle verschüttet ist und man sie zwingt, auf ihre Tat zurückzublicken, erkennen sie sich selber nicht. Sie sagen: Das habe ich nicht getan und sie sind sich keineswegs immer klar darüber, dass sie lügen. (…) Sie sagen noch: So bin ich nicht, das kann ich nicht getan haben. Sie suchen nach den Spuren der Tat in sich und können sie nicht finden. Man staunt, wie unberührt von ihr sie geblieben sind. Das Leben, das sie später führen, ist wirklich ein anderes und von der Tat in keiner Weise gefärbt. Sie fühlen sich nicht schuldig, sie bereuen nichts. Die Tat ist nicht in sie eingegangen.“

Canetti spricht hier von Menschen, die eigentlich im Stande sind, ihre Worte und Handlungen abzuschätzen. Diese Menschen würden sich unter normalen Umständen schämen für das, was sie sagen oder tun – sie sind nicht besser und auch nicht schlechter als die anderen, unter denen sie leben.

Wenn dann aber die Zeugen aufmarschieren, die sehr wohl wissen, wovon sie reden, wenn „einer nach dem anderen den Täter erkennt und ihm jede Einzelheit seines Verhaltens ins Gedächtnis zurückruft, da wird jeder Zweifel absurd.“

Um dennoch zu verstehen, was hier geschieht, muss man sich Canetti zufolge der Natur des Befehls bewusst werden: „Für jeden Befehl, den der Täter ausführt, ist ein Stachel in ihm zurückgeblieben. Aber dieser ist so fremd, wie der Befehl selber war, als er erteilt wurde.“

Das gefährlichste Element im Zusammenleben von Menschen ist der Befehl! (Canetti)
Wie lange auch dieser Stachel im Menschen haften bleibt, so Canetti weiter, er assimiliert sich nie und bleibt stets ein Fremdkörper: „Der Stachel ist ein Eindringling, er bürgert sich niemals ein. Er ist unerwünscht, man will ihn los sein. Er ist, was man begangen hat.“

So lebt der Befehl als fremde Instanz im Empfänger weiter und nimmt ihm jedes Gefühl von Schuld, ja „je fremder einem der Befehl war, umso weniger Schuld fühlt man seinetwegen.“

Menschen, die unter Befehl gehandelt haben, fühlen sich meist vollkommen unschuldig. „Wenn sie im Stande sind, ihre Lage ins Auge zu fassen, mögen sie etwas wie Staunen darüber empfingen, dass sie einmal so vollkommen unter der Gewalt von Befehlen standen. Aber selbst diese einsichtige Regung ist wertlos, da sie sich viel zu spät meldet, wenn alles längst vorüber ist.“

Natürlich sollt man das anfangs erwähnte Beispiel nicht überstrapazieren, gleichwohl macht sich die totalitäre Macht des Befehls auch im unschuldig anmutenden Alltag bemerkbar.

Wie man es auch betrachten mag, der Befehl in seiner kompakten Form ist „das gefährlichste einzelne Element im Zusammenleben von Menschen geworden.“ Man muss Canetti zufolge viel Mut haben, sich ihm entgegenzustellen und seine Herrschaft zu erschüttern. Man müsste Mittel und Wege finden, sich von ihm frei zu halten, Man dürfe ihm nicht erlauben, mehr als die Haut zu ritzen: „Aus seinen Stacheln müssen Kletten werden, die mit leichter Bewegung anzustreifen sind.“

Geschieht dies nicht, dann wird durch den Befehl die Autonomie des Individuums gefährdet und letztlich auch zerstört oder verkommt zu einer skurrilen und absurden Show – wie im Falle Neymars, der den ihm gegebenen Befehl ohne zu zögern und ohne nachzudenken ausführte.

Nachtrag vom 13.09.2013:
Für die Europäische Komission ist Katalonien nicht nur die korrupteste Region Spaniens, sondern nimmt unter den 172 Regionen Europas den 130. Rang ein. Wen wundert es?

Zitate aus: Elias Canetti: Masse und Macht, Düsseldorf 1960 (Claasen), hier: S. 380-382

Donnerstag, 13. Juni 2013

Jürgen Habermas und der Legitimationsanspruch des Rechtsstaates

Jürgen Habermas (2008)
Jürgen Habermas gehört zu den wenigen deutschsprachigen Denkern der Gegenwart, die auch international die Diskussion über Politik mitbestimmen. Bereits in seinen frühen Werken „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962), „Theorie und Praxis“ (1963) und „Erkenntnis und Interesse“ (1968) wehrte sich Habermas gegen jedweden Versuch, die Vernunft auf eine wertfreie Erkenntnis oder auf technische Machbarkeit zu verkürzen. Gegen die gesellschaftlichen Sachzwänge hält Habermas an der Tradition der Aufklärung fest, dass Vernunft das leitende Prinzip der Philosophie und des menschlichen Handelns sein muss.

Das Ziel einer Gesellschaft besteht demnach darin, die gegenseitigen Ansprüche und Interessen durch rationales Argumentieren im Diskurs zu vermitteln. Diesen Gedanken entwickelt Habermas schließlich in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), nach der die Vernunft als „kommunikative Rationalität“ im gesellschaftlichen Dasein des Menschen verankert ist. Danach ist Vernunft ein sozialer Prozess, in dem durch Austausch von Argumenten ein Konsens gesucht wird – was nicht nur für Fragen der Wissenschaft gilt, sondern auch für Probleme der Ethik und Politik.

Eines dieser Probleme ist Habermas zufolge die Frage nach dem Legitimitätsanspruch des Rechtsstaates und der damit zusammenhängenden Frage der Zulässigkeit des zivilen Ungehorsams.

Habermas geht zunächst von einem „ungewöhnlich hohen Legitimationsanspruch“ des Rechtsstaates aus: „Er mutet seinen Bürgern zu, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken anzuerkennen.“ Die Treue zum Gesetz solle sich demnach aus einer einsichtigen und darum freiwilligen Anerkennung des normativen Anspruches auf Gerechtigkeit ergeben, den jede Rechtsordnung erhebt. Diese Anerkennung stütze sich normalerweise darauf, dass ein Gesetz von den verfassungsmäßigen Organen beraten, beschlossen und verabschiedet worden ist.

Der Rechtsstaat: Zwischen Legalität und Legitimität

„Damit erlangt das Gesetz positive Geltung und legt fest, was in seinem Geltungsbereich als legales Verfahren zählt. Das nennen wir Legitimation durch Verfahren.“

Natürlich enthält dieses Vorgehen noch keine Antwort auf die Frage, warum das legitimierende Verfahren selbst, also das Tätigsein der verfassungsmäßigen Institutionen, warum also die Rechtsordnung als Ganzes legitim sei. Die Verfassung eines Staates, so fordert Habermas, muss also „aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht.“

Daher kann ein moderner Rechts- und Verfassungsstaat nur dann von seinen Bürgern Gesetzesgehorsam verlangen, wenn er sich auf anerkennungswürdige Prinzipien stützen kann, die das, was legal ist, auch als legitim rechtfertigen.

Die Unterscheidung von Legalität und Legitimität setzt also die Existenz von Verfassungsprinzipien voraus, die nicht nur gut begründet sind sondern auch Anerkennung verdienen. Dennoch bleibt die Frage bestehen, wie solche Grundnormen, „beispielsweise die Grundrechte, die Garantie der Rechtswege, die Volkssouveränität, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Sozialstaatsprinzip usw.“ gerechtfertigt werden können.

Im Anschluss an das insbesondere von Kant propagierte Vernunftrecht folgt auch Habermas dem Argument, dass nur solche Normen und Prinzipien gerechtfertigt sind, „die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden können.“ Daher wird diese Zustimmung auch an eine „Prozedur vernünftiger Willensbildung“ gebunden. Daraus folgt: „Ein demokratischer Staat kann, weil er seine Legitimität nicht auch schiere Legalität gründet, von seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern.“

Vor dem Hintergrund dieser Prämissen wird verständlich, dass auch ziviler Ungehorsam „nur unter den Bedingungen eines im Ganzen intakten Rechtsstaates“ auftreten kann. Allerdings dürfe der Regelverletzer seine „plebiszitäre Rolle des unmittelbar souverän auftretenden Staatsbürgers nur in den Grenzen des Appells an die jeweilige Mehrheit übernehmen“, denn „im Unterschied zum Resistance-Kämpfer erkennt er die demokratische Legalität der bestehenden Ordnung an.“

Die Möglichkeit und Rechtsmäßigkeit zivilen Ungehorsam entsteht schlicht aus der Beobachtung, dass auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können – gleichwohl nicht „nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder einen privilegierten Zugangs zur Wahrheit“, sondern allein auf der Grundlage „der für alle Bürger einsichtigen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.“

Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes

In Sophokles’ Tragödie Antigone wird diese Argumentation sehr gut sichtbar. Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes entgegen dem Befehl des Königs Kreon, ihres Onkels. Antigone, die sich in ihrem Akt gewaltfrei einem höheren Recht verpflichtet fühlt, übt hier also eindeutig zivilen Ungehorsam:

Kreon: „Und du brachtest es über dich, dieses Gesetz zu übertreten?"

Antigone: „Nicht Zeus hat mir dies verkünden lassen
noch die Mitbewohnerin bei den unteren Göttern, Dike,
die beide dieses Gesetz unter den Menschen bestimmt haben,
und ich glaubte auch nicht, das so stark seien deine
Erlasse, dass die ungeschriebenen und gültigen
Gesetze der Götter ein Sterblicher übertreten könnte.
Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer
Lebt das, und keiner weiß, wann es erschien."

Habermas geht also auch davon aus, dass die Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem Gehalt „ein langfristig, historisch keineswegs gradlinig verlaufender, vielmehr von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozess ist.“ Wer wolle also behaupten, dass diese (Lern-)Prozesse heute abgeschlossen sind?

Auch der Rechtsstaat im Ganzen ist längst noch nicht ein fertiges Gebilde, sondern Habermas sieht ihn „als ein anfälliges, irritierbares Unternehmen, das darauf angelegt ist, unter wechselnden Umständen eine legitime Rechtsordnung, sei es herzustellen oder aufrechtzuerhalten, zu erneuern oder zu erweitern.“

So seien auch die Verfassungsorgane selbst – gerade weil dieses Projekt unabgeschlossen ist – von dieser „Irritierbarkeit“ keineswegs ausgenommen.

Zitate aus: Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985 (Suhrkamp)  -  Weitere Literatur: Sophokles: Antigone, Stuttgart 1981 (Reclam), hier: 449–461.

Donnerstag, 6. Juni 2013

Karl Marx und die Arbeit


Die philosophischen Überlegungen von Karl Marx entstanden einerseits aus der Analyse der Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und andererseits aus seiner Kritik an der idealistischen Philosophie Hegels.

Marx und Engels
Die Philosophie selbst war für Marx eine revolutionäre Kraft, denn es kam eben weniger darauf an, wie die Philosophen bisher, „die Welt einfach nur zu interpretieren“, sondern vielmehr „sie zu verändern.“ Folglich versteht sich der Marxismus nicht nur als philosophische Gesellschafts- und Geschichtstheorie, sondern auch als politische Bewegung. Marx nahm zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels aktiven Anteil an der Entstehung einer organisierten Arbeiterbewegung.

Für Marx sind vor allem die materiellen Bedingungen des Lebens, vor allem aber die Arbeits- und Produktionsbedingungen, nicht nur die Grundlage sämtlicher Kulturentwicklung, sondern auch der Schlüssel zum Verständnis des Menschen.

Marx ist der erste Philosoph, der die materielle Arbeit in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt. Für ihn liegt in der schöpferischen Arbeit der Keim zur Selbstverwirklichung des Menschen, also zur selbstbestimmten individuellen Ausschöpfung aller in ihm steckenden Möglichkeiten. Die Lohnarbeit jedoch der kapitalistischen Wirtschaft ist für Marx dagegen die „entfremdete“ Form der Arbeit.

Daher war nach Marx der Arbeiterklasse, dem Proletariat, die historische Aufgabe zugedacht, diese Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, aber letztlich von sich selbst, zu überwinden und die Bedingungen für eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen, die Marx im Kommunismus verwirklicht sah.

Eine ausführliche Analyse der kapitalistischen Ordnung legte Marx in seinem dreibändigen Hauptwerk „Das Kapital“ (1867, 1885, 1894) vor.

Dort definiert Marx zunächst den Begriff der Arbeit: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch einen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber.“

Dadurch, dass sich der Mensch mittels seiner „leiblichen“ Werkzeugen (Kopf, Arme, Hände, Beine) in Bewegung setzt, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbare Form anzueignen, verändert er zugleich seine eigene Natur, denn: „Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit.“

Das Ergebnis der instinktiven Form der Arbeit

Marx spricht also von einer Form der Arbeit, die allein beim Menschen zu finden ist. Für ihn gibt es hier einen qualitativen Unterschied zu den instinktartigen Formen der Arbeit bei Tieren: „Eine Biene beschämt zwar durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, vor er sie in Wachs baut.“

Es ist also das Resultat des Arbeitsprozesses, das bereits beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters „ideell vorhanden“ war, das menschliche Arbeit von dem Instinktverhalten der Tiere unterscheidet.

Das Ergebnis ideeller Arbeit beim Menschen: Die Junkernschänke in Göttingen

So lässt sich der gesamte Arbeitsprozess auch als „zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bindung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens“ verstehen.

Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen betrachtet Marx nun den Arbeitsprozess in einem kapitalistischen System, der seiner Meinung nach „zwei eigentümliche Phänomene“ zeigt:

Zunächst arbeitet der Arbeiter „unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. Der Kapitalist passt auf, dass die Arbeit ordentlich vonstattengeht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden, also kein Rohmaterial vergeudet und das Arbeitsinstrument geschont, d.h. nur so weit zerstört wird, als sein Gebrauch in der Arbeit ernötigt.“

Nun aber bleibt das Ergebnis der Arbeit, das Produkt, das Eigentum des Kapitalisten und nicht des unmittelbaren Produzenten, also des Arbeiters: „Der Kapitalist zahlt z.B. den Tageswert der Arbeitskraft. Ihr Gebrauch, wie der jeder andren Ware, z.B. eines Pferdes, das er für einen Tag gemietet, gehört ihm also für den Tag. Dem Käufer der Ware gehört der Gebrauch der Ware, und der Besitzer der Arbeitskraft gibt in der Tat nur den von ihm verkauften Gebrauchswert, indem er seine Arbeit gibt. Von dem Augenblicke, wo er in die Werkstätte des Kapitalisten trat, gehörte der Gebrauchswert seiner Arbeitskraft, also ihr Gebrauch, die Arbeit, dem Kapitalisten.“

Hier sieht Marx den Kern der „Entfremdung“, denn durch den kapitalistischen Produktionsprozess einschließlich der industriellen Arbeitsteilung wird der Arbeiter zu einer Sache erniedrigt. Das Produkt seiner Arbeit wird ihm entzogen und ihm wird nur ein Teil des Gegenwertes seiner Arbeit als Lohn ausbezahlt. Der übrige Teil, der „Mehrwert“, fließt dem Unternehmer zu.

Eisenwalzwerk (Adolf von Menzel, 1875)

Weil diese Produktionsweise zur Entstehung von Klassen führt und zur Ausbeutung der einen Klasse durch die andere, ist Arbeit im Kapitalismus letztlich entfremdete und nicht schöpferische Arbeit.

Die schöpferische Freiheit sieht Marx im Kommunismus verwirklicht, den er mit dem „Reich der Freiheit“ gleichsetzt: „Das Reich der Freiheit beginnt … in der Tat erst da, wo das Arbeit, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.“ Für Marx ist klar, dass Freiheit erst dann bestehen kann, wenn der „vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, und unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden.“

Es war Hannah Arendt, die in ihrem Werk „Vita activa oder vom tätigen Leben“ die radikale Aufwertung der Arbeit, wie sie beispielsweise bei Marx zutage tritt, wieder revidierte. Arendt unterscheidet bekanntlich zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln und wirft der neuzeitlichen Philosophie vor, diese drei Tätigkeiten unzulässig miteinander vermischt zu haben.

Zwar definiert Arendt - ähnlich wie Marx  - die Arbeit als „biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen“, aber damit endet schon die Bedeutsamkeit der Arbeit als Tätigkeit des Menschen.

Über der „Arbeit“ steht das „Herstellen“, eine schöpferische Tätigkeit des Menschen, durch die er Dinge schafft, die von Dauer sind. Aber erst im Handeln erreicht der Mensch die Stufe der eigentlichen Selbstverwirklichung. Dies geschieht in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, deren höchste Form das politische Handeln ist – eine Vorstellung, die Arendt der antiken griechischen Philosophie entnahm.

So dürfe man gerade nicht – wie Marx es eben tut – von der Arbeit als der Quelle aller Produktivität sprechen und sie zum Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen selbst überhöhen.

Auch bei Marx selbst bleibt - trotz der Hochschätzung der Arbeit – ihre Bedeutung Arendt zufolge immer zweideutig. Obwohl für Marx die Arbeit die menschliche und produktivste aller Tätigkeiten ist, „hat die Revolution doch nach Marx nicht etwa die Aufgabe, die arbeitende Klasse zu emanzipieren, sondern die Menschen von der Arbeit zu befreien. Denn das `Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört´“ (Arendt, 123).

So bestünde einer der  - vielen - eklatanten Widersprüche in der Theorie von Marx darin, dass Marx immer davon ausgeht, „den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde“ (ebd.).

Für Hannah Arendt dagegen ist die Arbeit gerade kein Symptom für ein gestörtes Verhältnis zwischen Mensch und Natur bzw. zwischen Mensch und Welt, sondern in der Arbeit zeigt sich „die Art und Weise, in welcher das Leben selbst mitsamt der Notwendigkeit, an die es gebunden ist, sich kundgibt“ (141).
  
Zitate aus: Karl Marx: Das Kapital, Frankfurt a.M. 1968 (EVA), Bd.1., 192ff – Bd. 3., 828  -  Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (piper)