Donnerstag, 24. Februar 2022

Frank Furedi und die verborgene Geschichte der Identitätspolitik (Teil 1)


Auf den ersten Blick erscheint Identitätspolitik (engl. identity politics) sympathisch. Laut gängiger Definition hilft sie marginalisierten Gruppen, negative Fremdzu-schreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und ihnen eine positive Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Die Anliegen von Gruppen, z.B. Farbige, Homosexuelle oder Frauen, die sich diskriminiert fühlen, sollen für den Rest der Gesellschaft hörbar und sichtbar gemacht werden. Es geht darum, Anerkennung und Respekt für ihr spezifisches Anderssein einzufordern. 

Die in dem von Johannes Richardt herausgegebenen Sammelband „Die sortierte Gesellschaft“ versammelten Autoren sind jedoch skeptisch gegenüber dieser Auffassung. Der Sammelband ruckt die Schwächen des Konzepts in den Fokus, übt Kritik und bezieht klar Position gegen Identitätspolitik. 

"Die sortierte Gesellschaft" (2018)

Denn unabhängig von der persönlichen politischen Orientierung gibt es gute Gründe, ein Denken abzulehnen, „das kulturelle Fragen politisiert und gleichzeitig politische Fragen kulturalisiert. Ein Denken, das Menschen anhand gruppen-spezifischer Merkmale in Schubladen einsortiert und so nicht nur zwischen-menschliche Solidarität, sondern auch substanzielle politische Debatten erschwert.“

Frank Furedi gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die „verborgene Geschichte der Identitätspolitik“, deren Verlauf er in vier Phasen einteilt. 

Im späten 18. Jahrhundert beginnt die erste Phase der Identitätspolitik. „In dieser Zeit bezog die Politisierung der Identität ihre Kraft aus der konservativen Reaktion gegen den Universalismus der Aufklärung. Diese Gegenaufklärung verdammte die Idee menschlicher Universalität und behauptete, nur die Identität bestimmter Völker oder Gruppen sei von Bedeutung.“

In Deutschland, allen voran der Philosoph Johann Gottfried Herder (1744–1803), sprach die konservative Bewegung der Romantik den kulturellen Unterschieden eine wesentlich größere Authentizität zu als den abstrakten Bindungen des Universalismus. Herder fing den partikularistischen Geist der neuen romantischen Verehrung kultureller Identität ein, denn ihm zufolge würde jedes Volk durch seine Kultur definiert. So habe auch jedes Volk folglich seine individuelle Identität und einen „eigenen Geist“.

In Frankreich bezeichnete Joseph de Maistre, ein reaktionärer Politikphilosoph, die Ideale der Menschenrechte als „abstrakten Unsinn“, denn „den Menschen an sich“, so behauptete er, gebe es schlicht nicht: „Ich habe Franzosen, Italiener und Russen kennengelernt, aber was den Menschen betrifft, dem bin ich nie begegnet.“

Während die Romantik auf besonders erhabene Verschiedenheiten von Identität rekurriert und die identitären Merkmale feierte, die mit dem vermeintlich einzigartigen Geist der unterschiedlichen Völker verbunden wurden, inspirierte die diese Auffassung im 19. Jahrhundert den Nationalismus. In seiner berühmten Rede „Was ist eine Nation?“ beschrieb Ernest Renan „Nation“ als „eine Seele, ein spirituelles Prinzip“.

"Man schließt sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein, man begrenzt sich. Man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts ist schlimmer für die Zivilisation." (E. Renan)

Die Menschen, die sich der Tradition der Aufklärung und dem kritischen Denken verpflichtet fühlten, widersprachen den Ideen, nach denen, „durch Biologie und die natürliche Ordnung von Geburt an bestimmt ist, wer man ist.“ Vielmehr würden sich die Menschen selbst zu dem machen, was sie sind. Auf diese Weise aber entwickelte die Aufklärung ein universelles Bewusstsein, das das Erleben einzelner Individuen, aber auch einzelner Gruppe überstieg. 

Im Nationalsozialismus nahm die Vergötterung der Identitätspolitik in der Verbindung aus Nationalismus und Rassismus eine der extremsten Formen an. Nach dem 2. Weltkrieg war die Indentitätspolitik daher zunächst diskreditiert und es dauerte einige Jahrzehnte, bis sie allmählich wiederbelebt wurde.

Nach Meinung Furedis beginnt die zweite Phase der Geschichte der Identitäts-politik, als in den 60er Jahren in den USA Teile der Bürgerrechtsbewegung zu dem Schluss kamen, „dass der richtige Weg in der Politisierung einer schwarzen Identität läge. Andere Gruppen und Minderheiten wählten ähnliche Vorgehensweisen, um neue Rechte zu gewinnen. Um die Rechte und Freiheiten zu erlangen, die ihnen bislang verwehrt blieben, konzentrierten sich Bewegungen (…) deshalb auf spezifische Alleinstellungsmerkmale“ der eigenen Gruppe.

Nicht zuletzt die kulturellen Konflikte über Lebensstile und Werte, die in den 1960er Jahren losbrachen und in den 1970er Jahren an Fahrt gewannen, förderten die „Logik einer Gegenkultur, wonach alles Persönliche politisch sei. (…) Obwohl sich radikaler Befreiungsrhetorik bedient wurde, war die Hinwendung zur Identitätspolitik im Kern konservativer Natur. Eine Empfindsamkeit, die das Besondere zelebrierte und dem Streben nach universellen Werten mit Misstrauen begegnete. Die Politik der Identität konzentrierte sich auf das Bewusstsein des Selbst und seine Wahrnehmung. 

"Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“

Identitätspolitik war und ist die Politik des `Alles dreht sich um mich´.“ Diese neue Sensibilität fand unübersehbaren Ausdruck in dem Begriff des „Cultural Turn“. „Das augenfälligste Merkmal des Cultural Turn war die Sakralisierung der Identität. Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018

Donnerstag, 17. Februar 2022

Mark Lilla und die Kritik der Identitätspolitik


Für Ralph Schneider und die vielen Gespräche 
über die Fallstricke des Identitären

Der us-amerikanische Politikwissenschaftler und Publizist Mark Lilla (* 1956) ist seit 2007 Professor für Ideengeschichte an der Columbia University in New York City. Er gilt als einer der schärfsten Kritiker der Identitätspolitik in den USA. Sein Essay mit dem Titel „The End of Identity Liberalism“, der am 2016 in der New York Times erschien, hat starke Gegenreaktionen ausgelöst und ist ein gutes Beispiel für die Vehemenz, mit der Identitätsbewegte mittlerweile den politischen Diskurs prägen. 

Mark Lilla und seine Kriitk an der Identitätspolitik (2017)


Nach Lilla gibt es zwei Arten von Identitätspolitik. „Einmal die alte Identitätspolitik, bei der es sich tatsächlich um eine Form der Interessenpolitik handelt. Bei der frühen Bürgerrechtsbewegung oder der frühen Frauen- oder Homosexuellen-bewegung wurden Menschen mobilisiert, die das gemeinsame Ziel hatten, für ihre Interessen innerhalb unserer politischen Institutionen zu kämpfen. Ihnen ging es darum, innerhalb unserer Institutionen langfristig etwas zu bewegen.“ 

Seit den 1980er Jahren aber habe sich schrittweise die Ausrichtung auf das Indi-viduum verschoben, weg von gemeinsamen Eigenschaften und einer Vorstellung davon, wie wir zusammen eine gemeinsame Agenda verfolgen können. So ginge es in der aktuellen Identitätspolitik „mehr um Selbstentfaltung, Selbstbehauptung und Selbstfindung. Somit ist der politische Horizont junger Leute, die in dieser Atmosphäre aufwachsen, auf Themen beschränkt, die die zufällige Definition ihrer Identität betreffen.“

Dies habe Lilla zufolge zu einer Art „innerer narzisstischer Wende“ geführt, „die von Gleichgültigkeit begleitet ist und vom Unverständnis dessen, wie sich politisch tatsächlich langfristig etwas erreichen lässt. Diese Wendung nach innen und die damit einhergehende Radikalisierung haben zu einer sehr subjektivierten Politik geführt.“

Über politische Ziele und Positionen könne man mit anderen diskutieren, eigene Argumente und Gründe vorbringen. Wenn aber die politische Position aus der Frage erwächst, wie man sich im Intimleben definiert und wie man seine subjektiven Erfahrungen begreift, wird man kein großes Interesse daran entwickeln, sich mit Leuten auseinanderzusetzen, die sehr kritisch sind. „Man wird dann sehr sensibel, sieht sein Ich angegriffen, nicht seine Argumente oder seine politische Haltung. Sobald das passiert, werden Menschen gleichgültig und wenden sich nicht nur von der praktischen Politik ab, sondern werden auch in politischen Debatten intolerant.“

Für Lilla ist genau diese Haltung - die subjektive Wende in der Politik - einer der Gründe für die teilweise hysterisch geführten politischen Debatten an US-Universitäten, wenn es darum geht, kritische Leute zum Schweigen zu bringen oder die vehement vorgetragene Forderung nach „Safe Spaces".

Aber auch das schulische Bildungssystem ist schon längst nicht mehr frei von identitären Elementen. Kindern würde schon in sehr jungen Jahren ihre „Identität“ vermittelt. So habe der Staat New York Curricula-Empfehlungen für Programme ab der Grundschule veröffentlicht. „Ein Vorschlag ist, dass die Kinder ein Tagebuch über ihre Identität führen – im Kindergarten, ab sechs Jahren. Jedes Jahr fügen sie Dinge hinzu, sodass ein kleines Leseheftchen darüber entsteht, wie sie verschie-dene Aspekte ihrer Identität entdeckt haben, ihren ethnischen Hintergrund, später ihr Geschlecht usw..“ 

Identität wird immer stärker als „das geheime innere Ich“ konstruiert, „als der kleine Homunkulus, der das wahre Ich bildet und aus all dem Beiwerk besteht, das man beliebig mitnehmen oder fallenlassen kann. Diese Identitäten sollen beschützt und kultiviert und nicht angegriffen werden.“

Identität, "der kleine Homunkulus, der das wahre Ich bildet"
oder auch "das geheime, innere Ich"

Lilla interpretiert auch die Wahlniederlage von Hillary Clinton gegen Donald Trump im Jahr 2016 unter dem Einfluss der Identitätspolitik. Hillary Clinton sei „hinge-gangen und hat über all die Gruppen gesprochen, die zu den Lieblingen der Demokratischen Partei gehören – bestimmte Minderheiten, Gendergruppen, Frauen usw. (…)Aber sie hat allerhand Menschen im Land außen vorgelassen. Rund 20 Prozent der US-Amerikaner halten sich selbst für Evangelikale – sie hat Religion in dieser Weise überhaupt nicht erwähnt. Ungefähr 37 Prozent des Landes liegen im Süden – sie hat den Süden nie direkt angesprochen. Am Ende hatte sie eine kleine Sammlung bevorzugter Identitäten und hat andere ausgelassen. Wenn man die ganze Zeit über diese Gruppen spricht, ist es unvermeidlich, dass Leute, die zu keiner dieser Gruppen gehören, sich entweder ausgeschlossen fühlen (deshalb sollte man besser jeden erwähnen) oder ein Gruppenbewusstsein entwickeln, sofern sie keines haben – wenn jeder zu einer Gruppe gehört, dann müssen sie das auch tun.“

Natürlich sei es in einem demokratisch verfassten politischen System normal, dass es verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Interessen gibt. Man könne allerdings auch über Interessen sprechen, ohne das Wort Identität auch nur in den Mund zu nehmen. „Afroamerikaner haben einige gemeinsame Anliegen und das ist ziemlich normal. Es ist wichtig, dass die Leute in die alltägliche politische Arbeit einbezogen werden. Dazu gehört: einer Partei beitreten, Kompromisse schließen und eine Rhetorik finden, die Wähler anzieht. Es ist außerdem notwendig, allgemeine Prinzipien zu formulieren, die für verschiedene Gruppen in unterschiedlicher Weise gelten. Es kommt darauf an, dass sich alle an diese Prinzipien gebunden fühlen.“ 

Für Lilla geht es bei seiner Kritik an der Identitätspolitik ebenfalls darum, zwei grundlegende politische Prinzipien wieder ins Bewusstsein zu rufen. „Eines ist gesellschaftliche Solidarität, das andere gleicher Schutz durch das Gesetz.“ „Am Beispiel eines arbeitslosen Fabrikarbeiters in Ohio, dessen Kind opiatsüchtig ist und dessen Wohnort den Bach runter geht, lässt sich Solidarität erklären: Solidarität bedeutet, dass wir sie unterstützen. Weil Bürger keine totgefahrenen Tiere am Straßenrand sind. Andererseits gibt es den schwarzen Autofahrer, der die Nase voll davon hat, ständig von der Polizei angehalten zu werden, weil er schwarz ist. Ihm kann man erklären, dass das Prinzip des gleichen Schutzes durch das Gesetz auch für ihn gilt. Unterschiedliche Gruppen haben also verschiedene Interessen und Anliegen, aber die allgemeine Botschaft gilt für alle.“

Lilla selbst stellt sich in die Tradition des Art bürgerschaftlichen Liberalismus, d.h. einer Form des Liberalismus, „der auf der Vorstellung basiert, dass wir alle Bürger sind. Und als Bürger steht uns nicht nur etwas zu, sondern wir haben auch Pflichten gegenüber anderen Bürgern. Es handelt sich um eine bürgerschaftliche Pflicht. 

Bei der Individualisierung und Atomisierung unserer Gesellschaften und bei der Individualisierung unserer politischen Rhetorik fällt der gesamte Bereich der Verpflichtungen hinten runter. Es fehlt der Ansatz, dass man in einer Gesellschaft sowohl Pflichten als auch Rechte hat.“


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018

Donnerstag, 10. Februar 2022

Jürgen Habermas und die deliberative Demokratie (Teil 2)

(Fortsetzung vom 02. Februar 2022)

Vernünftiger Konsens, aber auch machtvolle Konflikte, die lebhafte Debatte, das Ringen um die beste Lösung für ein politisches Problem, der friedliche Austausch von Argumenten und das Bemühen, den Anderen zu überzeugen, das alles sind Elemente einer weit verbreiteten Vorstellung von Demokratie. 

Das Modell einer „deliberativen“ Demokratie – also einer vernünftig argumentie-renden, debattierenden, überlegenden Demokratie - formuliert nicht so sehr einen konkreten Typus politischer Herrschaft und auch nicht eine neue Variante demokratischer Praxis neben der repräsentativen oder der direkten Demokratie. „Vielmehr geht es um ein eher abstraktes Konzept, mit dem Philosophen und Sozialwissenschaftler die Demokratie dem Grunde nach definieren wollen, nicht zuletzt im normativen Sinne des Wünschbaren: Gut und überzeugend wäre eine Demokratie dann, wenn sie sich dem deliberativen Ideal möglichst weitgehend annähert.“ 

Jürgen Habermas (*1929)

Für Jürgen Habermas schlägt das Modell der deliberativen Demokratie  „eine Brücke zwischen der freien und vernünftigen Verständigung einerseits – dem `Diskurs´ – und der demokratischen politischen Ordnung des Staates auf der anderen Seite. Das Miteinanderreden eroberte die Sphäre der Politik; Demokratie konnte als ein Prozess der Kommunikation gedacht werden, in dem sich Bürgerinnen und Bürger begegnen, Argumente austauschen und sich nach Abwägung aller Gründe auf die von allen für richtig gehaltene Lösung einigen.“

Deliberative Demokratie lässt sich also etwa in der Mitte zwischen einer `liberalen´ und einer `republikanischen` Vorstellung von Demokratie verorten. Aus dem republikanischen Modell übernimmt Habermas die Vorstellung einer politischen Selbstorganisation der Gesellschaft. Demnach sind Menschen von Natur aus politisch, gerade auch im Sinne einer Verpflichtung auf die gemeinsamen Interessen, d.h. ihnen wohnt eine solidarische Grundhaltung inne. Aus Sicht des liberalen Demokratiemodells warnt Habermas zugleich „vor überfrachteten Erwartungen an den tugendhaften Bürger und besteht auf dem Eigengewicht von Institutionen, und damit eines demokratischen Staates, der seine Bürgerinnen und Bürger auch in der Privatsphäre schützt, statt sie nur für ein ethisch-politisches Gemeinwohl in Anspruch zu nehmen.“

Für Habermas steht daher zwischen den liberalen Institutionen einerseits und der republikanischen Volkssouveränität andererseits die kommunikative Vernunft, die sich in den deliberativen Verfahren der Demokratie entfaltet. „Damit kommt Habermas auch zu einer salomonischen Entscheidung im Streit um den Vorrang privater und öffentlicher Sphäre: Private (also liberale) und politische (also republikanische) Autonomie sind gleichermaßen fundamental und aufeinander bezogen. Als negativen Beleg führt er totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts an, die nicht nur die politische Freiheit der Partizipation zerstörten, sondern auch in die Privatsphäre eindrangen und zugleich die Zivilgesellschaft lahmlegten.“

Deliberative Demokratie zielt letztlich darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur alle vier Jahre wählen gehen, sondern auch zwischendurch ihre Forderungen an Parlament und Regierung herantragen, so dass die staatlichen Organe die Wünsche der Bürger beständig in sich aufnehmen können. „Hinter der Theorie wird also eine Wunschvorstellung, aber auch eine praktische Veränderung von Demokratie deutlich, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Die Übertragung von Macht an Repräsentanten genügt nicht mehr; Abgeordnete und Regierung werden nicht erst am Wahltag, am Ende der Legislaturperiode, zur Rechenschaft gezogen, sondern müssen sich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern permanent rechtfertigen; und nicht nur summarisch, sondern für einzelne Positionen und Entscheidungen.“

Im Zentrum steht dabei der Begriff „Verantwortlichkeit“ oder „accountability“ (zu dt. „Rechtschaffenspflicht“). „Zugleich organisieren sich die Bürger zwischen den Wahltagen in Initiativen, klagen vor Gericht gegen politische Entscheidungen, demonstrieren gemeinsam auf der Straße und setzen die Institutionen damit unter Druck. Solche für die postklassische Demokratie charakteristischen Prozesse bildet Habermas’ Konzept einer deliberativen Demokratie also ab, ohne dass es die Bedeutung von Rechtsstaat und Parlament, von Regierung und verbindlichen Entscheidungen damit geringschätzt.“

In der deutlichen Akzentuierung von Kommunikation, Verständigung und Diskurs spiegelt sich eine bis heute grundlegende Praxis von Demokratie: Die Fähigkeit, zu diskutieren und Meinungsunterschiede auszutragen, zu widersprechen zu lernen und damit autoritären Mechanismen von Befehl und Gehorsam zu widerstehen. Die Lust an der Debatte wirkte über die privaten und lebensweltlichen Verhältnisse hinaus auch wieder in die öffentliche Kommunikation zurück. „An die Stelle einer vornehmlich vertikalen und zentralisierten Kommunikation trat die horizontale Vernetzung einer Gesellschaft im ständigen Gespräch miteinander – ob in der Familie, wo der Vater nicht mehr in knappen Worten bestimmte, oder unter Freunden, die alles bereden mussten, oder in der Politik, wo Debatten (…) zuweilen kaum ein Ende finden konnten.“

Kommunikation, Verständigung und Diskurs

Natürlich hat das deliberative Konzept auch Kritiker gefunden. So wurde Habermas der Vorwurf gemacht, er gehe von sehr idealisierten Annahmen aus. „Begegnen sich die Bürgerinnen und Bürger so frei und zwanglos, wie es Habermas gerne sehen möchte; sind nicht die Chancen des Zugangs und der Teilhabe, trotz formal gleicher Voraussetzungen, sehr unterschiedlich verteilt: nach Bildung, Herkunft, sozialer Schichtzugehörigkeit? Verläuft der Diskurs – gerade in der Politik – tatsächlich so, dass egoistische Eigeninteressen hinter der allgemeinen Vernunft zurückstehen müssen und im Laufe der rationalen Diskussion ausgesiebt werden, bis ein Ergebnis der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit feststeht? Ist es, selbst wenn es möglich wäre, überhaupt wünschenswert, sich auf einen Konsens hin zu verständigen und die Pluralität unterschiedlicher Standpunkte dabei hinter sich zu lassen?“

Es sei sogar fatal, sich allzu schnell eine allgemeine Übereinstimmung im Konsens herbeizuwünschen und auf diese Weise das nötige konflikthafte Aufeinandertreffen von Überzeugungen und Interessen zu vermeiden. „Freiheit komme im Konflikt zum Ausdruck, nicht im Konsens, und Demokratie lebe von Konflikten in einer pluralistischen Gesellschaft, hielt deshalb Ralf Dahrendorf, liberaler intellektueller Gegenspieler von Jürgen Habermas, den Menschen immer wieder vor.“

Aus neomarxistischer Perspektive war es vor allem die belgische Politikwissen-schaftlerin Chantal Mouffe, die zuletzt die deliberative Demokratie scharf kritisiert hat. Sie wirft dem „moderaten Linken“ Habermas die Vernachlässigung der realen Machtverhältnisse vor, in denen sich herrschaftsfreier Diskurs nicht entfalten könne. „Für ihr konflikt- und kampforientiertes Verständnis von Politik nimmt sie sogar Carl Schmitt zum Vorbild, den deutschen Vordenker von Liberalismus- und Demokratiekritik auf der radikalen Rechten. Politik sei immer Kampf, auch in der Demokratie, und dürfe nicht mit angewandter Ethik verwechselt werden. Denn es geht nicht um die gemeinsame Findung richtiger und vernünftiger Positionen, sondern um die Verteilung von Macht in asymmetrischen Situationen. Auch die liberale Vorstellung eines pluralistischen Interessenkonflikts auf gleichsam neutralem Terrain sei realitätsblind. In jeder Gesellschaft gebe es eine Vormachtstellung herrschender Kräfte, eine `Hegemonie.“ Daher können sich die an den Rand gedrängten schwachen, unterdrückten, ausgegrenzten Kräfte nicht in einen rationalen Diskurs begeben, sondern sie müssen aufbegehren, um die Verhältnisse der Hegemonie zu verändern!

Man hat gegen Mouffe eingewendet, „dass sie von der starren, letztlich Marxschen Vorstellung antagonistischer Verhältnisse nicht loskommt, von einer Entgegen-setzung von Herrschenden und Beherrschten, die den komplizierten Verhältnissen westlicher Gesellschaften schon lange nicht mehr entspricht. Gleichwohl erinnert sie daran: `Eine gut funktionierende Demokratie erfordert den lebhaften Zusammenstoß politischer Positionen.´“

Überraschenderweise lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen Habermas und Mouffe, zwischen der deliberativen Demokratie und dem `agonistischen Pluralismus´ entdecken, denn beide folgen einem prozeduralen Verständnis von Demokratie, d.h., „das Verfahren gewinnt an Bedeutung gegenüber den Institutionen, sei es als Prozess der vernünftigen Konsensfindung oder des machtgeprägten Konfliktes.“ In beiden Konzepten vollzieht sich Demokratie vorrangig partizipatorisch, „in einer aktivbürgerschaftlichen und zivilgesellschaft-lichen Arena der freien Meinungsäußerung, der lebhaften Debatte und der Rechenschaftspflicht demokratischer Herrschaftsträger auf Zeit.“

Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)

Donnerstag, 3. Februar 2022

Jürgen Habermas und die deliberative Demokratie (Teil 1)

Vernünftiger Konsens, aber auch machtvolle Konflikte, die lebhafte Debatte, das Ringen um die beste Lösung für ein politisches Problem, der friedliche Austausch von Argumenten und das Bemühen, den Anderen zu überzeugen, das alles sind Elemente einer weit verbreiteten Vorstellung von Demokratie. 

Sicher kann Demokratie nicht nur in Institutionen bestehen, denen die Bürger für eine bestimmte Zeit ein Mandat zur Machtausübung verleihen, aber ohne Institutionen geht es auch nicht. „Denn einen ursprünglichen politischen Willen des `Volkes´ gibt es nicht, und wo man sich auf ihn berufen hat, diente das eher der Rechtfertigung von Diktaturen. Individuen müssen, als private Personen, in ihren Grund- und Freiheitsrechten geschützt werden. Aber sie sind immer auch politische Bürgerinnen und Bürger, die in einer öffentlichen Arena handeln und diskutieren.“

Von dieser Prämisse aus lässt sich Demokratie daher vornehmlich als ein Prozess verstehen, in dem alle Beteiligten mit gleichen Chancen vernünftig über Fragen des Gemeinwohls argumentieren, mit dem Ziel möglichst breiter Übereinstimmung statt rascher Entscheidung durch Mehrheitsbildung, die eine Minderheit zum Verlierer macht. 

Jürgen Habermas (*1929)

Im Kern handelt es sich bei dieser „deliberativen“ Demokratie – also einer vernünftig argumentierenden, debattierenden, überlegenden Demokratie - nicht so sehr um einen konkreten Typus politischer Herrschaft und auch nicht um eine neue Variante demokratischer Praxis neben der repräsentativen oder der direkten Demokratie. „Vielmehr geht es um ein eher abstraktes Konzept, mit dem Philosophen und Sozialwissenschaftler die Demokratie dem Grunde nach definieren wollen, nicht zuletzt im normativen Sinne des Wünschbaren: Gut und überzeugend wäre eine Demokratie dann, wenn sie sich dem deliberativen Ideal möglichst weitgehend annähert.“ 

Neben dem amerikanischen Sozialphilosophen John Rawls wurde das Modell der deliberativen Demokratie in der politischen Theorie und Philosophie Europas und Amerikas in den letzten 30 Jahren vor allem von Jürgen Habermas vertreten.

„Der 1929 geborene Philosoph und Soziologe hat in seinem 1992 erschienenen Buch ´Faktizität und Geltung´ eine Theorie der Demokratie und des Rechtsstaats ausgearbeitet, die seither viel diskutiert worden ist. Aber schon in viel früheren Arbeiten hat Habermas über die Bedingungen und Formen politischer Teilhabe nachgedacht. So hob er bereits 1962 die Bedeutung einer freien, weder von politischer Macht noch von kapitalistischen Marktinteressen gesteuerten Öffentlichkeit hervor. Was die Aufklärung im 18. Jahrhundert ermöglicht hatte, geriet später unter den Druck von Bürokratie, Kapitalismus und Massenmedien. Seitdem trieb ihn die Frage um, wie Menschen sich in modernen Gesellschaften frei verständigen, wie sie ungezwungen miteinander kommunizieren können.“ 

Die Antwort auf diese Frage formuliert Habermas in einem Hauptwerk von 1981, der `Theorie des kommunikativen Handelns´. Einerseits sah Habermas auf einer grundlegenden Ebene die Vernunft, nach der das Projekt der Moderne seit der Aufklärung strebte, in der Praxis des Kommunizierens, des Miteinander-Sprechens, realisiert: „Wo Menschen sich sprechend aufeinander einlassen, müssen sie sich `guter Gründe´ bedienen, die das Gegenüber überzeugen (statt überreden oder bezwingen) können. Dafür müssen sie den eigenen Standpunkt verlassen, sich auf den Anderen und vor allem auf solche Argumente einlassen, die allgemeine Zustimmung finden können.“

Habermas versteht damit nicht die unkritische Anwendung des Mehrheitsprinzips. „Am Ende des kommunikativen Prozesses steht die Einigung auf diejenige Position, die im Säurebad der Argumente als die für alle vernünftige übriggeblieben ist.“ Das Problem sieht Habermas darin, dass eine solche freie Verständigung jedoch in den mächtigen, anonymen Systemen der Moderne keinen Platz finden konnte, weder in dem von Macht geprägten bürokratischen Staat, noch in der vom Geld gesteuerten kapitalistischen Ökonomie. 

Kommunikatives Handeln: Die Praxis des Miteinander-Sprechens

Andererseits konnten sich auf einer sozialen Ebene freie Verständigungs-verhältnisse, die dem Staat und der Wirtschaft vorgelagert waren, in einer freien Lebenswelt etablieren, im privaten Leben, aber auch in der Öffentlichkeit, und in der `Zivilgesellschaft´, ein Konzept, auf das Habermas seit Anfang der 90er Jahre zunehmend zurückgriff.

Damit schlug Habermas zugleich „eine Brücke zwischen der freien und vernünf-tigen Verständigung einerseits – dem `Diskurs´ – und der demokratischen politischen Ordnung des Staates auf der anderen Seite. Das Miteinanderreden eroberte die Sphäre der Politik; Demokratie konnte als ein Prozess der Kommunikation gedacht werden, in dem sich Bürgerinnen und Bürger begegnen, Argumente austauschen und sich nach Abwägung aller Gründe auf die von allen für richtig gehaltene Lösung einigen.“

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)