Donnerstag, 28. April 2016

Camus und der Mythos des Sisyphos

Albert Camus
„Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie kann man im Angesicht des sicheren Todes ein gutes Leben führen?

Wenn es im Mythos des Sisyphos um Themen wie Absurdität, Tod, Selbstmord, den Wert des Lebens, Angst oder Verzweiflung geht, dann spricht Camus nicht von abstrakten Ideen oder Begriffen. Vielmehr beschreibt er ganz persönlich das Gefühl der Absurdität, das seine eigene Krankheit in ihm auslöst, von dem sicher bevorstehenden Tod durch die Tuberkulose. „Er denkt über Selbstmord nach, um sein Leben, das ihm bereits nicht mehr gehört, wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Er überlegt, was mit einer Geschichte anzufangen sei, deren baldiges Ende bereits angekündigt wurde. Er denkt an all die stillen, schrecklichen Stunden, in denen er mit sich allein und seelischen Leiden ausgesetzt war. Er denkt an die Mutlosigkeit, die in plötzlichen Schweißausbrüchen, Herzrhythmusstörungen und Schlaflosigkeit zum Ausdruck kommt. Kurz: Er denkt konkret an den eigenen, greifbaren Tod.“

So ist der Mythos des Sisyphos ein philosophisches Buch, das sich bewusst von der traditionellen Schulphilosophie abgrenzt – und für diese „Todsünde“ ließen Professoren und Universitäten ihn büßen – darunter auch Sartre als berühmtes Aushängeschild dieser Schulphilosophie -, indem sie verbreiteten, Camus sei kein Philosoph, weil er sich nicht an die Regeln der Disziplin halte.

Dabei war Camus’ Ablehnung der „Professorenphilosophie“ war keine Ablehnung der Philosophie als solcher, sondern der Professoren. „Der Mythos des Sisyphos ist kein Philosophiebuch für Philosophen, sondern für alle, die sich jenseits akademischer, die Disziplin für sich allein beanspruchender Institutionen für Philosophie interessieren. Nach Vorbild der antiken Philosophen, die nicht zu Berufskollegen oder Professoren, sondern zu den einfachen Leuten – Fischhändlern, Schreinern, Webern oder Töpfern – auf der Agora sprachen, schrieb Camus ohne Rücksicht auf Doktoren, Professoren und Universitäten. Er sprach zum Volk.“

„Der Mythos des Sisyphos“ steht in der Tradition existentieller Bücher. „Kein Philosoph für Philosophen zu sein heißt nicht, gar kein Philosoph zu sein – ganz im Gegenteil. Vielmehr sollte man in einer Welt, in der die Philosophie von den Professoren in Beschlag genommen wird, vehement beteuern, keiner zu sein.“ Montaigne tat dies in seinen Essais – nicht etwa, weil er kein Philosoph gewesen wäre, sondern weil er in einer Zeit, in der die Scholastik Hochkonjunktur hatte, nicht mit dieser vorherrschenden Form des Philosophierens in Verbindung gebracht werden wollte. Gleiches galt für Camus, der von sich sagte: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Mich interessiert die Frage, wie man sich verhalten sollte. Genauer, wie man sich überhaupt verhalten kann, wenn man weder an Gott noch an die Vernunft glaubt.“ Wenn Camus vielleicht auch nicht aus der Perspektive von rationaler Systematik und Dogmatik kein Philosoph sein mag, dann ist er es umso mehr aus der Perspektive existentieller Fragen, aus Sicht des praxisbezogenen Denkens und der demokratischen Heilslehre.

Camus gehört zu den Empirikern, Sensualisten und Utilitaristen, die eine wirkliche theoretische Erkenntnis der Welt für unmöglich hielten. „Nur die Idealisten glauben an das Gegenteil, weil sie die Vielfalt der Welt unter den Oberbegriff der Idee subsumieren. Die Reduktion der Diversität der lebendigen Wirklichkeit auf abstrakte Begriffe erscheint ihnen als Lösung des Problems. Camus aber wusste, dass man die Welt nicht erkennt, sondern erlebt.“

Die Hochzeit des Lichts gegen dunkle Stubenphilosophie

Als Autor des Mythos des Sisyphos blieb er seiner mediterranen Herkunft – „der Hochzeit des Lichts“ - treu: „Vernunft, Ideen und Begriffe zählen auch hier weniger als Gefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen. Den Universitätsphilosophen gilt das als Häresie, denn sie betrachten die Sinne als trügerisch und ziehen ihnen Deduktion und Analyse vor. Statt Leidenschaft wollen sie Vernunft; sie lehnen die Körperempfindungen zugunsten begrifflicher Wahrheiten ab. Über die Welt zu dichten schätzen sie geringer, als einen Vortrag über sie zu halten.“ Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum das Establishment Albert Camus die offizielle Berufsbezeichnung `Philosoph´ verweigerte. „Doch in der Welt zu leben, um eine bessere Welt zu erdenken, ist besser, als die Welt zu denken, ohne in ihr zu leben.“

Der Mythos des Sisyphos beginnt mit einem Hinweis: „In einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd.“ Absurdität ist nun aber keine Eigenschaft der Welt, sondern resultiert aus einem bestimmten Verhältnis zu dieser. Anders als Unendlichkeit, Ewigkeit oder Nichts ist sie keine eigene metaphysische Kategorie. Sie entspringt der Gegenüberstellung zweier miteinander unvereinbarer Wahrheiten – Leben und Tod - und tritt nur in deren Konfrontation zutage. Es gibt das Leben, aber es strebt von Anfang an auf die eigene Vernichtung zu. Wir werden geboren, um zu sterben; kommen in die Welt, um sie wieder zu verlassen. Wir sind, um nicht mehr zu sein.

Das Absurde  ist keine Eigenschaft der Welt,
sondern resultiert aus einem bestimmten Verhältnis zu dieser

Was also ist das Leben wert? Müssen wir es leben? Und wenn ja, warum? Ist der Suizid nicht die richtige Antwort auf den Nihilismus? Verleiht der freiwillige Tod dem Leben, das der Tod sich ohnehin nach Belieben einverleiben würde, einen Sinn? Für Camus waren das die entscheidenden Fragen.

Niemand sterbe für eine Idee, aber viele beendeten ihr Leben, weil sie keine Gründe fänden, es fortzuführen. Wenn man die Welt für absurd hält, warum sollte man sie dann nicht verlassen? Und wenn man sie nicht verlässt, darf man sie dann als absurd bezeichnen?

Doch Camus entlarvt den Selbstmord als ebenso absurd wie die Absurdität, die aufzulösen er vorgibt. Mit der gegen sich selbst gerichteten Tat glaubt man, die Absurdität des Lebens aufzuheben, während man sie paradoxerweise erst bekräftigt und ihre Macht noch vergrößert. Das Leben ist absurd, genauso absurd aber ist, es zu beenden.

Was also bleibt? Leben. Camus zufolge bleibt uns nur, dieses absurde Leben zu wollen und die Absurdität mit diesem Willen, diesem erklärten Ja zum Leben zu überwinden. Die Lösung scheint einfach: Sie liege in „der reinsten Freude, nämlich zu fühlen, und zwar auf dieser Erde zu fühlen.“

Im weiteren Verlauf des Werkes untersucht Camus nun die möglichen Lebensformen: „Man könne als verführerischer Don Juan leben, als Schauspieler zu absurdem Ruhm gelangen, auf Reisen sinnlose Erfahrungen in aller Herren Länder sammeln oder seinem Reich als Eroberer immer neue Völker einverleiben. Doch jede dieser Lebensformen basiert auf Täuschungen. Wozu ist das Sammeln der Frauen, Erfolge, Reisen oder Länder letztlich gut? Statt die Absurdität zu überwinden, verstärkt man sie damit noch.“

Durch den Mythos des Sisyphos zieht sich ein ständiger Strom sich streitender Denkbewegungen. Camus überlegt für sich selbst, „hin und her, sagt erst das eine, dann das andere, kommt zu keinem eindeutigen Schluss und erzeugt so den Eindruck ungelöster Fragen. Einmal scheint er zu behaupten, der absurde Mensch sage Ja, an anderer Stelle heißt es, die Lösung liege allererst darin, Ja zu sagen.“ Dieser scheinbare Widerspruch führt zu der Schlussfolgerung, wir entkämen der Absurdität nicht, so sehr wir uns auch bemühten.

Camus beendete das im Oktober 1939 begonnene Buch am 21. Februar 1941, arbeitete also zwischen seinem sechsundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Lebensjahr daran. Es ist die ontologische Autobiographie eines jungen, tuberkulosekranken Mannes und eine Untersuchung, die keine Gewissheiten, sondern offene Fragen thematisiert.

Die Weisheit des Sisyphos
Die Weisheit des Sisyphos und der Sinn des gesamten Buches offenbart sich erst am Schluss. Das letzte Kapitel ist genauso betitelt wie das Buch. Nachdem Camus den Felsblock immer wieder den Berg der Reflexion emporgehievt hat, nur um festzustellen, dass er stets zurück ins Tal rutscht, liefert er im letzten und berühmten Satz die Auflösung: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Aber worin besteht sein Glück?

Sisyphos ist der absurde Held: Aufgrund seiner Leidenschaften wie aufgrund seiner Qual. „Seine Verachtung der Götter, sein Hass auf den Tod und sein leidenschaftlicher Lebenswille haben ihm unsagbare Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu vollenden.“ Er verkörpert zudem die ewige Wiederkehr des Gleichen: Er rollt den Felsbrocken den Berg hoch, dieser rollt zurück, er rollt ihn wieder hoch, der Fels bewegt sich erneut nach unten – und das bis in alle Ewigkeit. Es stellt sich nun die Frage, was zu tun sei, wenn man erkannt hat, dass sich alles stets wiederholt und die Wahrheit der Welt in der ewigen Wiederkehr des Gleichen besteht.

Auf diese Frage gab Camus die folgende Antwort: Wir müssten den Willen wollen, der uns will. Auch Sisyphos ist am Ende überzeugt, „dass alles gut ist.“

„Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. <Was! Auf so schmalen Wegen...?> Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. <Ich finde, daß alles gut ist>, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.

Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen.

Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird.

Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs - ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Camus, Der Mythos des Sisyphos)

Zitate aus: Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013   -   Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, München 2000



Donnerstag, 21. April 2016

Jörg Dräger und das Lernen im Netzwerk

Das digitale Lernen ist wohl eines der umstrittensten Themen in der aktuellen Bildungslandschaft. Die einen beschwören schnell den Untergang des Abendlandes, weil sie in der Anwendung digitaler Medien im schulischen Unterricht nur negative Aspekte sehen. Die anderen wiederum sehen nur die Vorteile und verweisen auf neue Lernstrukturen und neue Freiräume für Kreativität dank Laptop und Lernplattformen.

Jörg Dräger (*1968) studierte zunächst Physik und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und an der Cornell University (New York). Danach übernahm er Geschäftsführung des Northern Institute of Technology, einer international orientierten privaten Hochschulinstitution. Bis 2008 war Dräger Hamburger Senator für Wissenschaft und Forschung Hamburg, Mitglied der Kultusministerkonferenz und stellvertretendes Mitglied des Bundesrates. Seit 2008 ist Dr. Jörg Dräger Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung für die Bereiche Bildung, Integration und Demokratie sowie Geschäftsführer des CHE - Centrum für Hochschul-entwicklung.

In seinem Buch „Die digitale Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (zusammen mit Ralph Müller-Eiselt) beschäftigt er sich mit dem Lernen im Netzwerk, der digitalen Bildung und den digitalen Medien. In einem Interview des SWR 2 hat er sich ausführlich zur digitalen Bildungsrevolution geäußert.

Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die kritische Sicht auf die traditionelle Lehrerrolle, die darin besteht, dass der Lehrer vor der Klasse steht und den Schüler Wissen vermittelt. „In heutigen klassischen Unterrichtssituationen kümmert sich ein Lehrer zu 20 Prozent um das individuelle Kind und zu 80 Prozent steht er vor der Klasse und vermittelt Wissen, während die Schüler möglichst schweigen und zuhören.“

Schweigen und Zuhören aber könne man auch, wenn man ein gutes Lernvideo anguckt. Das Ziel sei, „dass man aus dieser 20/80-Teilung eine 80/20-Teilung hinbekommt in dem Sinne, dass die Lehrer sich überwiegend um die Kinder kümmern, um ihre Probleme.“

So habe sich eine Lehrerin, die Lernsoftware einsetzt, im Interview mit Dräger folgendermaßen geäußert: "Seitdem ich diese digitalen Medien nutze, muss ich nicht mehr Stoff unterrichten, sondern ich kann Kinder unterrichten." Den Stoff würde nämlich auch ein Lernvideo hinbekommen, aber für das Kind mit all seinen Herausforderungen, brauche es den Menschen. Dazu passt die Aussage eines anderen Lehrers: "Endlich habe ich Zeit für das Wesentliche." Und das Wesentliche ist eben die Lernbegleitung und nicht die Stoffvermittlung.


"Endlich habe ich Zeit für das Wesentliche."

Natürlich – und das haben neurologische Lernstudien hinreichend bewiesen – lernen Schüler sehr effektiv, wenn sie von einem Menschen angesprochen werden, der seine eigene Persönlichkeit, seine eigene Haltung, seinen Charakter und auch seine Begeisterung an dem Fach und Lernstoff mit in den Lernprozess einbringt. Eine Computerstimme könne dies schwerlich erreichen.

Das Problem – und das hat Jörg Dräger wohl richtig erkannt, besteht leider darin, dass dieses Prinzip sicher richtig ist, „wenn Sie eine wunderbaren Tutor, eine wunderbare Tutorin haben, die sich um zwei, drei Kinder einzeln kümmern kann und für diese ein individueller Ansprechpartner ist und dann auch noch in allen Fächern ein fantastischer Pädagoge, dann ist das sicher ein tolles Modell. In dem Moment, wo 30 Kinder in einem Klassenzimmer oder 300 Studenten in einem Hörsaal sitzen, gerät Ihr Modell der individuellen Ansprache schon an seine Grenzen.“ Genau hier könne „Digitalisierung an bestimmten Segmenten individueller ansprechen.“

Die Frage Drägers „Wenn ein Lehrer heute vor der Klasse steht und 30 Gesichter gucken ihn an, wie soll er gezielte Hilfe leisten?“ ist durchaus berechtigt. Ein Ausweg besteht wohl häufig noch darin, nach dem Gießkannenprinzip Hilfe zu verteilen.

Jörg Dräger sieht die bildungspolitische Herausforderung in Deutschland daher vor allem im Umgang mit Heterogenität, „also wie gehen wir besser mit der Unterschiedlichkeit der Lerner um“ - und genau hier biete das digitalisierte Lernen vielfältige Möglichkeiten.

Letztlich ist das digitalisierte Lernen nur verständlich im Rahmen eines selbstgesteuerten und personalisierten, binnendifferenzierten Lernens. „Das Ziel ist schon, dem Schüler Lernen lernen beizubringen. Früher sollten wir einfach nur Wissen wissen. Man sprach dem Lehrer lateinische Vokabeln oder irgendwelche Definitionen nach. Inzwischen geht es aber nicht mehr so sehr um Wissen wissen – das kann ich zur Not auch im Internet nachgucken –, sondern es geht mehr darum, eine Lernmethodik zu haben, mit der ich mir Neues beibringen kann, mit der ich Informationen filtern kann, mit der ich entscheiden kann, will ich das Video nochmal wiederholen oder beherrsche ich den Stoff.“

Wünschenswerte Zukunft? - Das digitale Klassenzimmer
Insbesondere dann, wenn das digitalisierte Lernen verbunden wird mit Formen des Feedbacks und der Selbstreflexion des Lernenden, ergeben sich äußerst positive Effekte. Das könne zwar „ein guter Tutor mit drei Schülern auch, aber bei 30 Kindern ist er schon strapaziert, allen differenzierte Rückmeldungen zu geben. Das Feedback gibt dem Schüler Auskunft über sein eigenes Lernverhalten, über seinen Wissensstand, der Schüler überschätzt sich nicht, er unterschätzt sich nicht und wird so zu einem selbstverantwortlichen Lerner.“

Häufig würden nämlich die Smartphones und Tablets ja nur zum Konsum genutzt und nur sehr selten, um etwas Neues zu schaffen. Das ginge aber gerade mit diesen Endgeräten sehr gut: „Musik komponieren z.B. oder Filme machen. Sie können aber auch ein kleines Erklärvideo erstellen, in dem Sie die Hausaufgabe, die Sie als Schüler aufhaben, in einem sogenannten Scribble and Talk erledigen, d.h. ich zeichne auf einem Smartphone oder einem Tablet und rede gleichzeitig und erkläre so, wie ich die Mathe-Aufgabe löse.

Der Lehrer kann so nachverfolgen, wie ich die Aufgabe gelöst habe. Ich kann auch anderen Schülern damit etwas erklären. Ich habe also etwas geschaffen und nicht nur konsumiert. Gerade dieses kreative Element des Erschaffungsprozesses ist etwas, was aus meiner Sicht heute viel zu wenig genutzt wird.“

Zitate aus: Jörg Dräger: Lernen im Netzwerk. Die digitalisierte Bildung, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 20. März 2016. Manuskript online unter: http://www.swr.de/-/id=16919316/property=download/nid=660374/1077a02/swr2-wissen-20160320.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml


Weitere Literatur: Jörg Dräger: Die digitale Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können (mit Ralph Müller-Eiselt). Deutsche Verlags-Anstalt. 2. Auflage 2015

Donnerstag, 14. April 2016

Jean Grenier und der Geist der Orthodoxie

Jean Grenier
Jean Grenier, Schriftsteller, Philosoph und Kunstkritiker, wurde am 6. Februar 1898 in Paris geboren. Er starb am März 1971 in Dreux-Venouillet, Eure-et-Loir. Obwohl sein Prosaband „Die Inseln“ 1985 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde, ist er in Deutschland weit-gehend unbekannt.

Von 1930 bis 1938 arbeitete Grenier als Philosophielehrer in Algier. Dort begegnete er einem Schüler, mit dem ihn – trotz unterschied-licher Lebenshaltungen und Einstellungen – eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Dieser Schüler war Albert Camus.

1935 trat Camus der Kommunistischen Partei Frankreichs bei, nicht ohne jedoch seinen Philosophielehrer um Rat gefragt zu haben. Dieser riet ihm zum Beitritt. Die Frage ist, welche seltsame Logik Jean Grenier dazu brachten, seinem Zögling zu raten, der Kommunistischen Partei beizutreten? Warum warnte er Camus nicht?

Für Grenier war der Kommunismus nicht mehr und nicht weniger als eine Sekte, „in der man der Vernunft abschwören und auf das eigene Ich verzichten müsse. Stattdessen gelte es zu gehorchen, sich der Orthodoxie zu unterwerfen, zum Soldaten einer Ideologie zu werden.“ 

Greniers Gedanken zum Kommunismus bzw. zur Kommunistischen Partei  sind zusammengefasst in seinem „Essai sur l’esprit de l’orthodoxie“ (dt. Versuch über den Geist der Orthodoxie). Es erschien zwar erst im Jahre 1938, besteht aber aus mehreren Essays, deren frühester von 1935 stammt. Drei sind aus dem Jahr 1936, zwei von 1937 und der Lettre à Malraux (Brief an Malraux) von 1938. Greniers Buch kam also nach Camus’ Beitritt zur KP im Jahr 1935 in den Buchhandel, aber man kann davon ausgehen, dass Grenier Camus gegenüber so argumentiert hat, wie es es in seinen Essays tut.

Die Lektüre des Versuchs über den Geist der Orthodoxie lässt jedenfalls keinen Zweifel: Jean Grenier war sich der Gefährlichkeit des Kommunismus bewusst. In seinem Buch steht klar und deutlich: „Sobald man einer Partei beigetreten ist, muss man den eigenen Geist aufgeben, damit einem die anderen nicht auf den Geist gehen.“

Greniers Kritik am Engagement in einer Partei entsprachen auch sein authentisch wirkender Antimarxismus und Antikommunismus. „Er lehnte den allumfassenden Materialismus ab und trat lieber für die Macht des Geistes ein, kritisierte die viel zu einfache, von abgedroschenen Ideen und einem veralteten Millenarismus geprägte Geschichtsphilosophie, verurteilte den Dogmatismus, wandte sich gegen eine religionsartige Ökonomie, die alles auf Produktionsbedingungen und Besitzverhältnisse reduzierte. Er schimpfte auf die hegelianische Dialektik, welche theoretisch alles Negative mit dem Vorwand rechtfertigt, es sei die notwendige Voraussetzung des künftigen Positiven.“

Es war also gerade das Herzstück der kommunistischen Ideologie, die Dialektik, die in seinen Augen Militärregimes, polizeilicher Gewalt, Arbeitslagern oder der Aufhebung der Freiheit einen Sinn verleihe, weil diese ihrer infernalischen Logik zufolge das Paradies auf Erden vorbereiteten. Grenier lehnt also die marxistische Teleologie vom Ende der Geschichte ab, denn aus seiner Sicht war auch ein wahrer, konkreter Garten Eden nicht frei von Widersprüchen.

Grenier kritisierte zudem den herrschenden Fortschrittsglauben und zeigte, dass der Marxismus die Vernunft zugunsten des Glaubens auslöscht. „Er wehrte sich gegen den Gedanken, der Zweck heilige die Mittel, kritisierte die Logik von Tribunalen, Inquisition, Verfolgungen und Gemetzel. Er wunderte sich über die bereitwilligen Parteibeitritte, über den Verzicht der Aktivisten auf Vernunft, Intelligenz und kritischen Geist.“

Vor allem aber beklagte Grenier den massenhaften Eintritt der Intellektuellen in die Partei und „verstand die Logik nicht, die einen Krieg im Hier und Jetzt mit der Abschaffung aller Kriege in Zukunft rechtfertigte oder Ungerechtigkeiten im Namen späterer Gerechtigkeit zuließ.“

Schauprozesse und Säuberungen unter Stalin (1936)

Für Grenier ist der Kommunismus eine religiös anmutende Ideologie, der Marxismus eine Art Theologie. So verspottete er die Pseudowissenschaftlichkeit dieser (und jeder anderen) transzendentalen Theorie. Die zeitgenössischen kommunistischen Aktivisten charakterisierte er als übertrieben ernst und streng. Er kontrastierte deren existentielle Einsamkeit mit dem Herdenverhalten der Aktivisten. „Er wies auf Marx’ Irrglauben hin, die Geschichte strebe unabänderlich auf die Revolution zu – schließlich wurde in Wahrheit das Proletariat immer bürgerlicher –, und warf Marx vor, die Gefahren eines dezidiert nationalen Sozialismus nicht erkannt zu haben.“

Und dieser so kritische Mann, der sich gegen Marx, den Marxismus, den dialektischen und historischen Materialismus, den Kommunismus, die Staaten des Ostens und die Sowjetisierung gewandt hatte, riet seinem Schüler gleichzeitig zum Eintritt in die KP! Warum ließ es Grenier zu, dass sein Schüler eine Erfahrung machen würde, die doch in einer Enttäuschung enden musste? Oder wollte er vielleicht genau dies erreichen, - dass sein Schüler von selbst zu dieser Einsicht käme? 

Zwei Jahre später, 1937, wurde Camus aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil er den von Stalin vorgegebenen Kurs nicht mittragen wollte ...


Zitate aus: Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013

Donnerstag, 7. April 2016

Max Weber und die Politik als Beruf (Nachtrag zum Eintrag vom 24. März 2016)

... den Parteien gewidmet, die monatelang nicht in der Lage sind, 
eine handlungsfähige Regierung zu bilden ... 
(Spanien im Frühling 2016)

Am 28. Januar 1919 hielt Max Weber vor dem Freistudentischen Bund seine berühmte Rede über das Thema „Politik als Beruf“. Etwa ein halbes Jahr später erschien sein Vortrag, stark überarbeitet als separate Broschüre.

„Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl - Augenmaß.

Albert Rivera (Cuidadanos)
Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine `Sache´, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist. Nicht im Sinne jenes inneren Gebarens, welches mein verstorbener Freund Georg Simmel als `sterile Aufgeregtheit´ zu bezeichnen pflegte, wie sie einem bestimmten Typus vor allem russischer Intellektueller (nicht etwa: allen von ihnen!) eignete und welches jetzt in diesem Karneval, den man mit den stolzen Namen einer `Revolution´schmückt, eine so große Rolle auch bei unsern Intellektuellen spielt: eine ins Leere verlaufende `Romantik des intellektuell Interessanten´ ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl.

Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen, Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst in einer `Sache´, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht.

Mariano Rajoy (Partido Popular)
Und dazu bedarf es – und das ist die entscheidende psychologische Qualität des Politikers – des Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen. `Distanzlosigkeit´, rein als solche, ist eine der Todsünden jedes Politikers und eine jener Qualitäten, deren Züchtung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer Unfähigkeit verurteilen wird. Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können?

Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele. Und doch kann die Hingabe an sie, wenn sie nicht ein frivoles intellektuelles Spiel, sondern menschlich echtes Handeln sein soll, nur aus Leidenschaft geboren und gespeist werden. Jene starke Bändigung der Seele aber, die den leidenschaftlichen Politiker auszeichnet und ihn von den bloßen `steril aufgeregten´ politischen Dilettanten unterscheidet, ist nur durch die Gewöhnung an Distanz – in jedem Sinn des Wortes – möglich. Die `Stärke´ einer politischen `Persönlichkeit´ bedeutet in allererster Linie den Besitz dieser Qualitäten.

Pedro Sanchez (Partido Socialista Obrero Español)
Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz, sich selbst gegenüber.

Eitelkeit ist eine sehr verbreitete Eigenschaft, und vielleicht ist niemand ganz frei davon. Und in akademischen und Gelehrtenkreisen ist sie eine Art von Berufskrankheit. Aber gerade beim Gelehrten ist sie, so antipathisch sie sich äußern mag, relativ harmlos in dem Sinn: daß sie in aller Regel den wissenschaftlichen Betrieb nicht stört.

Ganz anders beim Politiker. Er arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. `Machtinstinkt´ – wie man sich auszudrücken pflegt – gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten. – Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der `Sache´ zu treten.

Denn es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwortungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten, führt den Politiker am stärksten in Versuchung, eine von beiden, oder beide zu begehen.

Pablo Iglesias (Podemos)
Um so mehr, als der Demagoge auf `Wirkung´ zu rechnen gezwungen ist, – er ist eben deshalb stets in Gefahr, sowohl zum Schauspieler zu werden wie die Verantwortung für die Folgen seines Tuns leicht zu nehmen und nur nach dem `Eindruck´ zu fragen, den er macht. Seine Unsachlichkeit legt ihm nahe, den glänzenden Schein der Macht statt der wirklichen Macht zu erstreben, seine Verantwortungslosigkeit aber: die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genießen.

Denn obwohl, oder vielmehr: gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel, und Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte aller Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der politischen Kraft, als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht rein als solcher.

Der bloße `Machtpolitiker´, wie ihn ein auch bei uns eifrig betriebener Kult zu verklären sucht, mag stark wirken, aber er wirkt in der Tat ins Leere und Sinnlose. Darin haben die Kritiker der `Machtpolitik´ vollkommen recht. An dem plötzlichen inneren Zusammenbruche typischer Träger dieser Gesinnung haben wir erleben können, welche innere Schwäche und Ohnmacht sich hinter dieser protzigen, aber gänzlich leeren Geste verbirgt. Sie ist Produkt einer höchst dürftigen und oberflächlichen Blasiertheit gegenüber dem Sinn menschlichen Handelns, welche keinerlei Verwandtschaft hat mit dem Wissen um die Tragik, in die alles Tun, zumal aber das politische Tun, in Wahrheit verflochten ist.“

Es gibt in der Geschichte des menschlichen Geistes Gedanken, die wohl zeitlos gültig sind ...

Zitate aus: Max Weber: Politik als Beruf, erstmals veröffentlicht in `Geistige Arbeit als Beruf. VierVorträge vor dem Freistudentischen Bund´, Duncker & Humblot, München undLeipzig 1919