Donnerstag, 19. Januar 2017

Agathokles und die nackte Gewalt

Bertrand Russell (1872 - 1970)
Für den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell ist „Macht“ die primäre Triebkraft menschlichen Handelns und damit der entscheidende Faktor der Geschichte. Diese Überzeugung vertritt Russell zumindest in seiner grundlegenden Abhandlung, die mit dem schlichten Titel „Power“ erstmals 1938 in London und in deutscher Übersetzung 1947 veröffentlicht wurde.

Russell beschreibt und analysiert Macht in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen, darunter auch die verschiedenen Formen von »nackter« Gewalt, das heißt „von einer Art Macht, die keinerlei Zustimmung vonseiten des Untertanen beinhaltet. Von solcher Art ist die Macht des Schlächters über die Schafe, einer eingedrungenen Armee über eine besiegte Nation und der Polizei über entdeckte Verschwörer. Die Macht der katholischen Kirche über Katholiken ist traditionell, aber ihre Gewalt über Ketzer, die verfolgt werden, ist nackt. Die Macht des Staates über loyale Bürger ist traditionell, seine Gewalt über Rebellen jedoch ist nackt.“ 

Besondere Aufmerksamkeit schenkt Russell in diesem Zusammenhang den antiken Tyranneien von Syrakus, „weil sie sowohl eines der vollkommensten Beispiele für nackte Gewalt bieten als auch Plato beeinflussten, der mit dem älteren Dionys in Streit geriet und aus dem jüngeren einen Schüler zu machen suchte.“ Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Laufbahn des Agathokles, eines Zeitgenossen Alexanders des Großen, der von 361 bis 289 vor Christi Geburt lebte und während der letzten achtundzwanzig Jahre seines Lebens Tyrann von Syrakus war.

Syrakus war die größte griechische Stadt, vielleicht die größte Stadt am Mittelländischen Meer. Auch in Syrakus, wie in jeder anderen griechischen Polis, begünstigten die Reichen die Oligarchie und die Armen die Demokratie. Wenn die Parteigänger der Demokratie siegten, machte ihr Führer gewöhnlich sich selbst zum Tyrannen.

Zeichnung einer Büste, die vermutlich
Agathokles darstellt
Musei Vaticani, Sala dei Busti
Agathokles war ein Mann von niederer Abstammung, der Sohn eines Töpfers. „Seiner Schönheit wegen wurde er der Favorit eines reichen Syrakusers mit Namen Demas, der ihm all sein Geld vermachte und dessen Witwe er heiratete.“ Nachdem Agathokles sich dann auch noch im Krieg ausgezeichnet hatte, glaubten viele, er würde nun die Tyrannei anstreben. Er wurde daher nicht nur aus Syrakus verbannt, sondern es wurde zusätzlich angeordnet, dass er auf seiner Reise ermordet werden sollte.

Agathokles jedoch sah dieses Komplott voraus, wechselte mit einem Armen die Kleider, der dann fälschlich von den gemieteten Mördern getötet wurde. Agathokles sammelte hierauf im Innern von Sizilien ein Heer, was die Syrakuser so erschreckte, dass sie mit ihm einen Vertrag schlossen: Er wurde wieder aufgenommen und leistete im Tempel der Ceres den Eid, dass er nichts zum Schaden der Demokratie unternehmen würde.

Die Regierung von Syrakus scheint zu dieser Zeit eine Mischung von Demokratie und Oligarchie gewesen zu sein. Es gab einen Rat der Sechshundert, der aus den reichsten Leuten bestand. Agathokles nahm sich der Sache der Armen gegen diese Oligarchen an. Im Lauf einer Unterredung mit vierzig von ihnen stachelte er die Soldaten auf und ließ alle vierzig ermorden. Darauf führte er das Heer in die Stadt und befahl ihm, die Häuser der Sechshundert zu plündern. Dies geschah, und außerdem massakrierte man Bürger, die aus ihren Häusern kamen, um zu sehen, was da geschehe.

Der antike Historiker Diodorus schrreibt: „Ja, die in die Tempel, unter den Schutz der Götter flüchteten, selbst sie waren nicht sicher; sondern die Frömmigkeit gegen die Götter wurde von der Grausamkeit der Menschen geschändet: und all das wagten Griechen gegen Griechen im eigenen Land und Verwandte gegen Verwandte mitten im Frieden ohne Achtung gegen die Gesetze der Natur oder der Sippe der Götterverehrung frevelhaft zu begehen: auf welche Nachricht nicht nur Freunde, sondern sogar Feinde und jeder vernünftige Mann das Elend dieser Entarteten nur bemitleiden konnte.“

Nach einem zweitägigen Massaker rief Agathokles schließlich die Volksversammlung zusammen, klagte die Oligarchen an und sagte, er werde die Stadt von allen Freunden der Monarchie reinigen, er selbst aber werde sich ins Privatleben zurückziehen.

Das Volk aber wollten ihn weiterhin an der Macht haben, und er wurde zum alleinigen Befehlshaber ernannt. Dabei spielten individuelle Interesses häufig ein größeres Gewicht als die Sorge und das Gemeinwohl, wie Diodorus feststellt: „Viele von den Ärmeren, von jenen, die Schulden hatten, waren mit der Revolution sehr zufrieden“, denn Agathokles versprach Schulderlass und Landverteilung für die Armen.

Agathokles Macht und die Anwendung nackter Gewalt über überdauerte all diese Missetaten. Er eroberte weitere Städte in Sizilien, darunter Segesta, tötete alle ärmeren Männer der Stadt und folterte die Reichen, bis sie das Versteck ihrer Schätze verrieten. Die jungen Frauen und Kinder verkaufte er als Sklaven.

Der Hera-Tempel in Segesta (Sizilien)

Trotz aller „Erfolge“ war sein Privatleben alles andere als glücklich. Seine Frau hatte mit seinem Sohn eine Affäre, einer seiner Enkel ermordete den anderen und brachte später einen Diener des alten Tyrannen dazu, Agathokles Zahnstocher zu vergiften.

Als Agathokles sah, dass er sterben müsse, war seine letzte Handlung, den Senat zusammenzurufen und Rache gegen seinen Enkel zu fordern. Aber sein Gaumen war durch das Gift so wund geworden, dass er nicht mehr sprechen konnte. Die Bürger erhoben sich, er wurde - bevor er tot war - auf seinen Begräbnisscheiterhaufen befördert, seine Güter wurden eingezogen, und die Demokratie wurde, wie man sagt, wiederhergestellt.

Für Russell zeigt dieses historische Beispiel, dass nackte Gewalt in der Regierung einer Gemeinschaft, die nicht fremden Eroberern unterworfen ist, unter zwei verschiedenen Gruppen von Umständen auftritt. Zunächst einmal dort, wo zwei oder mehr fanatische Ideologien um den obersten Rang im Wettstreit liegen. Diese Form wird gemeinhin als „revolutionäre Gewalt“ bezeichnet. Weiterhin kommt es zu nackter Gewalt, wenn alle traditionellen Ansichten im Verfall begriffen sind, ohne dass andere neue sie ersetzt haben, so dass persönlichem Ehrgeiz keine Grenzen gesetzt sind.

Zitate aus: Bertrand Russell, Macht, Zürich 2010 (Europa Verlag)

Donnerstag, 5. Januar 2017

Theodor Storm und das Christentum

Hans Theodor Woldsen Storm ist hinlänglich als Schriftsteller, Lyriker und als Autor von Novellen und Prosa des deutschen Realismus mit norddeutscher Prägung bekannt. Weniger bekannt ist seine ablehnende Haltung gegenüber jeder Religion im Allgemeinen und gegenüber dem Christentum im Besonderen. 

Theodor Storm (1817 - 1888)
Als Norddeutscher ist Storm evangelischer Konfession und nimmt die kirchlichen Akte zu Taufe, Konfirmation, Eheschließung und Beerdigung als selbstverständlich und notwendig - aber nur, wenn sie ihn nicht persönlich betreffen. Sein Sohn Hans wird später dreimal in der Woche zum Religionsunterricht geschickt. Man feiert die Konfirmation der Kinder.

Unübersehbar aber ist Storms fundamentale Gegnerschaft zur Kirche. Sie gründet sich wohl auf sein Heidentum in seinem friesischen Thule, wie auch Thomas Mann meinte.

Ihre genauere Gründung hat sie in der Ablehnung der kirchlichen Glaubensbotschaft: "Jesus Christus, Gottes Sohn, nehme das Kreuz auf sich für die Sünden der Welt, leide und sterbe dafür, erstehe vom Tod auf, fahre auf gen Himmel, sitze dort zur Rechten Gottes, von woher er kommen werde, um Lebende und Tote zu richten. Der Glaube an den Heiligen Geist, an die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben, Amen."

Dieser Glaube fehlt Storm, ja er lehnt ihn heftig und kräftig ab und bringt ihn in seinem Gedicht »Crucifixus« auf den Punkt:

Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,
Mit Blut besudelt und geschmäht;
Dann hat die stets jungfräulich reine
Natur das Schreckensbild verweht.

Doch die sich seine Jünger nannten,
Die formten es in Erz und Stein,
Und stellten’s in des Tempels Düster
Und in die lichte Flur hinein.

So, jedem reinen Aug’ ein Schauder,
Ragt es herein in unsere Zeit;
Verewigend den alten Frevel,
Ein Bild der Unversöhnlichkeit.

Die Verse zielen mit ihren Giftpfeilen auf die Jünger, also auf die Kirche. Der Mann hat nie christlich geglaubt; in dem Gedicht »Crucifixus« hat er dem Kreuzeszeichen eine Antipathie bewiesen, die an Mephistos Worte erinnert: Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil / Allein genug, mir ist’s einmal zuwider …, schreibt Thomas Mann in seinem Storm-Essay.

Storm kennt Goethes Faust sehr gut; Mephisto hat ihm mit seiner Antwort auf Faustens Frage Was gibt’s Mephisto, hast du Eil? Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder? im »Urfaust« aus der Seele gesprochen.

Storm hatte bei der Vereidigung auf die preußische Verfassung zu Gott dem Allmächtigen und Allwissenden das Ende der Eidesformel in actu corporali geschworen und »selbst gelesen, genehmigt, unterschrieben« mit Hans Theodor Woldsen Storm.

Wie mag ihm, dem Kirche wie Adel das Gift in den Adern der Nation bedeuten, zu Mute gewesen sein, als er diesen Eid schwört? Das Wort »Gott« oder »Herr« geht ihm sonst leicht über die Lippen; in seinen Briefen taucht es immer wieder auf in Floskeln wie »So Gott will« oder »Das weiß nur Gott«; auch in seinen Gedichten: Du hast sie, Herr, in meine Hand gegeben.

Die Eidesformel, war für ihn wohl nicht nur reine Firmsache, auch wenn er sie mit voller, fester Stimme spricht. Was ihn runterzieht, ist das dienen, was ich nie gekonnt habe, wozu er nun aber als Gerichts-Assessor verpflichtet ist. Die Heimat erscheint ihm in der Fremde als Hort der Freiheit, diese Freiheit ist ihm nun genommen. Dienen und Freiheit ist für den preußischen Beamten kein Widerspruch; Storm kann da nicht folgen, insofern ist ihm die Eidesleistung ein verhängnisvoller Akt.

Storms Wohnhaus in Husum

Ein weiterer Beweis für Storms kirchenfeindliche Haltung ist der Umgang mit dem Tod seiner Ehefrau Constanze. Den Sarg tragen Mitglieder des Gesangvereins. Flieder und Rotdorn stehen in voller Blüte. Zur Familiengruft auf dem St.-Jürgen-Friedhof gehen sie zehn Minuten; eine winzige Trauergemeinde marschiert im heraufdämmernden Frühsommermorgen. Storms Bruder Aemil und sein drei Söhne begleiten Storm. Neben Storm geht sein ältester Sohn, Hans. 

So schildert es Ingrid Bachér (*1930), eine Storm-Urenkelin, in ihrem dokumentarischen Roman über den Stormsohn Hans: Zur Beerdigung ging sein Vater allein mit ihm, auf ihn gestützt hinter dem Sarg her, der in die Familiengruft gebracht wurde, morgens früh um drei, als die Stadt noch schlief. Der Witwer trug einen weißen Hut und schrie zuweilen vor Schmerz, während der Junge ihn ruhig und verzweifelt hielt. Die Urenkelin wird das nicht erfunden haben; so wird es gewesen sein.

Storm folgt seinem Eigensinn und seiner Überzeugung und stellt sich öffentlich gegen das bürgerlich Übliche. Ihn trägt sein aristokratischer Stolz und die familiäre Tradition: kein Pastor, keine Predigt, kein kirchliches Begräbnis, kein Gebet, kein Lied. So soll es sein, so ist es mit Constanze verabredet.

Zu Hause habe Storm dann stundenlang Klavier gespielt, schreibt Gertrud. Musik ist ihm Trost wie die Poesie. Noch am selben Abend schreibt er das Gedicht »In der Gruft bei den alten Särgen«.

In der Gruft bei den alten Särgen
Steht nun ein neuer Sarg,
Darin vor meiner Liebe
Sich das süßeste Antlitz barg.


Den schwarzen Deckel der Truhe
Verhängen die Kränze ganz;
Ein Kranz von Myrtenreisern,
Ein weißer Syringenkranz.


Was noch vor wenig Tagen
Im Wald die Sonne beschien,
Das duftet nun hier unten:
Maililien und Buchengrün.


Geschlossen sind die Steine,
Nur oben ein Gitterlein;
Es liegt die geliebte Tote
Verlassen und allein.


Vielleicht im Mondenlichte,
Wenn die Welt zur Ruhe ging,
Summt noch um die weißen Blüten
Ein dunkler Schmetterling.



Zitate aus: Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert, München 2013 (Hanser)