Donnerstag, 28. Dezember 2023

Marlon Grohn und das freie Denken

"Glückliche Zeiten. Man verstand noch zu lesen. Man konnte noch laut nach-denken. All das scheint endgültig vorbei zu sein." 

Dieser Satz stammt aus dem Buch „Humanismus und Terror“ des französischen Denkers Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1947. Die glücklichen Zeiten, von denen Merleau-Ponty sprach, beziehen sich gleichwohl auf die 1930er Jahre!

Maurice Merleau-Ponty (1908 - 1961)

Dass ein Philosoph in der Mitte des 20. Jahrhunderts davon ausging, es hätte in den 30er Jahren bessere Bedingungen fürs laute Nachdenken bestanden, mag heute verwundern. Das Buch, in dem Merleau-Ponty die Sätze schrieb, und in dem er nebenbei einige alberne linke Meinungen zum Sowjet-Sozialismus korrigierte, hieß "Humanismus und Terror" und muss heute selbst als Paradebeispiel dieses lauten Nachdenkens gelten. Diese These zumindest vertritt Marlon Grohn in seinem Artikel “`Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet!´” 

Was das freie Denken angeht, so dürfte sich die Situation mittlerweile deutlich verschlechtert haben. Nicht zuletzt, weil die Kernfrage des Buches von Merleau-Ponty, “nämlich die des Verhältnisses von humanistischer Verbesserung des Staatswesens und der dafür eventuell erforderlichen Gewalt, (…) schließlich inzwischen von allen politischen Parteien und Richtungen lieber unreflektiert gelassen und auf ein Übermorgen verschoben [wird]."

Der Philosoph Jacob Taubes schlug in die gleiche Kerbe, als er 1967 in einer Rede vor deutschen Studenten erklärte, “`Mündig sein´ heiße, dass `jeder von uns den Mund aufmachen darf, ohne dass ihm gedroht wird´.” 200 Jahre nach der Aufklärung ließen sich überall Tendenzen zur Entmündigung einer mündigen Gesellschaft ablesen, auch wenn die mündig gewordene Jugend sich in “verzweifelten, manchmal grotesken Formen” dagegen wehren würde.

Und heute? Grohn behauptet, dass das “Nachdenken (…) zu einem bloß stillen geworden [ist], das höchstens noch in den Nischen geschlossener Chat-Gruppen oder Privatgesprächen vor sich hindümpelt. Man könnte sich damit zufriedengeben und die Philosophie eben als abgeschafft, das Ende der Geschichte der Vernunft als eingeläutet betrachten und Ruhe geben.” Nur: Kann das jemand wirklich wollen?

 

Interessant sei es in jedem Fall, dass sich zwei Philosophen in den Jahren 1947 und 1967 ganz ähnliche Gedanken äußern wie heutzutage Akademiker, die die Cancel Culture vehement kritisieren.

 

Für Grohn steht fest, dass in unserer Zeit das Nachdenken folgerichtig längst als Unsitte in Verruf geraten sei: “Wer laut nachdenken will, begibt sich damit auf eine Ebene mit Drogendealern, Bankräubern und Bankmanagern – und zwar über alle politischen Sphären und Parteien hinweg.

 

Denn lautes Nachdenken, eben weil es vernünftig und logisch ist, widerspricht dem Prinzip demokratisch ausgewogener Politik und zieht folgerichtig deren Zorn auf sich: `Die Logik lässt keinen Kompromiss zu. Das Wesen der Politik ist Kompromiss.´ (John Locke).”

 

Auch wenn lautes Nachdenken in den meisten gesellschaftlichen Bereichen noch nie sonderlich beliebt war, “ist doch beachtlich, dass es heute gerade in den intellektuellen Berufen und den Geisteswissenschaften, wo das Nachdenken doch Selbstverständlichkeit sein sollte, nur noch das Relikt einer vergangenen Zeit darstellt.

 

Wobei sich hier die grundsätzliche Frage stellt, ob das laute Nachdenken deshalb verschwunden ist, weil sich das Denken generell nicht mehr allzu großer Beliebtheit erfreut. Die Intellektuellen kämpfen sich heute philologisch betrachtend durch die Schriften der Denker anderer Zeiten, während sie selbst all ihre Kraft dafür aufbringen, bloß nichts Ähnliches mehr zustande zu bringen.”

 

Die bittere Wahrheit Grohn zufolge ist, dass das “Denken nicht nur in politisch interessierten Kreisen, sondern selbst von Leuten, denen eigentlich an einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und im Zuge dessen an Aufklärung qua lautem Nachdenken gelegen sein müsste, begafft [wird] wie ein Verkehrsunfall, dessen protokollierte Daten dann in den Hochschulen forensisch untersucht werden.”

 

Auf diese Weise aber würde “das Denken, der Diskurs, die Öffentlichkeit zunehmend notwendig auf ein Minimum von Floskeln und Nettigkeiten reduziert werden, damit sich bloß nichts ändert.”

 

Gegen die Kunst des sich entfaltenden Gedanken, gegen das laute Nachdenken manifestiert sich eine mediale Öffentlichkeit als globales Spektakel, “der das Verweilen bei Schein-Ereignissen wichtiger ist als begriffliche Einsicht in die Verhältnisse (…) In solchen Gesellschaften wird tatsächliche denkerische wie politische Aktivität durch Aktivismus ersetzt, indem mittels (…) fragmen-tarischem Gebrauch das Denken aus der großen Öffentlichkeit verschwindet.”

 

Leben im Empörium: Wenn das Verweilen bei Schein-Ereignissen wichtiger ist als begriffliche Einsicht in die Verhältnisse

Wenn man nur noch redet, "um sich gegenseitig Ohnmacht, Schmiegsamkeit und Harmlosigkeit zu bescheinigen ("Ich mein ja bloß, bin gleich wieder still"), wird das Schreiben schnell zum Akt bewusster Abwendung von der mit diesen Gräueln zugerichteten Öffentlichkeit.”

 

Grohn fragt, woher die nicht nur die Scheu vor dem lauten Nachdenken kommt, sondern auch die Angst der Verantwortungsträger, den Diskurs zu öffnen? “Es ist doch klar, dass jemand, der denken kann und denken will, dies gerne laut tun würde (…) Wer bloß `innerlich´ denkt, kreist nur im eigenen Hirn, denkt nicht in der Wirklichkeit.”

 

Nur “im Austausch mit anderen Denkenden, kann aus einem ungenauen Gedanken oder einer bloßen Ahnung ein fundierter Standpunkt werden (…) kann eine unüberlegte Äußerung korrigiert und zum vernünftigen Gedanken werden. Gerade aber das wird verhindert, wenn das laute Nachdenken eingestellt wird.”

 

Grohn zitiert den Schriftsteller und Journalisten Dietmar Dath, der sagt: "Schuld ist niemand an irgendetwas; jeder ist sich selbst das Nichts. Lebt und schreibt man in einer Gesellschaft, die sich so sieht, gibt es eigentlich kaum etwas zu sagen. Würde man aber in einer Gesellschaft leben, die nicht naturwüchsig, blind für sich selbst bleiben will, sondern geplant sein soll, ausgefochten, in der alles alle angeht, dann käme es sehr wohl darauf an, was die Leute denken, reden und schreiben."

 

Der erste Schritt hin zu einer solchen Gesellschaft wäre nach Grohn daher das “Erlernen des lauten Nachdenkens als einer selbstverständlichen Gewohnheit.”

 

Sapere aude!, oder: Das laute Nachdenken lernen!


Zitate aus: Marlon Grohn: "Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet", in: Telepolis vom 26. Dezember 2023, im Netz unter: https://www.telepolis.de/features/Vom-Denken-zum-Schweigen-Wie-die-Cancel-Culture-die-Philosophie-toetet-9582799.html?view=print – zuletzt aufgerufen am 28.12.2023.

 

 

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Hedwig Richter und die Demokratie

 

 

Dass alle Menschen – wirklich alle! – gleich sein sollen, galt die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte als vollkommen absurd. In ihrem Buch „Demokratie – Eine deutsche Affäre“ erzählt die Historikerin Hedwig Richter, wie diese revolutionäre Idee aufkam, allmählich Wurzeln schlug, auch in Deutschland, und gerade hier so radikal verworfen und so selbstverständlich wieder zur Norm wurde wie nirgends sonst. In der Einleitung zu ihrem Buch beschreibt sie den Begriff und das Phänomen „Demokratie“ mit Hilfe von vier Thesen.

 

Demokratiegeschichte ist häufig ein Projekt von Eliten (These 1)

 

Demokratie lässt sich nicht notwendig beschreiben als ein Anliegen des „Volkes“, als eine „von unten“ erkämpfte Herrschaftsform. „Demokratie-geschichte ist nicht immer, aber häufig ein Projekt von Eliten. (…) In ihrem Alltag um 1800 hatten die Menschen der unteren Schichten meistens wenig Muße und kaum Ressourcen, um über Gleichheit und Mitbestimmung nachzudenken. Das änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts.“ Richter warnt deshalb davor, Demokratiegeschichte einseitig als Revolutionsgeschichte zu interpretieren und den Reformbewegungen zu wenig Beachtung zu schenken, nicht zuletzt, weil gewaltförmige Wandlungsprozesse eher zu Diktaturen führen und friedfertige Reformen mehr Potential zur Demokratisierung aufweisen. Demokratie-geschichte ist daher wesentlich „eine Geschichte der Reformen, die oft von diesen Eliten angestoßen werden.“

 

Demokratiegeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung (These 2)

 

Auch wenn es vorrangig die Eliten waren, die sich für Demokratisierung eingesetzt haben, so waren es nicht nur ethische Beweggründe oder gar ein aufklärerischer Impuls, der sie angetrieben hat, sondern durchaus auch ein egoistisches Interesse. „Demokratie kann beispielsweise der Disziplinierung der Bürger dienen. Von Anfang an achteten Eliten zudem darauf, dass es nicht zu einer `Tyrannei der Mehrheit´ kam.“ In der liberalen Demokratietradition steht daher der Gedanke im Mittelpunkt, dass möglichst eine stabile „Balance der Mächte erreicht wird, ein System von checks and balances, in dem die Freiheit des Individuums geschützt und sein Streben nach Glück möglich ist.“


Im Sommer 1787 handeln Vertreter der Einzelstaaten in Philadelphia - unter dem Vorsitz des späteren Präsidenten George Washington - eine revolutionäre Verfassung aus. Sie beginnt mit den Worten "Wir, das Volk ...!"
 

Demokratiegeschichte ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde (These 3)

 

Gleichheit und Freiheit lassen sich nur so lange verkündigen, solange Menschen – und damit eben auch und vor allem deren Körper – nicht misshandelt werden. Demokratisierung wird damit zu einer „politische Geschichte des Körpers, die analysiert, wie Erfahrungen mit dem Körper und Vorstellungen vom Leib Macht und Herrschaft durchdringen und verändern, wie sich Demokratisierung durch Körper und an Körpern zum Ausdruck bringt (…) Menschen, die nicht über ihren eigenen Körper herrschten, etwa Sklaven oder Frauen, wurden von Gleichheitsvorstellungen in der Regel ganz selbstverständlich ausgeschlossen.“

 

Richter weist unmissverständlich darauf hin: „Für die „Internalisierung einer Vorstellung wie Gleichheit reicht eine abstrakte Idee nicht aus; damit die universale Gleichheit `self-evident´ wurde, wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgehalten, musste sie inkorporiert und gefühlt werden.“ Demokratiegeschichte wird damit unweigerlich auch zu einer Geschichte der Gefühle und der Vorstellungswelten

 

Natürlich behauptet Richter damit nicht, dass die Geschichte der Demokratie selbstverständlich auch Ideengeschichte und Politik- und Parteiengeschichte sei, doch öffne der „Fokus auf die Gefühlswelten und auf den Körper“ einen neuen Blick für die Komplexität der Demokratiegeschichte: „Diese Perspektive schließt ökonomische und demographische Entwicklungen mit ein, die große Masse der Menschen wird sichtbarer, die hungernden Bauern etwa oder die schuftenden Frauen.“

 

Denn entscheidend für die Entwicklung von Demokratie war immer auch deren „Fähigkeit zur Skandalisierung: dass Armut nicht mehr als gottgegeben und unvermeidbar galt, dass Foltern und Quälen Gefühle der Abscheu hervorriefen, dass Ungleichheit als Unrecht empfunden wurde.“

 

Demokratiegeschichte ist eine internationale Geschichte (These 4)

 

Für Richter ist offensichtlich, dass die „nationalen Erzählungen“ nicht aus-reichen, um die Entwicklung der Demokratie zu beschreiben. Vielmehr entstand die moderne Demokratie im internationalen, genauer, im nordatlantischen Raum.

 

Dabei ist die Beziehung zwischen Demokratie, Nation und Internationalität durchaus spannungsreich: „Der Nationalgedanke war für die Popularisierung der Gleichheitsidee ausschlaggebend, und seit Demokratie zum globalen Heilsversprechen geworden ist, bildet sie den Kern nationaler Identitäten.“

 

So sei es nicht verwunderlich, dass die meisten westlichen Staaten ihre Geschichte als nationale Demokratiewerdung erzählen, in enger Verbindung mit nationalen Schlüsselereignissen und Mythen.

 

Dies werde in besonderer Weise am Beispiel Deutschlands mehr als deutlich: „Die Transnationalität von Demokratie und die selbstverständliche Einbettung Deutschlands in diese Geschichte wird an dem Diktum deutlich, das der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 aufgegriffen hat und das bis heute als prägnante Formel von Demokratie gilt: `government of the people, by the people, and for the people´. Bereits ein halbes Jahrhundert vorher hatte Ernst Moritz Arndt, der wie viele Intellektuelle am Beginn des 19. Jahrhunderts die Zukunft in der `Demokratie´ sah, 1814 erklärt: `Die besten Kaiser und Könige und alle edlen Menschen haben ja auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem Volke regieren.´

 

Die Formel selbst hat weitere Vorläufer, darunter die 1791 von Claude Fauchet formulierte Sentenz: „Tout pour le peuple, tout par le peuple, tout au peuple“ (dt. „Alles für das Volk, alles vom Volk, alles für das Volk“), oder auch den Satz „Rex per populum et propter populum existat, nec absque Populo consistere possit“ (dt. Der König existiert durch das Volk und für das Wohl des Volkes und kann nicht ohne das Volk existieren“) aus dem Traktat „Strafgericht wider die Tyrannen“ (lat. Vindicae contra tyrannos), erschienen 1575 unter dem Pseudonym Stephanus Iunius Brutus Celta.

 

Ausgabe des Vindicae von 1579
 

Dennoch: Intellektuelle und Wissenschaftler haben immer wieder auf den utopischen und fiktiven Charakter von Demokratie hingewiesen. Gerade weil Demokratie auch Wirklichkeiten erzeugt und (nationale) Identitäten stiftet, deshalb sei jede vermeintlich historische Darstellung letztlich nur Erzählungen, „für die wir einen Plot wählen und in denen wir Bösewichte und Heldinnen auftreten lassen; wir setzen einen Anfang und schreiben auf ein Ende hin – ein geglücktes oder ein böses, in diesem Fall ein offenes.“

 

So sei die Geschichte der Demokratie „eine Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und auch Zufälle sind. Sie ist eine leidenschaftliche, optimistische Chronologie von Fehlern und Lernprozessen, in deren Herz der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Es ist keine geradlinige Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre geht weiter. Die nächste Staffel folgt.“

 

Zitate aus: Hedwig Richter: Demokratie: Eine deutsche Affäre, München 2023 (C.H. Beck)