Dienstag, 3. Januar 2012

Hellas und die Musik


Es mag überraschen, dass im Mittelpunkt des hellenischen Lebens nicht die bildende Kunst, sondern die Musik stand. Der Sänger galt als unmittelbar von Gott inspiriert, jedes Gebet war letztendlich ein Gesang. Alle Dichter waren zugleich auch Komponisten, ein Lied war wirklich ein Lied, Sappho und Alkaios haben also wirklich gesungen. 

Sappho and Alkaios (Lawrence Alma-Tadema, 1836 – 1912)

Nicht nur in Dingen der einfachen Lebenspraxis empfanden die Griechen metrisch, der ganze Kosmos hatte seit Pythagoras den Charakter einer harmonischen Symphonie.

Der Begriff Harmonie wird hier in einem komplexen Sinn verwendet, in dem sowohl die musikalische Bedeutung der guten Fügung der Töne enthalten ist, wie auch die Vorstellung zahlenmäßiger Strenge und geometrischer Regelmäßigkeit.

Es geht letztlich um das Verhältnis der Teile zum Ganzen, um Proportion und um die Vorstellung eines schönen Zusammenklangs der Dinge. Dieses weite Verständnis von Harmonie bezog sich auf alle Lebensbereiche der Polis. Überall herrschte das Bewusstsein, dass es auch im produktiven und praktischen Tun des Menschen eine strenge Norm des Passenden gibt, die man nicht übertreten darf. Der Nómos war nicht nur das Gesetz der Polis, sondern auch ihre Melodie – das Gemeinwesen wurde als ein Stück Kammermusik gedacht und erlebt.

Platon behauptet im 3. Buch über den Staat (398 B ff), dass Hässlichkeit und schlechte Sitte mit Mangel an Rhythmus und Harmonie verwandt seien. Platons Ideal vom körperlich und sittlich schönen Menschen (καλός καί άγαθός) führt schließlich direkt zum ebenso wohlgeordneten Staat.

Musik galt als eine Art rhythmischer Schulung der Seele, so wie die Gymnastik den Körper trainierte. Man war davon überzeugt, dass nur eine musikalische Seele gesund, stark, weise und schön sein könne. Weil die Musik Macht über die Seele besaß, verwendete Pythagoras sie auch zu therapeutischen Zwecken und heilte Kranke durch Gesang.

Musik war im Krieg ein wichtiges Mittel des taktischen Zusammenhalts der Truppenteile und der Pfeifer war beim Angriff einer der wichtigsten Personen. Plutarch erzählt in seinen Moralia (245c-f) von Telesilla, einer Dichterin aus Argos, die vom Orakel in Delphi ein Mittel gegen eine Krankheit erfragte und den Bescheid erhielt, sie möge sich dem Dienst der Musen weihen. Sie folgte dem Rat und kam derart zu Kräften, dass sie, als die Spartaner 510 v. Chr. in Argos eingefallen und die Männer der Stadt besiegt waren, die Frauen zum Kampf aufrief und an deren Spitze die Spartaner besiegte.

Eine musikalische Geometrie beherrscht auch den Aufbau der Tragödie. Die Handlung mit ihren genau korrespondierenden Wechselreden war auf- und absteigend um einen Mittelpunkt komponiert. Die Tragödie war eine Art Gesamtkunstwerk aus Bühnenbild, Text, Mimik, Gesang und Tanz, zusammengehalten durch die Musik.

Muse beim Stimmen (ca. 470 v. Chr., Eretria)
Wir müssen jedoch eher an eine Art inneren Rhythmus denken, da die Instrumentation für unsere Begriffe sehr einfach und dürftig war. Das ganze Tragödienorchester bestand aus einem Kitharisten und einem oder zwei Flötenspielern und der der Chor sang immer nur einstimmig. Der Vortrag der Solisten bewegte sich zwischen Rhapsodien, Wechselgesängen mit dem Chor, Duetten und monologischen Arien.

Die Musik lässt sich also von den poetischen Werken der Griechen ebenso wenig ablösen wie die Farbe von ihren architektonischen und plastischen Werken.

Quelle: Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 2007 (C.H. Beck)


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