Donnerstag, 27. März 2014

John Stuart Mill und die Nützlichkeit

John Stuart Mill (1806 - 1873)
John Stuart Mill war einer der einflussreichsten und vielseitigsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Als engagierter Bürgerrechtler und Publizist im viktorianischen England setzte er sich u.a. für ein allgemeines Bildungs- und Erziehungssystem ein, das auf Freiheit, Individualität, eigenständigem Denken und Kritikfreudigkeit beruht. Weiter setzte er sich in seiner Schrift „Über die Freiheit“ für die Frauenemanzipation und das Frauenwahlrecht ein. Aber Mill machte sich auch als Wirtschaftstheoretiker und Historiker einen Namen.

Mill gilt als Mitbegründer mehrer bedeutender Richtungen in der modernen Philosophie. Als Positivist strebte er nch einem streng  wissenschaftlichen Weltbild und verlangte daher, dass alles menschliche wissen sich durch das den Sinnen unmittelbar Gegebene (eben das „Positive“) begründen lassen muss. Als einer der Väter des modernen Liberalismus sah er die Hauptaufgabe des Staates im Schutz der individuellen Freiheit. In der Geschichte der philosophischen Ethik gilt Mill neben Jeremy Bentham als Vertreter des klassischen Utilitarismus.

In seiner Schrift „Utilitarismus“ entwirft Mill nicht nur eine ethische Theorie, die die Aufgabe der Moral dahingehend beschreibt, das Glück der Gemeinschaft, d.h. das Allgemeinwohl zu befördern, sondern er beschäftigt sich auch mit den Einwänden, die gegen das Nützlichkeitsprinzip in der Ethik vorgebracht wurden (und z.T. auch noch werden).

Mill definiert zunächst das ethische Prinzip des Utilitarismus wie folgt: „Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter `Glück´ ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter `Unglück´ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.“

Mill gibt zu, dass natürlich nun gesagt werden müsse, „was die Begriffe Lust und Unlust einschließen sollen“, gleichwohl änderten solche Erklärungen nichts an der Lebensauffassung, auf der die Theorie des Utilitarismus wesentlich beruht: „dass Lust und das Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen wünschenswerten Dinge (die nach utilitaristischer Auffassung ebenso vielfältig sind wie nach jeder anderen) entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung von Lust und zur Vermeidung von Unlust.“

Mill ist sich bewusst, dass eine solche Lebensauffassung bei vielen Menschen – „darunter manchen, deren Fühlen und Trachten im höchsten Maße achtenswert ist“ – auf deutliche Kritik stößt. Der Gedanke also, dass das Leben „keinen höheren Zweck“ habe als die Lust oder „kein besseres und edleres Ziel des Wollens und Strebens“ erscheint manchem als „niedrig und gemein“, geradezu „als eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre.“

Mit diesem Vorwurf habe sich auch schon Epikur – der Vertreter des antiken Hedonismus – auseinandersetzen müsse. Und schon dieser habe auf diese Vorwürfe stets geantwortet, dass nicht sie, sondern ihre Ankläger es sind, „die die menschliche Natur in entwürdigendem Lichte erscheinen lassen, da die Anklage ja unterstellt, dass Menschen keiner anderen Lust fähig sind als der, deren auch Schweine fähig sind.“



Natürlich sind den antiken Hedonisten bei der Ableitung von Konsequenzen aus dem utilitaristischen Prinzip Fehler unterlaufen – beispielsweise beim unbegrenzten positiven Hedonismus eines Aristippos. Daher müsse man am besten Kriterien der stoischen und christlichen Ethik mit in die Ableitung integrieren.

Grundsätzlich jedoch Mill verteidigt die Idee, dass die Menschen im Grundsatz höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste haben. Denn schließlich schreibe auch die epikureische Lebensauffassung „den Freuden des Verstandes, der Empfindung und Vorstellungskraft sowie des sittlichen Gefühles“ einen weit höheren Wert zu als denen der Sinnlichkeit.

Diese Höherwertigkeit der geistigen Freuden ist nicht nur in ihrer größeren Dauerhaftigkeit oder Verlässlichkeit erkennbar. „Die Anerkennung der Tatsache, dass einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere, ist mit dem Nützlichkeitsprinzip durchaus vereinbar. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass der Wert einer Freude ausschließlich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung aller anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet.“

Glück – in der oben genannten Bedeutung von `pleasure´ – ist somit für Mill ein legitimes moralisches Gut, sowohl für jedes Individuum als auch für die Gemeinschaft: „Damit hat das Glück seinen Anspruch begründet, eines der Zwecke des Handelns und folglich eines der Kriterien der Moral zu sein.“

Die Gegner des Utilitarismus aber würden nun einwenden, dass es neben dem Glück auch noch weitere Zwecke des menschlichen Handelns gibt, etwa die Tugend oder das Freisein vom Laster.

Das hieße aber, so Mill, dass der Utilitarismus bestreiten würde, dass Menschen auch nach Tugend strebten oder dass er gar behaupten würde, dass Tugend nicht erstrebenswert sei. „Im Gegenteil. Er behauptet nicht nur, dass Tugend erstrebenswert ist, sondern dass sie uneigennützig, um ihrer selbst willen erstrebt werden sollte.“
 
Die Tugend
So setzten die Utilitaristen die Tugend nicht nur „an die Spitze der Dinge, die als Mittel zu jenem letzten Zweck gut sind“, sondern  sie „erkennen es auch als eine psychologische Tatsache an, dass sie für den Einzelnen ein an sich selbst und ohne äußeren Zweck wertvolles Gut werden kann.“ Weiter würden die Utilitaristen behaupten, „dass sich das menschliche Bewusstsein nicht im richtigen – dem Nützlichkeitsprinzip gemäßen, dem allgemeinen Glück am förderlichsten – Zustand befindet, wenn es die Tugend nicht in dieser Weise liebt – als etwas, das um seiner selbst willen erstrebenswert ist.“

Mill wehrt sich somit dagegen, Tugend und die Suche nach dem Glück gegeneinander auszuspielen, wie es die Kritiker des Utilitarismus tun würden. Der Grund dafür ist einfach: „Die Bestandteile des Glücks sind sehr verschiedenartig und jeder einzelne Bestandteil ist um seiner selbst willen erstrebenswert und nicht nur insofern, als sich die Gesamtsumme durch ihn erhöht (…) Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck, sie sind auch Teile des Zwecks.“

So ist die Tugend nach utilitaristischer Auffassung nicht ursprünglich und von Natur aus Teil des Zwecks, aber sie kann dazu werden; „und bei denen, die die Tugend ohne eigennützige Motive lieben, ist sie dazu geworden und wird von ihnen nicht als Mittel zum Glück, sondern als Teil des Glücks erstrebt und geschätzt.“

Zitate aus: John Stuart Mill: Utilitarismus, in: Otfried Höffe: Einführung in die utilitaristische Ethik, München 1975 (C.H.Beck), S. 60ff

Donnerstag, 20. März 2014

Der Wilde Westen und der Liberalismus

Schenkt man einer im Jahre 1948 erschienenen Studie Glauben, dann ist der Liberalismus „The Political Tradition of the West.“ Während „freedom“ jedoch vorwiegend die individuelle Freiheit beschreibt, markiert „liberty“ eher die politische Ordnung und ihre Regeln.

Für Klaus Füßmann jedenfalls ist Landnahme im Westen der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „ein Akt der bürgerlichen Zivilisationsbegründung von unten und daher aus klassisch liberaler Perspektive freiheitlich und fortschrittlich zugleich. Daran ändern auch die Verwerfungen (etwa den Indianern gegenüber) nichts.“

Unser Bild vom "Wilden Westen" - Der John Ford Point im Monument Valley

Es sei daher nicht falsch, den „Wilden Westen“ deshalb als „romantisierte Zone relativer Staatsfreiheit“ zu bezeichnen, denn selten hat die individuelle Eigeninitiative der Siedler, aber auch der Glaube an ‚spontane Ordnungen‘ auch in politischer Hinsicht, eine solche Rolle gespielt.

Wir müssen uns Füßmann zufolge daran gewöhnen, dass der Wilde Westen gar nicht so wild war, sondern vielmehr „eine Rechtskultur (von unten) entwickelt hat, die liberalen ordnungspolitischen Vorstellungen zur Ehre gereicht.“

Letztlich geht es um die – bis heute unbequemen – Fragen: Ist der Staat wirklich der einzig unverzichtbare Garant von Recht und Rechtsfrieden? Ist Recht auch ohne den Staat denkbar?

Die Antwort ist eindeutig: „Recht ist zumindest theoretisch staatsfrei denkbar. Vermutlich ist sogar der Ursprung des Rechts in der vertraglichen Abmachung zu suchen, nicht in der obrigkeitlichen Rechtssetzung. Mehr noch: Als rein privatrechtliches Projekt, das am freiwilligen Vertrag orientiert ist, kann Recht theoretisch wesentlich eindeutiger dem freien Willen der Beteiligten entsprechen. Man wäre einem Recht unterworfen, das man sich selbst ausgesucht hat, und das nicht durch die Interessen einer eigentlich nicht beteiligten Drittinstanz (was der Staat ist) verfälscht ist.“

Die Ordnungsmacht im Wilden Westen - anfangs eher die Ausnahme (Szene aus John Fords "She wore a yellow ribbon“, 1948)

Auch empirisch lässt sich diese These stützen. Dort, wo Menschen frei über sich und ihren Besitz verfügen können, gibt es immer auch einen „Markt“ für Recht und Sicherheit.

Im Wilden Westen stellte sich die Frage nach „staatslosem Recht“ in ihrer brisantesten Form, denn eine Letztinstanz staatlich garantierten Rechts, die den geordneten Rahmen auch für privates Recht bildet, gab es schlichtweg nicht. Insofern war der Wilde Westen „ein individual-anarchisches Laboratorium, in dem Staatslosigkeit an einer durchaus höher zivilisierten Gesellschaft ausprobiert wurde – und nicht nur an einer primitiven Stammesgesellschaft, wo das Fehlen von Staatlichkeit die Regel ist.“

Ein historisches Beispiel mag diese Gedanken veranschaulichen: Der Goldrausch.

Zwischen der Abtretung Kaliforniens an die USA durch Mexiko im Jahre 1848 bis 1866 gab es allen Quellen zufolge auf dem Territorium des Landes keine zentrale staatliche Ordnungsmacht. Die Phase des totalen Chaos war jedoch ausgesprochen kurz, denn schon im Herbst 1848 tauchten erstmals Verträge zwischen größeren Gruppen von Goldsuchern auf.

In diesen privatrechtlichen Verträgen wurde geregelt, dass man „gemeinsame „Mining Camps“ gründete, gegenseitige Assistenz bei Sicherheitsbedrohungen festschrieb, gemeinsame Aufgaben zuwies und vor allem die Eigentumsrechte am Claim abgrenzte und dokumentierte. Regelrechte Schiedsgerichte wurden dabei gegründet. Diese Kontraktarrangements verbreiteten sich flächendeckend über das Land, mehrere hunderte davon existierten. Sie sicherten die ordnungsgemäße Allokation von Land. Die „Mining Company“ der Anfangszeit war eher selten der Besitz eines „reichen Kapitalisten“, sondern wesentlich häufiger etwas, das einer Kooperative oder Genossenschaft ähnelte.“

Nach Meinung der beiden Ökonomen Terry L. Anderson und Peter J. Hill, Autoren des Buches „The Not So Wild, Wild West. Property Rights on the Frontier“ bietet der Wilde Westen ein wesentlich ruhigeres Bild als das, das der Western-Film im Allgemeinen vermittelt. „Es ist ein Bild von Menschen, deren Leben eher hart, ärmlich und langweilig statt romantisch und heldenhaft war.“

Goldsucher warten auf die Registrierung ihrer Claims (Klondike 1898)

In der Realität gab es einfach das handfeste Bedürfnis der Menschen nach Rechtssicherheit und damit stiegen folglich auch die Bemühungen, dieses selbst durchzusetzen. Auf längere Sicht regierten also gerade nicht Chaos und Gewalt.

Neben den erwähnten Mining Camps gab es die „Land Clubs“, private, freiwillige Selbstschutzorganisationen von Siedlern, die „Cattlemens´ Associations“, die den Schutz von Rinderherden zum Ziel hatten und die – aus Westernfilmen bekannten – „Wagon train“, also Selbstschutzverbände von Siedlern auf ihrem „long long way“ in den Wilden Westen.

Auch ohne einen Staat und seine Institutionen wurde im Wilden Westen ein „hohes Maß an bedürfnisgerechter Rechtssicherheit“ erreicht – mit Mitteln, die effizient und recht unbürokratisch waren.

So scheint also der Wilde Westen, wie wir ihn vom Film kennen, als ein Mythos, der ordentlicher Korrekturen bedarf.

Aber zum Nörgeln gibt es dennoch keinen Anlass, denn dem Western verdanken wir viele glückliche Stunden. „Deshalb ist es eine weise (Selbst-?)Erkenntnis, was man am Schluss von „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ hört: “This is the west, Sir. When the legend becomes fact, print the legend.”

Zitate aus: Klaus Füßmann, Detmar Doering (Hg.): Freedom – Frontier – Ford. Der amerikanische Western in der politischen Bildung, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Berlin, 2012 (COMDOK GmbH)   -   Weitere Literatur: Frederick M. Watkins: The Political Tradition of the West. A Study in the Development of Modern Liberalism. Cambridge 1948.

Donnerstag, 13. März 2014

Carl Friedrich Goerdeler und die Neuordnung Deutschlands nach Hitler

Carl Friedrich Goerdeler (1884 - 1945)
Carl Friedrich Goerdeler gehörte zu den führenden Köpfen der zivilen, national-konservativen Opposition gegen Hitler. Goerdeler war von 1930 bis 1937 Oberbürgermeister von Leipzig und zeitweise zugleich Reichskommissar für die Preisüberwachung.

Als in Leipzig im November 1936 das Denkmal des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy abgerissen wurde, trat Goerdeler demonstrativ vom Amt des Oberbürgermeisters zurück und wurde Berater der Firma Bosch.

Goerdeler nutze zahlreiche Auslandsreisen zu politischen Sondierungsgesprächen und trat dabei stets für einen harten Kurs der ausländischen Mächte gegen Hitler ein. Im Münchener Abkommen sah er dementsprechend eine „glatte Kapitulation“ des Westens: „Es ist eine phantastische Illusion, einen dauerhaften Frieden auf einen Pakt mit dem Teufel zu gründen“ (Meyer-Kramer, 109).

In zahlreichen Denkschriften und Entwürfen entwickelte Goerdeler Leitlinien einer politischen Neuordnung in Deutschland. Als Hitler nach der Eroberung Frankreichs im Sommer 1940 auf dem Zenit seiner Macht stand, verfasste Goerdeler eine Denkschrift, in der er das baldige Ende der nationalsozialistischen Herrschaft voraussagte:

„Der Diktator sei außerstande, schrieb er, die eroberten Räume `so zu beherrschen, dass die ehre und Freiheit der darin wohnenden Völker bewahrt bleiben´, und zitierte zum Schluss die Sätze, mit denen der Freiherr v.Stein im Oktober 1808 Friedrich Wilhelm III. zum Widerstand gegen Napoleon aufgefordert hatte: `Für den Redlichen ist kein Heil als in der Überzeugung, dass der Ruchlose zu allem Bösen fähig ist … zutrauen zu dem Mann zu haben, von dem man mit so vieler Wahrheit sagte, er habe die Hölle im Herzen, das Chaos im Kopf, ist mehr als Verblendung. Ist also in jedem Falle nichts wie Unglück und Leiden zu erwarten, so ergreife man doch lieber einen Entschluss, der ehrenvoll und edel ist und eine Entschädigung und Trostgründe anbietet im Fall eines üblen Erfolges´“ (147f).

Aus dieser Denkschrift entstand bis Anfang 1941 ein Ordnungsentwurf unter dem Titel „Das Ziel“, in dem Goerdeler die positiven Ziele des Widerstandes gegen Hitler darzustellen. Diese Schrift zusammen mit dem Verfassungsentwurf Goerdelers für eine Neuordnung Deutschlands nach Hitler ergibt ein gutes Bild der politischen und unverkennbar autoritär-staatlichen Absichten des konservativen Widerstandes.

Der Ausgangspunkt dieser konservativ geprägten Widerstandsgruppe ist die Erfahrung „vom Einbruch der totalitären Diktatur in die demokratisch verfasste Gesellschaft von Weimar und die Unfähigkeit der Parteien von links bis rechts, dem Unheil zu steuern.“ Hinzu kamen „zivilisationskritische Überlegungen, die in Deutschland seit je auf breite Resonanz gestoßen waren“, die Kritik an der `Vermassung´ und `Verstädterung´, am Sündenfall der `Säkularisierung´ samt dem um sich greifenden `Materialismus´.

So hielt auch Goerdeler die Überwindung des Parteienstaates durch eine straffere, wenn nicht sogar autoritäre Führung für unerlässlich. Jedoch geriet Goerdeler „auf der als notwendig erkannten Suche nach dem politischen und moralischen Minimalkonsens, ohne den ein Staat nicht überdauern könne … nicht selten in jene Utopiebereiche `konfliktfreier´ Ordnungen, die der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie beängstigend nahekamen.“


Prozess zum 20. Juli 1944: Goerdeler am 8. September 1944 als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof in Berlin

Für Hannah Arendt offenbart sich hier eine demokratieskeptische Tendenz im deutschen Widerstand, die gut erkennbar ist als die „Fortsetzung der antidemokratischen Opposition von Weimer, … die sich jetzt, nach dem mitverschuldeten Untergang der Republik, paradoxerweise auch noch auf Hitler berief, um ihre reaktionären Absichten durchzusetzen.“

Dies spiegelt auch der Verfassungsentwurf Goerdelers wider:  Danach sollte nach dem Sturz der Diktatur ein aus drei Personen gebildeter Regentschaftsrat die exekutive Gewalt übernehmen und ein Verfassungsrat die „Majestät des Gesetzes“ wieder herstellen. Natürlich hieß es, dass dieses halbdiktatorische Regime nur für eine Übergangsphase einzusetzen sei, doch deren Ende war nirgendwo festgelegt und von freien und gleichen Wahlen war nirgends die Rede.

Auch wenn die Verfassungsideen Goerdelers im Laufe der Zeit variierten, die Grundlinie jedoch blieb durchgängig erhalten: „eine stark gouvernementale Tendenz, die den `Reichsinstanzen´ großes Gewicht einräumte und vor allem die Mitsprachebefugnisse des Parlaments auf eine mehr oder minder kontrollierende Funktion beschränkte.“

Es gehört wohl zu den offenen Widersprüchen zwischen seinem Denken und den konkreten Plänen, dass Goerdeler niemals von den aus der Weimarer Zeit stammenden Erfahrungen und Ängsten vor dem Volk, dem „demos“, freikam. Zwar war Goerdeler nach Aussage des Philosophen Theodor Litt, der mit zum Umkreis der Goerdeler-Gruppe gehörte, ein klar denkenden und gradlinig wollender Mensch, der fest daran glaubte, dass es nur der verständigen Aufklärung und der wohlmeinenden sittlichen Belehrung bedürfe, um die Menschheit von etwaigen Irrtümern anzubringen. Gleichwohl blieben trotz seines prinzipiellen Vernunftglaubens Begriffe wie „Parteienmacht“, „Parteienzersplitterung“ und „Parteienegoismus“ für Goerdeler Vokabeln, deren Schreckbilder durch seine eigenen Verfassungsüberlegungen geisterten.

Versucht man sich abschließend einen Überblick über die Entwürfe zu verschaffen, wird man ein Weltbild von durchaus antimodernen Zügen erkennen, „das sich den egalitären Tendenzen moderner Industriegesellschaften ebenso leidenschaftlich entgegenstemmte wie dem Pluralismus der politischen und sozialen Interessen.“

Goerdeler war der trügerischen Illusion verfallen, die partiellen gesellschaftlichen Teilinteressen und Egoismen durch das veraltete Bild einer gemeinschaftsbestimmenden Ordnungsidylle einzusammeln und so für das Ganze der Nation dienstbar zu machen. In diesem Sinne besaßen die nationalkonservativen Vorstellungen einen durchaus utopischen Impuls in Richtung auf die „gute alte Zeit“, von der man freilich weiß, das sie niemals das war, was die Formel ausdrückt – eine „gute alte Zeit“.

Gedenktafel für Carl Friedrich Goerdeler, Sybelstraße 2-3, Berlin-Charlottenburg


Zitate aus: Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, München 1997 (btb Verlag)   -   Weitere Literatur: Marianne Meyer-Krahmer: Carl Goerdeler und sein Weg in den Widerstand. Eine Reise in die Welt meines Vaters. Freiburg 1989 (Herder)   -    Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1984 (Deutsche Verlagsanstalt)

Donnerstag, 6. März 2014

Hannah Arendt und der Versuch, das Handeln durch das Herstellen zu ersetzen

Hannah Arendt

Im Jahre 1958 veröffentlichte Hannah Arendt ihr philosophisches Hauptwerk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, eine Theorie des politischen Handelns vor dem Hintergrund der Geschichte politischer Freiheit und selbstverantwortlicher aktiver Mitwirkung der Bürger am öffentlichen Leben.

Arendt zufolge habe jedes Individuum die Aufgabe, in Verbindung mit anderen Personen die Welt zu gestalten. Dabei stehen dem Menschen drei „Grundtätigkeiten“ zur Verfügung: Arbeiten, Herstellen und Handeln (griech. πόνος, ποίησις und πρãξις).

Während die Arbeit das „Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung“ sichert, errichtet das Herstellen „eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält.“ 

Das Handeln – in enger Verbindung mit dem Sprechen - schließlich, „soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte“ (18).

Handeln und Sprechen finden im öffentlichen, im politischen Raum statt, denn sie „bewegen sich in dem Bereich, der zwischen Menschen qua Menschen liegt, sie richten sich unmittelbar an die Mitwelt, …wenn es sich um Dinge handelt, welche die Welt angehen, also den Zwischenraum, in dem Menschen sich bewegen und ihren jeweiligen, objektiv-weltlichen Interessen nachgehen. Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was `inter-est´, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden“ (224)

Arendt zufolge kam dies besonders klar und deutlich in der griechischen Polis zum Ausdruck. Hier zeigte sich, dass bevor das Handeln überhaupt beginnen konnte, ein begrenzter Raum fertig- und sichergestellt werden musste, „innerhalb dessen die Handelnden dann in Erscheinung treten konnten, der Raum des öffentlichen Bereichs der Polis, dessen innere Struktur das Gesetz war“ (244).

Unsterblicher Ruhm: Die Akropolis von der Pnyx aus gesehen (Foto: Paideia)

So bestand die Aufgabe der Polis im Hinblick auf das Handeln und Sprechen darin, Gelegenheiten herbeizuführen, „durch die man den `unsterblichen Ruhm´ erwerben konnte, bzw. die Chancen zu organisieren, unter denen ein jeder sich auszeichnen und in Wort oder Tat zur Schau stellen konnte, wer er in seiner einmaligen Verschiedenheit war“ (247).

Abschließend hält Arendt fest: „Die antike Einschätzung des Politischen wurzelt in der Überzeugung, dass die Einzigartigkeit des Menschen als solchen im Handeln und Sprechen in Erscheinung tritt und sich bestätigt, dass ferner diesen Tätigkeiten, trotz der ihnen eigenen Flüchtigkeit und materiellen Ungreifbarkeit, eine potentielle Unvergänglich eignet, weil sie sich von sich aus der andenkenden Erinnerung der Menschen einprägen“ (263). Daher ist für Arendt der öffentliche Raum in einem spezifischeren Sinn `das Werk des Menschen´ (Aristoteles) als es das Werk seiner Hände (Herstellen) oder die Arbeit seines Körpers (Arbeit) jemals sein können.

Arendt hat jedoch niemals ihre Augen vor der Tatsache verschlossen, dass die Tätigkeiten des Handelns und Sprechens, auf eine eitle Betriebsamkeit hinauslaufen können, dass also auch Politik nutzlos und unproduktiv sein kann.

In der langen Geschichte der Polemik gegen die Demokratie
Platon
hat es daher immer wieder Versuche gegeben, das Herstellen – in diesem Fall einer Herrschaftsordnung, die „ohne Politik“ auskommt - an die Stelle des Handelns zu setzen. Platons Staatsphilosophie steht für solch einen Versuch.

Bei Platon besteht der erste Schritt in diese Richtung darin, Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen und seine Zuflucht zur Monarchie – der Ein-Herrschaft – zu nehmen. Platons Vorschlag, einen Philosophen-König zur Herrschaft zu berufen, der dann mittels seiner „grenzenlosen Weisheit“ die praktischen Schwierigkeiten der Politik so auflöst, als handele es sich um Erkenntnisprobleme, ist gleichwohl eine deutlich tyrannische Spielart der monarchischen Lösung.

Denn nicht Grausamkeit, so Arendt, ist das „Merkmal der Tyrannis, sondern die Vernichtung des öffentlich politischen Bereichs, den der Tyrann aus Weisheit – weil er sich, und vermutlich sogar zu Recht, einbildet, es besser wissen – oder aus Machthunger für sich monopolisiert, dass er also darauf besteht, dass die Bürger sich um ihre Privatangelegenheiten kümmern und es ihm, dem Herrscher überlassen, sich der öffentlichen Geschäfte anzunehmen“ (280).

Im Werk „Der Staatsmann“ von Platon findet sich die theoretisch kürzeste Version der Bestrebungen, das Handeln durch Herstellen einer „Herrschaft der Besten“ zu ersetzen. Hier teilt Platon erstmals die Menschen in solche ein, die wissen und nicht tun, und solche, die tun und nicht wissen, was sie tun.

Diese Trennung von Wissen und Tun hat sich bis heute als Wurzel aller Herrschaftstheorien erhalten, denn Platon identifiziert Wissen mit Befehlen und Herrschen und Tun als Gehorchen und Vollstrecken von Befehlen.

Auch Platons Ideenlehre beeinflusst in hohem Maße den Versuch, das Handeln durch das Herstellen zu ersetzen, denn zwischen dem Gebrauch der Ideen als „Modelle des Herzustellenden und ihrem Gebrauch als Maßstäbe für praktisch-politisches Verhalten ist kein großer Unterschied“ (287).

Wird also die Konzeption der Ideen auf das Politische angewandt, dann scheint es, als könne der Philosophen-König auf Grund seiner Erfahrungen im Bereich der „Ideen“, die Mannigfaltigkeit menschlicher Taten und Worte mit der gleichen, „objektiven“ Gewissheit abmessen, beurteilen und ihnen Richtlinien vorschreiben, die dem Handwerker eigen ist, wenn er Gegenstände herstellt (288).

Die Polis ist für den Philosophen-König letztlich nichts anderes als die Statue für den Bildhauer.

Herstellen eines Herrschaftssystems: "Das Volk im Zukunftsstaat" (Illustration zu dem Buch "Der Zukunftsstaat" von Friedrich Eduard Bilz, 1904)

Es verwundert nicht, dass sich Platons Vorstellungen hervorragend für die Konstruktion politischer Utopien eignen. In all seinen Utopien geht es Platon daher vornehmlich um die technische Regelung und das mechanische Herstellen des menschlichen Zusammenlebens.

Diese Hoffnung, Handeln durch Herstellen ersetzen zu können, „und die ihr innewohnende Degradierung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höheren, jenseits des Politischen gelegenen Zweckes – im Altertum des Schutzes der Guten vor der Herrschaft der Schlechten im allgemeinen und des Schutzes der Philosophen für der Herrschaft des Mobs im speziellen, im Mittelalter des Seelenheils, in der Neuzeit der Produktivität und des Fortschritts der Gesellschaft – sind so alt wie die Tradition politischen Denkens“ (292)

Und dennoch verwundert es nicht, dass Platons  - aber nicht nur Platons - Utopien immer sofort an der Wirklichkeit scheitern – und eben nicht an äußeren Umständen und Bedingungen –  sondern „an der Realität des menschlichen Bezugsgewebes, das technisch nicht kontrollierbar ist“ (289).


Zitate aus: Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (piper)