Sonntag, 27. November 2011

Lukian und die Paideia


„Lukians Traum“ gehört ohne Zweifel zu den schönsten Erzählungen des Altertums. Sie wurde von Lukian aus Samosata im 2. Jh. verfasst und trägt eindeutig autobiographische Züge. 

Lukians Traum (Druck Valentin Curio, Basel 1522)

Lukian erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der als Lehrling in eine Bildhauerwerkstatt eintritt, aber schon am ersten Tag eine Steinplatte zerbricht und dafür furchtbar verprügelt wird.

In der folgenden Nacht hat er einen Traum, in dem ihm zwei göttlich anmutende Frauen erscheinen: Die eine der beiden, die Bildhauerkunst, verspricht dem jungen Mann ein Leben häuslicher Redlichkeit, das zu einem guten Auskommen und Verehrung durch die Menschen führe. Die andere Frau, die Bildung (Paideia), lockt den Mann mit folgenden Worten:

„Ich, mein Sohn, bin die Bildung. (…) Folgst du mir, so werde ich dich vor allen Dingen mit allem, was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewundernswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben, und überhaupt mit allem, was wissenswert ist, bekannt machen.

Dein edelstes Teil, dein Herz, werde ich mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit, mit der Liebe zum Schönen und mit dem Streben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer, unvergänglicher Schmuck. (…) mit einem Worte, ich will dich in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Zeit, vollständig unterrichten.“ (19)

„Lukians Traum“ ist der berühmten Erzählung „Herkules am Scheideweg“ des Sophisten Prodikos von Keos (5. Jh. v. Chr.) nachgebildet, die Xenophon in seinen „Erinnerung an Sokrates“ überliefert hat. Während Herkules jedoch zwischen der Tugend und der Lust wählen muss, steht der junge Mann hier vor der Entscheidung, sein weiteres Leben einem ehrlichen Handwerk oder der Bildung zu widmen.

Nur: Worin besteht diese Bildung, von der Lukian hier spricht?

Zum einen handelt es sich ein Wissen, das durch Lektüre und Studium der literarischen Werke der „Vergangenheit“ erworben wird. Dieser rhetorische Unterricht gehörte in der Antike zur ganz normalen schulischen Grundausbildung.

Zum anderen zielt Paideia auf eine ethische Bildung, auf die Aneignung eines an Werten orientierten Denkens und Handelns. Dies geschah meist unter der Anleitung eines Philosophielehrers, der nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch durch seine Persönlichkeit und Autorität, durch Glaubwürdigkeit und Charisma auf seinen Schüler und dessen Lebensführung einwirken sollte.

Paideia beruht also gleichermaßen auf theoretischem Studium wie auf praktischer Übung und Aneignung - und sie ist niemals nur Mittel zum Zweck. Sie ist weder eine Rolle, die man je nach Bedarf spielt, noch eine Maske, die man zu bestimmten Gelegenheiten aufsetzen kann.

Paideia ist vor allem gelungenes Leben, sie ist das Ideal einer Bildung, die den gesamten Menschen und seinen Charakter durchdringt wie eine zweite Natur. Die Hingabe an dieses Ideal aber erfordert eigene Urteilskraft ebenso wie die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen.

An diesem Grundgedanken der Bildung hat sich bis heute nicht viel verändert.

P.S. Der junge Mann entschied sich natürlich ebenso wie Lukian für die Paideia.


Zitate aus: Lukian: Der Lügenfreund und andere phantastische Erzählungen. Bibliothek der Antike, München 1990 (dtv)

Weitere Literatur: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke, Bibliothek der Alten Welt, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler) --- Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Düsseldorf 2003 (Artemis und Winkler)

Montag, 21. November 2011

Hellas und die Kulturbildung aus Freiheit


Immer wieder wird in wichtigen politischen Debatten die Frage nach der kulturellen Identität Europas aufgeworfen. Darin eingeschlossen ist die Frage, welchen Anteil die antike Tradition an der kulturellen Identität Europas besitzt und worin das Eigene und Unverwechselbare in der kulturellen Innovation der Griechen bestand.

Für Christian Meier steht fest, dass das Neue, das mit den Griechen in die Welt kam, eine „Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft" (97) war.

Akropolis und Areopag in Athen (Leo von Klenze - 1846)

Nicht die Durchsetzung einer starken nationalen Herrschaft prägte die politische Kultur der Griechen, sondern die Aufrechterhaltung vieler kleiner, selbstständiger politischer Einheiten, den Poleis. Die Folge davon war, dass viele Aufgaben, die in anderen Staaten an entsprechende zentrale Organe oder Institutionen delegiert wurden, nun von den Bürgern der Polis selbst erledigt werden mussten.

Kulturbildung bedeutet hier zunächst, die Lebensverhältnisse in jeder dieser weitgehend eigenständigen Städte zu verbessern, und das hieß folglich, die Menschen mit immer mehr Kenntnissen, Fähigkeiten auszustatten und eine entsprechende Ordnung zu schaffen, die diese Ziele möglich machte.

Folglich brauchten die Mitglieder dieser Gemeinwesen bei allem Individualismus einen hohen Grad an Verantwortung für das Gemeinsame.

Getragen wurde diese Verantwortungsbereitschaft von einem „Können-Bewusstsein“ (Meier, Entstehung, 469), dem Bewusstsein der ungeheuren Möglichkeiten des menschlichen Geistes und der menschlichen Handlungsfähigkeit. Im Wesentlichen handelte es sich um eine Zunahme des technischen Könnens, der téchnē. Durch téchnē wird der Mensch „Herr über die Dinge.“

Dies galt größtenteils auch in der Politik: In einer demokratischen Ordnung hatten die Bürger ebenfalls „die Dinge in der Hand.“ Es wurde offen diskutiert, beschlossen und ausgeführt.

So entwickelte sich eine Kultur des rationalen Argumentierens - die Voraussetzung schlechthin für die Fähigkeit, die Herausforderungen der Polis gemeinsam zu bewältigen und die Gegensätze zu regulieren, die in einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft unweigerlich auftreten.

Mit der Poliskultur war also die Entfaltung einer Lebensform verbunden, die in zunehmendem Maße individuelle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit erforderte und auch ermöglichte.

Die weitere Entwicklung der Polis – vor allem im 5. Jahrhundert – führte dazu, eine Ordnung in der Polis zu etablieren, die „sich selbst trägt – im Zusammenspiel der Bürger.“ (104) Diese Ordnung musste den Bürger notwendigerweise auch rational vermittelt werden, denn „zu diesem Gemeinwesen gehörte ein Menschenschlag, der frei sein und seine Antriebe frei ausleben wollte“ (101) und der letztlich auch überzeugt werden wollte.

Alle diese Entwicklungen führten also zur Entdeckung des Bürgers, zu seiner politischen Gleichheit und zu seiner bürgerlichen Verantwortung.

Sicher gab es eine Fülle von Fragen. Aber Kunst und Literatur, Geschichtsschreibung, Wissenschaft und philosophischer Diskurs nahmen sie auf und bemühten sich, kreative Antworten zu finden. Oft genug bestanden die Fragen weiter, ja es „ist geradezu eine Leidenschaft des Fragens am Werk.“ (109)

Letztlich handelt es sich bei dem Erbe der griechischen Antike also um die erste „große kulturelle Manifestation eines sehr freien, sehr unabhängigen, sehr offenen und daher sich selbst in Frage stellenden Menschentums.“ (112)

Diese Kultur der Freiheit, der Verantwortung und der Offenheit sowie der konsequente Gebrauch der Vernunft hat Europas Kultur zweifellos stark geprägt.

Zitate aus: Christian Meier: Die griechisch-römische Tradition, in: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hgg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005 (Fischer)
Weitere Literatur: Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980 (Suhrkamp)

Dienstag, 15. November 2011

Karl Raimund Popper und die Kritik an der utopischen Sozialtechnik


Brecht (1954)
Im Jahre 1930 erscheint das Lehrstück „Die Maßnahme“ von Bertholt Brecht. Darin treten vier kommunistische Agitatoren vor das Parteigericht (den "Kontrollchor"), um sich für die Ermorderung ihres jüngsten Genossen zu rechtfertigen. Ihre Mission hatte darin bestanden, in China Propaganda zu betreiben:

„In der Stadt Mukden halfen wir den chinesischen Genossen und trieben Propaganda unter den Arbeitern. Wir hatten kein Brot für den Hungrigen, sondern nur Wissen für den Unwissenden, darum sprachen wir von dem Urgrund des Elends, merzten das Elend nicht aus, sondern sprachen von der Ausmerzung des Urgrunds.“ (259)

Sie gewinnen schnell Anhänger unter den chinesischen Arbeitern. Der junge Genosse ist jedoch nicht in der Lage, sich im Sinne der Revolution taktisch richtig zu verhalten, sondern zeigt immer wieder Mitleid:

„Hört, was ich sage: mit meinen zwei Augen sehe ich, dass das Elend nicht warten kann. Darum widersetze ich mich eurem Beschluß zu warten.“ (265)

Weil er dadurch die Arbeit der Gruppe gefährdet, beschließen die Agitatoren, den jungen Genossen zu ermorden, um nicht selbst von den Chinesen getötet zu werden.

„Also beschlossen wir: jetzt
abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper.
Furchtbar ist es, zu töten.
Aber nicht andere nur, auch uns töten wir,
wenn es nottut
Da doch nur mit Gewalt diese tötende
Welt zu ändern ist, wie
jeder Lebende weiß.
Noch ist es uns, sagten wir
nicht vergönnt, nicht zu töten. Einzig mit dem
unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern begründeten wir
die Maßnahme.“ (267)

Daraufhin setzen sie erfolgreich ihre Arbeit fort. Zurück in Russland müssen sie sich vor einem Parteigericht für die Tötung des jungen Genossen verantworten, werden aber freigesprochen:

„Welche Niedrigkeit begingst du nicht, um
die Niedrigkeit auszutilgen?
Könntest du die Welt endlich verändern, wofür
wärest du dir zu gut?
Wer bist du?
Versinke in Schmutz
Umarme den Schlächter, aber
ändere die Welt: sie braucht es!“ (263f)

In diesem Stück Bertolt Brechts geht es letztlich um die Tatsache, dass eine revolutionäre und utopische Politik notwendig moralische Grundsätze verletzen muss, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen. Viele sahen in „Der Maßnahme“ daher auch eine Rechtfertigung der stalinistischen „Säuberungen“ in der Sowjetunion.

In jedem Fall offenbart sich im Stück von Brecht eine Gesinnung, die Popper zu seinem Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" veranlasste und in dem er die utopische Technik der Planung und des Umbaus der Gesellschaftsordnung einer fundamentalen Kritik unterzog.


Die utopische Technik ist zunächst deshalb so gefährlich, weil sie jenen Historizismus beinhaltet, nach dem sich jede praktische politische Handlung ausschließlich an einem – bereits endgültig definierten -  historischen Endziel ausrichten muss.

Das Problem dabei ist, dass es unendlich schwierig ist, über einen in der fernen Zukunft liegenden Idealstaat zu reden. „Das soziale Leben ist so kompliziert, dass wahrscheinlich überhaupt niemand fähig ist, den Wert eines Bauplans für soziale Maßnahmen im großen Maßstab richtig einzuschätzen; ob er praktisch ist; ob er zu einer wirklichen Verbesserung führt; welche Leiden aller Wahrscheinlichkeit nach mit verbunden sind.“ (189).

Popper hält dagegen, das dass „jede Generation, also auch die jetzt lebende, ihre berechtigten Ansprüche hat … Den Leidenden steht ein Recht auf alle nur erdenkliche Hilfe zu.“ (188)

Anstatt zu versuchen, die dringlichsten Übel in der Gesellschaft auszumachen und sie zu beseitigen  - „Mit meinen zwei Augen sehe ich, dass das Elend nicht warten kann“, sagt der Genosse -, verschiebt der utopische Sozialtechniker das notwendige Handeln auf einen späteren Zeitpunkt.

Weiter verlangt der utopische Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates „eine streng zentralisierte Herrschaft einiger weniger; und er führt daher mit aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Diktatur.“ (190) Die komplette Um- und Neugestaltung einer Gesellschaftsordnung wird vielen Menschen über eine sehr lange Zeit nicht nur Unannehmlichkeiten, sondern wirkliches Leiden bereiten wird. Der utopische Sozialtechniker wird seine Ohren gegen Klagen verschließen müssen, er wird aber auch vernünftige Einwände unterdrücken: „Er wird wie Lenin sagen: ‚Man kann kein Omlett machen, ohne Eier zu zerbrechen.’“ 

Dazu noch einmal das Zitat aus „Der Maßnahme“:
„Furchtbar ist es, zu töten.
Aber nicht andere nur, auch uns töten wir,
wenn es nottut
Da doch nur mit Gewalt diese tötende
Welt zu ändern ist, wie
Jeder Lebende weiß.“

Für Popper ist die utopischen Sozialtechnik der Versuch, jegliche Vernunft in der Politik über Bord zu werfen. Das vorrangige Ziel, Ungerechtigkeit systematisch zu bekämpfen, wird „durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder“ (200) ersetzt. In dieser irrationalen Einstellung, „die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht“, zeigt sich ein Romantizismus, der einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen mag, der sich dabei aber immer an unsere Gefühle, niemals an die Vernunft wendet.

Es ist eben diese Gesinnung - die auch in dem Stück Bertolt Brechts deutlich wird -, die auch mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten unweigerlich dazu führt, "diese Welt in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“ (200)

Alle Zitate aus: Bertolt Brecht: Die Stücke in einem Band, Frankfurt am Mein 1982 (Suhrkamp) --- Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr / Siebeck)  ---  Eine utopiefreundliche Position vertritt Oskar Negt im Philosophischen Radio (WDR 5) vom 22.03.2013

Freitag, 11. November 2011

Noberto Bobbio und die Menschenrechte


Gedenkbriefmarke zum 100. Geburtstag Bobbios
Für Ralf Dahrendorf ist Noberto Bobbio ein “öffentlicher Intellektueller”, also jemand, der seinen Beruf darin sieht, nicht nur an den vorherrschenden öffentlichen Diskussionen der Zeit teilzunehmen, sondern auch deren Thematik zu bestimmen und ihre Richtung zu prägen.

Bobbio zufolge ist jeder Fortschritt der Menschheit stets damit verbunden, die Menschenwürde unter den jeweils sich verändernden Bedingungen institutionell zu schützen und jede Bedrohung der individuellen Freiheit abzuwehren. 

Von dieser Feststellung geht Bobbio aus, um seine Position in der Frage der Menschenrechte zu beschreiben. Entscheidend sei der aus dem naturrechtlichen Denken stammende Gedanke, demzufolge das Individuum und auf keinen Fall das Kollektiv der Ausgangspunkt der Rechtslehre ist. 

John Locke wird hier zur wichtigsten Quelle auch für die ersten Gesetzgeber, die sich an den Menschenrechten orientierten. Im Gegensatz zur Wolfsnatur des Menschen in der Konzeption des Naturzustandes bei Hobbes, geht John Locke davon aus, dass der Naturzustand ein „Zustand vollkommener Freiheit“ ist, in dem die Menschen innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes frei handeln können, „ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (Locke, Zweite Abhandlung, §4).

Lockes naturrechtlicher Ansatz ist Bobbio zufolge die Voraussetzung für eine „individualistische Konzeption der Gesellschaft“ und damit auch des Staates, im Gegensatz zu einer „organizistischen Auffassung, nach der das Ganze höher steht als die einzelnen Teile“ (51).

Die organizistische Auffassung des Staates sieht Bobbio schon in den antiken Werken der Staatsphilosopie: Sowohl in Platons „Nomoi“, als auch in Cicero „De legibus“ besteht „die vorrangige Aufgabe des Gesetzes, zu begrenzen, nicht zu befreien, die Freiheitsräume zu beschränken, nicht sie auszuweiten, den krummen Baum geradezurichten, nicht ihn wild wachsen zu lassen“ (48). Unter Androhung irdischer und himmlischer Strafen soll erwünschtes Verhalten erreicht und unerwünschtes Verhalten vermieden werden. „Gerecht“ ist ein Staat erst dann, wenn „Jeder das Seine“ tut, wenn jeder Teil des Staatsorganismus die ihm naturgemäß zugewiesene Aufgabe erfüllt.

Die individualistische Auffassung des Staates dagegen hat sich nur sehr allmählich durchgesetzt, „denn sie wurde meist als Quell von Unordnung, Zwietracht und Bruch mit der bestehenden Ordnung angesehen“ (51f)

Für Bobbio bedeutet „Individualismus“, dass an erster Stelle das Individuum steht, das schon für sich genommen einen Wert darstellt - erst dann kommt der Staat. In der Folge bedeutet dies, dass der Staat für das Individuum gemacht ist und nicht umgekehrt.

Unter dieser Perspektive muss auch das Verhältnis von Rechten und Pflichten definiert werden: „Für die Individuen kommen von nun an die Rechte an erster Stelle und erst dann die Pflichten, für den Staat hingegen zuerst die Pflichten und dann die Rechte.“ (53)

Der Begriff „Individualismus“ beschreibt also vor allem die von äußerer Beeinflussung freie Entfaltung des Individuums. Als „gerecht“ kann ein Staat gelten, wenn jeder Mensch seine Bedürfnisse befriedigen und seine selbstgewählten Ziele im Leben einschließlich des Wunsches, glücklich zu sein, verfolgen kann.

Der Gedanke, dass jedes Individuum als autonomes und prinzipiell gleichwertiges Wesen mit allen anderen Individuen auf der gleichen Ebene steht, bildet auch die Grundlage des demokratischen Prinzips "one man, one vote."

Demokratie aber ist jene Herrschaftsform, in der alle Bürger die Freiheit haben, über ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden, verbunden mit der Macht, dies auch durchzusetzen.

Menschenrechte sind damit genau die fundamentalen, unveräußerlichen und unverletzlichen Rechte, die diese individuelle Freiheit und Macht garantieren und schützen.

Die Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte, das Primat des Rechts über die Pflicht führt nun letztlich dazu, auch die einzelnen Menschenrechte nicht nur als noble Wunschvorstellungen zu begreifen, sondern als positives Recht.

In dem Maße, wie die Menschenrechte ins positive Recht integriert werden, werden sie zu tatsächlichen und angewandten Rechten - deren Geltung gleichwohl nur auf der Ebene des Einzelstaates garantiert werden kann. 

Dabei handelt es nicht nur um die Rechte, die dem Individuum als ökonomischem Subjekt zustehen - etwa als Inhaber von Rechten über Dinge und als Träger von Fähigkeiten, nicht nur um die Freiheitsrechte, sondern auch um die sogenannten öffentlichen Rechte, die charakteristisch für den Rechtsstaat sind.

In diesen Gedanken zeigt sich der liberale Geist Bobbios, dem jenes Verständnis von Freiheit zugrunde liegt, nach dem die Menschen ihr Leben eigenständig und selbstverantwortlich führen wollen – und der Staat die Aufgabe habe, eben dies zu garantieren.

Zitate aus: Noberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 2007 (Wagenbach)
Weitere Literatur: Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2008 (C.H. Beck) --- John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek)

Donnerstag, 10. November 2011

Mirandola und die Würde des Menschen


Im Jahre 1486 erschien ein Werk, das Jacob Burckhardt als „eines der edelsten Vermächtnisse der Renaissance“ bezeichnet hat: Die Rede ist vom Traktat „De hominis dignitate" (Über die Würde des Menschen) von Giovanni Pico della Mirandola.

Im Zuge der Neuinterpretation des Menschenbildes durch die Renaissance griff Mirandola gleichermaßen auf die biblische Tradition wie auf antike Autoren zurück. So interpretierte er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt in einer neuen Art und Weise: Die Menschenwürde erscheint nun nicht mehr nur statisch als eine Gabe der Natur des Menschen, sondern dynamisch als das Ergebnis der schöpferischen Kräfte des Menschen.

Konstitutiv für die Würde des Menschen ist nach Mirandola die Freiheit, mit der der Mensch als einziges Geschöpf von Gott selbst ausgestattet wurde.

So richtet Gott nach der Erschaffung des Menschen folgende Worte an ihn: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss hast und besitzest.“ (5)

Während die Natur das Leben der anderen Lebewesen also fest bestimmt und innerhalb ihrer Gesetze begrenzt hat, kann sich der Mensch seine Umgebung nach eigenem Ermessen, ohne jede Einschränkung und Enge selbst bestimmen.

„Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“ (7)

Hier kommt die Verherrlichung des Menschen und seiner kreativen Potenz in der Renaissance beispielhaft und wunderschön zum Ausdruck. Der freie Wille des Menschen ist demnach nicht nur die Voraussetzung für die Fähigkeit des Menschen, sich in der Welt nach eigenem Belieben frei zu bewegen, sondern begründet auch jede Form der individuellen Kreativität und persönlichen Selbstverwirklichung.

Die Gabe der Freiheit stellt den Menschen zugleich vor eine wichtige Entscheidung: Er kann „zum Niedrigen, zum Tierischen entarten“ aber auch „zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden“, je nachdem wie die „Seele des Menschen es beschließt“ (7)

Die Keime für jede Lebensform sind im Menschen bereits angelegt. Jetzt liegt es allein an der freien Entscheidung des Individuums, welche „ein jeder hegt und pflegt“, denn diese „werden heranwachsen und ihre Früchte in ihm tragen. Sind es pflanzliche, wird er zur Pflanze, sind es sinnliche, zum Tier werden. Sind es Keime der Vernunft, wir er sich zu einem himmlischen Lebewesen entwickeln.“ (7)

Mirandolas Freiheitsverständnis hat aber noch eine weitere Facette. Freiheit begründet nicht nur Bewegungs- und Handlungsfreiheit, nicht nur die Freiheit zur Selbstverwirklichung, sondern auch das eigene und selbstständige Denken.

Weil dieses Denken auf die Erkenntnis von Wahrheit abzielt, darf es sich nicht in einer bestimmten Lehr- oder Schulmeinung einschließen lassen.

“Ich aber habe mich selbst dahingehend unterwiesen, auf die Worte keines Meisters der Philosophie zu schwören, sondern meine Aufmerksamkeit auf alle auszudehnen, sämtliche Schriften zu durchforschen, alle Schulen kennenzulernen.“ (43)

Die Auseinandersetzung mit der Tradition wird sich also nur dann als fruchtbar erweisen, wenn sie zum Ausgangspunkt einer eigenen Denkleistung wird. Für Mirandola ist es ein Zeichen von Engstirnigkeit, „wenn man sich immer nur innerhalb der Grenzen einer einzigen Säulenhalle oder Akademie aufgehalten hat.“ (43). Letztlich verpasse man so auch die Besonderheiten, die jede Denkrichtung nun einmal in sich trage.

Es sei – so Mirandola im Anschluss an Seneca - schlicht unedel, „seine Weisheit nur aus einem Merkheft zu beziehen“, so als wäre die eigene naturgegebene Kreativität nicht ausreichend genug, um einen wahren Gedanken auch aus sich selbst hervorzubringen.

Auch im Denken zeigt sich also, ob der Mensch seine Freiheit „zum Höheren“ nutzt oder „zum Niedrigen“ verschwendet. 

Zitate aus: Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, herausgegeben und eingeleitet von August Buck, Hamburg 1990 (Meiner)
Weitere Literatur: Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, in: Das Geschichtswerk, Bd. 1, Frankfurt am Main 2007 (Zweitausendeins)

Mittwoch, 9. November 2011

John Locke und das Eigentum


Im Jahre 1690 erschienen die "Two Treatises of Goverment" von John Locke. Insbesondere in der „Zweiten Abhandlung“ formulierte Locke die Spielregeln des modernen Rechtsstaates, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Seine Überlegungen zum Naturrecht, zur Volkssouveränität, zu den Grund- und Freiheitsrechten, zur Gewaltenteilung und zum Widerstandsrecht führen direkt zu den modernen demokratischen Staaten unserer Zeit.

Wie alle Vertragstheoretiker geht auch Locke von einem hypothetischen Naturzustand aus. Nach ihm wird der Mensch mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und in völliger Gleichheit mit jedem anderen Menschen auf dieser Welt geboren (§ 87). 

Aber: Wenn der Mensch im Naturzustand so frei ist, wenn er sein absoluter Herr ist und niemandem untertan, warum soll er dann auf seine Freiheit verzichten? Warum soll er seine Selbständigkeit aufgeben und sich der Herrschaft und dem Zwang einer staatlichen Gewalt unterwerfen? (§123)

Der Naturzustand ist nach Locke ein Zustand, in dem „Vernunftgesetz“ herrscht, das den Menschen motiviert, aus dem Stadium der Vereinzelung herauszutreten und sich auf einen sozialen Zusammenschluss mit anderen Menschen einzulassen. Somit ist der Naturzustand im Gegensatz zu Thomas Hobbes zwar kein Zustand der Anarchie, gleichwohl ist es ein unsicherer Zustand, denn folgende Defizite lassen sich feststellen:

Im Naturzustand gibt es weder feststehende Gesetze, die durch allgemeine Zustimmung durch das Volk oder seine Vertreter als die Norm für Recht und Unrecht und als der allgemeine Maßstab bei Urteilen anerkannt sind (§124). Im Naturzustand fehlt es an anerkannten und unparteiischen Richtern, die mit der Autorität ausgestattet sind, alle Streitigkeiten nach den bekannten Gesetzen zu entscheiden (§125). Drittens fehlt im Naturzustand eine exekutive Gewalt, die die Ausführung des gerechten Urteils und der entsprechenden Strafe sichert (§126).

Der Grund für die Notwendigkeit dieser rechtsstaatlichen Elemente liegt für Locke in der Hauptaufgabe der staatlichen Gewalt begründet – dem Schutz des Eigentums.

Im Englischen steht der Begriff „Property“, dessen deutsche Übersetzung mit dem Begriff „Eigentum“ jedoch zu erheblichen Missverständnissen geführt hat. Locke fasst unter dem Begriff „property“ nämlich drei andere Begriffe zusammen: „Life“, „freedom“ und „estate“, also das Leben, die Freiheit und den Besitz.

Das „Eigentum“ des Menschen wird für Locke so zu einem unverletzbares Grundrecht des Menschen, das gleichermaßen die Integrität des Körpers, die Meinungs-, Handlungs- und Bewegungsfreiheiten umschließt wie den rechtmäßig erworbenen Besitz.

Da im Deutschen der Begriff „Eigentum“ fast ausschließlich das Sacheigentum beschreibt, wurde Locke in der Vergangenheit meist als Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft von Eigentümern, als Vertreter eines frühkapitalistischen Besitzindividualismus interpretiert und missverstanden.

Dagegen ist „Eigentum“ im Sinne Lockes immer zugleich auch „Rechtseigentum“. So wird der Schutz dieses Rechtes zur Hauptaufgabe des Staates.

Mit „goverment“ meint Locke jedoch nicht nur die exekutive Gewalt der Regierung, sondern die gesamt staatliche Rechtsordnung einschließlich aller Gewalten und Institutionen.

Damit entwickelt Locke nicht nur seine Lehre von der Legitimität politischer Macht, sondern entwirft auch das Bild eines Bürgers, der seine Freiheit und sein Recht selbstbewusst gegenüber allen anderen Mächten einfordert.

„Die Menschen würden doch nicht auf die Freiheit des Naturzustandes verzichten und sich selbst Fesseln anlegen, wenn es nicht darum ginge, ihr Leben, ihre Freiheiten und ihren Besitz zu erhalten und aufgrund fester Regeln für Recht und Eigentum ihren Frieden und ihre Ruhe zu sichern (…) Das hieße, sich selbst in eine schlimmere Lage zu versetzen, als es der Naturzustand war, in dem sie immerhin die Freiheit hatten, ihr Recht gegen das Unrecht anderer zu verteidigen.“ (§137).

Bedauerlicherweise haben heutzutage zuviele Staaten erhebliche Mühe, dem Grundgedanken und Anspruch Lockes gerecht zu werden - dass nämlich der Staat ein Werkzeug des Bürgers und nicht der Bürger ein Werkzeug des Staates ist.

Zitate aus: John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek)

Dike und die Anfänge der Herrschaft des Rechts


Der Ursprung des Polisgedankens liegt zweifellos in dem kritischsten und geistig beweglichsten Teil der griechischen Welt, in den kleinen Küsten- und Seefahrerstädten Ioniens. Die Erweiterung des Horizontes, Mobilität und persönliche Tatkraft führten zur Loslösung der individuellen Kräfte – auch und vor allem im politischen Leben.

Hier in Ionien sind zum ersten Mal die politischen Ideen durchgebrochen, die dann den Anstoß zur Neugestaltung des Staates gaben und in dessen Zentrum der Begriff der „Dike“ steht.

In der griechischen Mythologie steht „Dike“ für das Recht. Ihre Eltern sind Zeus und Themis („Satzung“), ihre Schwestern Eunomia („gute Ordnung“) und Eirene („Frieden“). Sie ist die Mutter von Hesychia („Ruhe“). Im Rahmen der sich entwickelnden politischen Reflexion steht „Dike“ zugleich für den Beginn des staatlichen Rechts im antiken Griechenland.

Im Dialog „Protagoras“ berichtet Platon, dass Zeus Hermes beauftragt, den Menschen den Respekt vor den Anderen („Aidos“) und das Recht („Dike“) zu bringen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein geordnetes und freundschaftliches Zusammenleben in den Städten möglich würde. Zeus hatte nämlich beobachtet, dass sich die Menschen in ihren Versammlungen gegenseitig beleidigten, „weil sie eben die staatsbürgerliche Kunst noch nicht hatten.“ Respekt und Recht aber sollten so verteilt werden, dass „alle daran teil haben“, andernfalls „könnten keine Staaten bestehen.“ (Protagoras 320c ff)


Dike und Nemesis verfolgen das Verbrechen (Pierre-Paul Prud'hon, 1808)

So hat Dike innerhalb der staatlichen Ordnung die Aufgabe, jede Missachtung der Gesetze anzuzeigen und eine Bestrafung einzufordern. Jeder Rechtsbruch zieht Unglück und göttliches Strafgericht nach sich wie umgekehrt die Achtung vor dem Gesetz zu Wohlstand und Wohlbefinden führt, wie es in der orphischen Hymne an die Dike zum Ausdruck kommt:

„Dikes Auge besing ich, die glanzschön alles erblicket,
und vom Himmel das Leben der Menschen beschaut,
die nach geltendem Recht Ungleiches wieder versöhnt.
Dike, welche das Unrecht straft,
tritt mit rächendem Fuß nur unrechtliche Werke
Feindin der Ungerechten, doch freundlich gesinnt den Gerechten.“
(Orphische Hymnen, 63: Der Dike)

Vorher hatte alle Rechtsprechung („Themis“, die Mutter Dikes) unbestritten in der Hand des Adels gelegen, der zumeist ohne die Hilfe geschriebenen Rechts urteilte, was häufig zu politischem Missbrauch des Richteramtes führte. In diesen Auseinandersetzungen wird das Recht - „Dike“ - zur Parole eines neuen Rechtsverständnisses, das auf geschriebenem Recht beruhte.

Geschriebenes Recht bedeutet auch so viel wie gleiches Recht für alle, unabhängig ob aus hohem oder niedrigem Stand kommend. Es ist der Gedanke der Isonomie, der hier durchscheint und der Rechtssicherheit durch Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.

Geschriebenes Recht dient somit auch der Versachlichung von Herrschaft. Wie es im Hymnus heißt, soll das „Recht Ungleiches wieder versöhnen“, also in den Spannungen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und ihrer Partikularinteressen vermitteln.

Man sagte „Dike geben und nehmen“, wobei der Schuldige „Dike gab“, also Schadensersetz leistete, der Geschädigte dagegen „Dike nahm“, so dass dessen Recht durch das Urteil wieder hergestellt wurde. Der Richter schließlich sprach das Urteil, er „teilt Dike zu.“ Bei jedem noch so kleinen Rechtsstreit – meist ging es dabei um Eigentumsfragen – bedurfte es also der Festlegung von Rechtsnormen, die bereits im Vorfeld feststanden, und auf deren Grundlage der Anteil jeder Partei gerecht bemessen werden konnte.

Isonomie aber enthält auch den Gedanken der Gleichberechtigung in Fragen der politischen Mitgestaltung, in der verfassungsmäßigen Gleichheit jedes Einzelnen in den Angelegenheiten des Staates, in der aktiven Beteiligung an der Rechtsprechung und schließlich in dem gleichen Anteil des einfachen Bürgers an den leitenden Ämtern des Staates.

„Das ist der fast paradoxe Erfolg des mit so unglaublicher Leidenschaft geführten Kampfes um das Recht und die Gleichheit des Individuums: im Gesetz schmiedet sich der Mensch eine neue strenge Fessel, die die auseinanderstrebenden Kräfte weiter zusammenhält. Der Staat drückt sich objektiv im Gesetz aus, das Gesetz wird König.“ (Jaeger, 152)

Dieser neue unsichtbare Herrscher zieht nicht nur die Rechtsübertreter zur Rechenschaft und schützt vor  den Übergriffen der Stärkeren, er greift auch mit seinen Reglungen positiv in alle Bereiche des Lebens ein, die früher der Willkür des Einzelnen offenstanden.

So entwickelt sich die Polis langsam zu einem Kollektivverband, dessen Ordnung auf Recht und Gesetz beruht. Ihre Bürger aber sind die konstitutiven Elemente, die „erzogen im Ethos der Gesetze“ aktiv im Staat und im öffentlichen Leben mitwirken, sich der Verantwortung als Bürger stellen und somit ihre Pflicht erfüllen.

Literatur: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1989 (de Gruyter) --- David Karl Phillipp Dietsch: Die Hymnen des Orpheus., Erlangen 1822 (Palm und Enke) --- Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980 (Suhrkamp)

Montag, 7. November 2011

John Rawls und die Fairness

Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind die wohl wichtigsten politischen Grundwerte, mit denen gleichermaßen das Leitbild eines vernünftigen Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft beschrieben, wie auch jede rechtsstaatliche Ordnung legitimiert wird.

Der enge Zusammenhang zwischen diesen Begriffen wurde erst während der Aufklärung hergestellt. Nachdem die Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen danach jedoch längere Zeit vernachlässigt worden war, war es John Rawls, der die Tradition der Aufklärung wieder aufnahm.

In seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) versucht er, liberale und wohlfahrtsstaatliche Gedanken miteinander zu verknüpfen. Wie seine Vorgänger in der Aufklärung geht auch Rawls davon aus, dass es in der Gesellschaft gültige Maßstäbe der Gerechtigkeit geben muss, die von den Bürgern legitimiert sind.

Diese Forderung verknüpft Rawls mit der Idee des Gesellschaftsvertrages. Wie die Aufklärer behauptet auch Rawls, dass die Menschen im Urzustand vernünftig sind, also nicht nur an ihrem eigenen Nutzen, sondern am Wohlergehen aller interessiert sind.

Er vertritt nun die These, dass sich die Menschen in einem gesellschaftlichen Urzustand auf folgende Gerechtigkeitsgrundsätze einigen würden:

„Einmal die Gleichheit der Grundrechte und –pflichten; zum anderen auf den Grundsatz, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.“ (31f)

Rawls folgt damit zunächst der traditionellen Forderung des Liberalismus nach möglichst viel individueller Freiheit auf der Grundlage formaler Rechtsgleichheit. Gleichwohl wird die Idee einer gerechten Gesellschaft ergänzt durch die Notwendigkeit, materielle Güter und Ressourcen fair zu verteilen, eine möglichst breite Chancengleichheit bezüglich Ämter und Positionen zu erreichen und schließlich soziale Unterschiede zumindest zu begrenzen.

Vor allem dieser letzte Anspruch stößt bei Liberalen wie Friedrich August Hayek auf Skepsis:

Mit dem sozialphilosophischen Ansatz Rawls´ wusste Hayek nur wenig anzufangen. Zwar findet er ihn auf den ersten Blick "unerhört plausibel", aber die Konsequenz aus dessen Gerechtigkeitskonzept wäre eine geplante Wirtschaft, die Hayek als utopische Forderung abtun muss. Rawls´ Schlussfolgerungen erscheinen ihm daher als der Versuch, etwas ändern zu wollen, das man doch nicht ändern kann: "Den Mond anbellen", wie Hayek das Anliegen von Rawls ´umfänglicher Theorie der Gerechtigkeit knapp bilanziert.

Für Rawls jedoch steht fest: „Die Gerechtigkeit eines Gesellschaftsmodells hängt wesentlich davon ab, wie die Grundrechte und – pflichten und die wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozialen Verhältnisse in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bestimmt werden.“ (24)

Nach den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen wären soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa unter­schied­licher Reichtum oder Macht, dann gerecht, wenn sich aus ihnen Vorteile für alle Bürger ergeben. So wäre es nicht ungerecht, wenn wenige zwar Vorteile haben, aber es gleichzeitig den nicht so Begünstigten auch besser geht.

Diese Idee könnte nach Rawls die faire Grundlage dafür sein, dass die Begabteren und sozial besser Gestellten - was beiden nicht als Verdienst angesehen werden kann - auf die bereitwillige Mitarbeit anderer rechnen können, sofern das Wohlergehen aller erreicht wird.

Auch wenn der Wohlstand niemals für alle gleich sein wird, wäre Gerechtigkeit verstanden als Fairness gleichwohl erfüllt.


Zitate aus: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2003 (Suhrkamp)
Weitere Literatur: Hans Jörg Hennecke: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000 (Verlag Wirtschaft und Finanzen) - Zum Hören: John Rawls im Philosophischen Radio auf WDR 5

Samstag, 5. November 2011

Friedrich August von Hayek und die Gleichheit

Kaum jemand wird öffentlich bestreiten wollen, dass Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die wichtigsten politischen Grundwerte sind, deren Verwirklichung zu den wesentlichen Aufgaben des Staates gehört. Dennoch ist zugleich die Annahme mehr als umstritten, dass Freiheit und Gleichheit miteinander verträglich sind und die gemeinsame Grundlage für Gerechtigkeit bilden.

Im Jahre 1944 erschien ein Buch, dass in dieser Frage eindeutig Partei ergriff zugunsten der individuellen Freiheit und damit vor allen Formen des Kollektivismus und totalitären Tendenzen in der Politik warnte. Die Rede ist von „Der Weg zur Knechtschaft“ von Friedrich August von Hayek. Das Buch, gewidmet "den Sozialisten in allen Parteien", wurde zum Bestseller und machte Hayek, der seit 1931 an der London School of Economics lehrte, mit einem Schlag berühmt.

Ausgangspunkt von Hayeks Überlegungen ist der Begriff des „Individualismus“, der wesentlich durch die Achtung vor dem Individuum als Menschen gekennzeichnet ist, auf keinen Fall aber mit Eigennutz und Selbstsucht verwechselt werden dürfe. „Dies ist gleichbedeutend mit der Anerkennung seiner Ansichten und seines Geschmackes als der letzten Instanz in seiner eigenen, wenn auch noch so begrenzten Sphäre und mit dem Glauben, dass die Entwicklung der individuellen Begabungen und Neigungen des Menschen wünschenswert ist.“ (33)

Die Argumentation von Hayek läuft letztlich darauf hinaus, dass die Kreativität und Innovation des Einzelnen nicht nur notwendig sind für gesellschaftlichen Fortschritt und wirtschaftlichen Wohlstand, sondern dass sie sich nur dann entfalten können, wenn der Staat möglichst wenig in die Freiheit des Individuums eingreift.

Diese individuelle Freiheit kann daher nur in einem Rechtsstaat garantiert werden, weil nur hier, „die Regierung in allen ihren Handlungen an Normen gebunden ist, die im Voraus festgelegt und bekannt gegeben sind – Normen, nach denen man mit ziemlicher Sicherheit voraussehen kann, in welcher Weise die Obrigkeit unter bestimmten Umständen von ihrer Macht Gebrauch machen wird und die es dem Individuum erlauben, sein persönliches Verhalten danach einzurichten.“ (101)

Der Spielraum der Exekutive ist nun so klein wie möglich zu halten. So wie jedes Gesetz die Freiheit des Individuums bis zu einem gewissen Grad begrenzt, haben die Gesetze im Rechtsstaat die Funktion, die Regierung in ihrer Macht dahingehend einzuschränken, die Pläne der Individuen zu behindern.

„Innerhalb der bestehenden Spielregeln kann das Individuum seine persönlichen Ziele und Wünsche verfolgen, ohne fürchten zu müssen, dass die Regierung ihre Macht dazu benutzt, seine Pläne absichtlich zu vereiteln.“ (102)

So ist allein der Rechtsstaat in der Lage, jene Gleichheit vor dem Gesetz zu garantieren, die das Gegenteil von Willkürherrschaft ist. Rechtsstaatliche Verhältnisse beruhen auf der Ausübung des formalen Rechts durch Gesetze, die eben keine Privilegien oder Vorrechte für einzelne – von der Regierung ausgewählte – Personen festschreiben.

Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist, dass Gleichheit notwendig als Rechtsgleichheit und eben nicht als materielle Gleichheit interpretiert werden muss.

„Eine notwendige und nur scheinbar paradoxe Schlussfolgerung … ist, dass die formale Gleichheit vor dem Gesetz sich im Widerstreit befindet, ja unvereinbar ist mit einer Politik, die bewusst die materielle und substantielle Gleichheit verschiedener Individuen anstrebt und dass irgendeine Politik, die sich direkt das substantielle Ideal der Verteilungsgerechtigkeit zum Ziel setzt, zur Zerstörung des Rechtsstaates führen muss.“ (109)

Die im ersten Moment vielleicht überraschende These beruht auf einer einfachen Logik: Wenn man versucht, die in einer Gesellschaft lebenden verschiedenen Individuen in die gleiche materielle Lage bringen will, so führt dies dazu, dass man sie notwendiger­weise verschieden behandeln muss. Das aber ist eben mit dem Gleichheitsgrundsatz des Rechtsstaates nicht vereinbar.

Die formale Gleichheit dagegen ermöglicht ja gerade jedem Individuum, innerhalb der geltenden Gesetze sein eigenes individuelles Glück zu suchen. Ein Rechtssystem, welches nicht auf formaler Gleichheit beruht, muss notwendig festlegen, welchen Lebensstandard die Menschen haben sollen – und dies ist wiederum nicht anders möglich als im Rahmen einer  diktatorischen Politik.

Natürlich leugnet Hayek nicht, dass es in einem Rechtsstaat auch wirtschaftliche Ungleichheit geben kann. Hayeks Vorstellungen, die er in seinem späteren Werk „Die Verfassung der Freiheit“ (1960) konkretisiert, schließen nicht aus, dass die Wirtschaftstätigkeit reguliert werden muss, solange die Regulierung nach allgemeinen Regeln erfolgt. Hayek weist also die Idee des Laissez-faire deutlich zurück.

Trotz seiner provokanten Thesen ist der "Weg zur Knechtschaft" ein erstaunlich "höfliches Buch", wie Joseph Schumpeter einmal bemerkte. Hayek wirft seinen Gegnern nichts anderes als "intellektuellen Irrtum" vor. In gewisser Weise teilt er sogar ihre letzten Ziele, unter anderem die Beseitigung von Armut - nur zeigt er die fatalen und ungewollten ökonomischen und politischen Folgen des Kollektivismus auf. Im Zweifelsfall ist eben die individuelle Freiheit stets das höhere Gut, das es zu verteidigen gilt. 

Zitate aus: Friedrich August Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, München 2007 (Olzog)

Weitere Literatur: Friedrich August Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 2005 (Mohr Siebeck) -- Hans Jörg Hennecke: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000 (Verlag Wirtschaft und Finanzen)
 

Donnerstag, 3. November 2011

The Federalist und der Pluralismus

Die 85 "Federalist"-Artikel von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay bilden einen Höhepunkt in der politischen Theorie der Aufklärung.

Ursprünglich anonym veröffentlicht, erschienen die Artikel von Oktober 1787 bis Mai 1788 in verschiedenen New Yorker Zeitungen und erklärten den Lesern den heftig kritisierten Entwurf der ersten Bundesverfassung der Vereinigten Staaten und forderten zugleich seine Ratifizierung.

Der 10. Artikel behandelt die schwierige Frage, wie der Staat auf die verschiedenen und unvermeidbaren Partikularinteressen in der Bevölkerung reagieren soll. Anstatt nun einfach Tugendhaftigkeit zu postulieren, ist es nach Meinung der Federalist eher sinnvoll, zunächst einmal nüchtern die menschliche Natur mit all ihren Schwächen zu akzeptieren:

„Die Vielfalt der menschlichen Fähigkeiten … bildet ein unüberwindliches Hindernis für die Gleichheit der Interessen. (…) Die latenten Ursachen für Faktionen sind also in der menschlichen Natur angelegt, und sie werden den jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend unterschiedlich stark aktiviert.“ (52)

Viele der Interessen mögen zwar mit der ungleichen Eigentumsverteilung verknüpft sein, aber längst nicht alle Interessen sind ökonomischer Natur. Letztlich wird jede Art von Partikularinteresse von einer Gruppe definiert, „die durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist, welcher im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht.“ (51)

Entscheidend ist nun, dass die staatliche Gewalt den Interessenpluralismus nicht verteufelt oder versucht ihn aus der Welt zu schaffen:

„Zur Beseitigung der Ursachen von Faktionen gibt es zwei Methoden: erstens, die Freiheit zu zerstören, die für ihre Existenz lebensnotwendig ist; zweitens, alle Bürger mit den gleichen Meinungen, den gleichen Leidenschaften und den selben Interessen zu versehen.“ (51)

Für die Federalist sind diese Heilmittel allerdings noch schlimmer als die Krankheit - und zudem unklug. Es wäre völlig unsinnig, die Freiheit abzuschaffen, die für das politische Leben unerlässlich ist, nur weil sie auch Faktionen fördert. Solange der Mensch von seiner Freiheit und seiner – fehlbaren – Vernunft Gebrauch macht, wird es unterschiedliche Meinungen geben.

So hat der Staat die Pflicht, die Unterschiedlichkeit der Menschen, ihrer Fähigkeiten und Interessen, nicht nur nicht zu beseitigen, sondern vor allem zu schützen.

Es kommt weiter darauf an, die Vielzahl der konkurrierenden Ansprüche der Bürger nicht blind zu erfüllen, sondern durch Gesetze zu „regulieren“:

„Diese vielfältigen und widersprüchlichen Interessen zu regulieren, ist die vordringliche Aufgabe moderner Gesetzgebung, die auch Parteigeist und Interessengegensätze in die nötigen und normalen Funktionen eines Regierungssystems einbeziehen muss.“ (53)

Damit ist der Grundgedanke des modernen politischen Liberalismus ausgesprochen. Ihr Kern ist die Idee einer begrenzten Regierungsgewalt, deren Ausübung allein legitimiert wird durch den Schutz der Regierten, ihres Lebens, ihres Besitzes, ihrer Freiheit und ihrer anderen Grundrechte.

Dieser Gedanke wurde bis heute bedauerlicherweise von zu wenigen Regierungen zu selten erfüllt.

Alle Zitate aus: Alexander Hamilton, James Madison, John Jay: Die Federalist-Artikel, hg. Von Angela Adams und Willi Paul Adams, Paderborn 1994 (Ferndinand Schöningh)