Donnerstag, 20. Oktober 2016

Bertrand Russell und die göttliche Vorsehung

Bertrand Russell
In seinen „Unpopulären Betrachtungen“ widmet sich der britische Philosoph und Mathematik auch den Ideen, „die der Menschheit geschadet haben.“ Unter den „interessantesten und verhängnisvollsten Irrtümern“, dem Menschen und ganze Völker erliegen können, findet sich die Idee, sich für das besondere Werkzeug eines göttlichen Willens zu halten.

Es begann damit, dass sich die Israeliten beim Einfall in das Gelobte Land als Vollstrecker des göttlichen Willens sahen – und nicht die Hettiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perizziter, Hiviter oder Jebbusiter. Hätten diese anderen Völker jedoch auch ähnlich „umfangreiche Geschichtswerke verfasst, so hätte der Sachverhalt vielleicht ein wenig anders ausgesehen.“

Dann entdeckten die Römer – freilich erst `nach begangener Tat´ –, dass Rom von den Göttern zur Weltherrschaft bestimmt war.

Anschließend „kam der Islam mit seiner fanatischen Überzeugung, dass jeder im Kampf für den wahren Glauben gefallene Soldat schnurstracks ins Paradies eingehe, ein verheißungsvolleres Paradies als das der Christen, da Houris anziehender sind als Harfen.“

Sterbender muslimischer Krieger - Französische Wandmalerei aus der Provence
(Foto: picture alliance / akg-images)

Cromwell schließlich war überzeugt, „dass er das von Gott ausersehene Werkzeug seiner Gerechtigkeit zur Unterdrückung von Katholiken und Königstreuen sei.“

Weitere Beispiele ließen sich anfügen ...

Zuletzt nun „liegt das Schwert der göttlichen Vorsehung in den Händen der Marxisten. Hegel meinte, die Dialektik habe mit schicksalhafter Notwendigkeit Deutschland die Oberherrschaft verliehen. `Nein´, sprach Marx, `nicht Deutschland, sondern dem Proletariat´. Diese Lehre ist den früheren vom Auserwählten Volk und der göttlichen Vorsehung verwandt.“

Die Idee, sich für das besondere Werkzeug eines göttlichen Willens zu halten, sieht in ihrem Fatalismus den Kampf gegen ihre Gegner als einen Kampf gegen das Schicksal, und „fordert, der Kluge solle sich daher so schnell wie möglich auf die Seite des Siegers schlagen. Deshalb ist dies Argument politisch so gut zu gebrauchen.“

Der einzige, aber dafür umso schlagkräftigere Einwand gegen diese Idee ist der, „dass es eine Einsicht in die Absichten Gottes voraussetzt, die kein vernünftiger Mensch für sich beanspruchen kann.“

Das Problem, vor dem die selbsternannten Gotteskrieger stehen, besteht schlicht und ergreifend darin, dass sie nur durch Berufung auf den „göttlichen Willen“ die rücksichtslose Grausamkeit bei der Umsetzung dieses Willens rechtfertigen können, die ansonsten verwerflich wäre, wenn ihr Programm nur rein irdischen Ursprungs wäre.

Es ist daher gut, „Gott auf unserer Seite zu wissen, aber einigermaßen verwirrend, den Feind vom Gegenteil genau so überzeugt zu finden. Wie es in den unsterblichen Versen eines Dichters aus dem ersten Weltkrieg so schön heißt:

Gott strafe England, und God save the King.
Gott dies und das – `Du lieber Gott«, sprach Gott,
»um Arbeit braucht mir nun nicht bange sein!´“

Russell zufolge ist der Glaube an eine göttliche Sendung eine der vielen vermeintlichen Gewissheiten, die dem Menschengeschlecht geschadet haben: „Ich glaube, eins der weisesten Worte, die jemals gesprochen wurden, war die Mahnung Cromwells an die Schotten vor der Schlacht von Dunbar: `Ich beschwöre euch um Christi Barmherzigkeit willen, denkt daran, dass ihr Unrecht haben könntet!´ Aber die Schotten dachten nicht daran, und so musste er sie im Kampf besiegen. Schade dass Cromwell diese Mahnung nie an sich selbst richtete.“

Die meisten und schlimmsten Übel, die der Mensch dem Menschen zugefügt hat, entsprangen, so Russell, „dem felsenfesten Glauben an die Richtigkeit falscher Überzeugungen. Die Wahrheit zu kennen ist schwieriger als die meisten glauben, und mit rücksichtsloser Entschlossenheit zu handeln, in dem Glauben, man habe die Wahrheit in Erbpacht, heißt Unheil heraufbeschwören.“

"Die meisten und schlimmsten Übel, die der Mensch dem Menschen zugefügt hat, entsprangen dem felsenfesten Glauben an die Richtigkeit falscher Überzeugungen"
 - Gräberfeld des 1. Weltkrieges - 

Daher seien lange Überlegungen, dass man gegenwärtige sichere Leiden zufügen müsse, um eines zweifelhaften zukünftigen Vorteils teilhaftig zu werden, stets mit Argwohn zu betrachten, denn, wie Shakespeare sagte, `Das Kommende ist noch ungewiss´.

Selbst der Klügste gehe weit irre, wenn er auch nur auf zehn Jahre die Zukunft vorhersagen will. „Im öffentlichen wie im Privatleben kommt es auf Toleranz und Freundlichkeit an, nicht aber auf die Anmaßung einer übermenschlichen Gabe, in die Zukunft zu schauen.“

Zitate aus: Bertrand Russell: Unpopuläre Betrachtungen, Zürich 2009 (Europa Verlag)


Donnerstag, 6. Oktober 2016

Bertrand Russell und der wünschenswerte Sieg der USA über die Sowjetunion


Die Idee, der Untergang der Menschheit ließe sich einzig und allein durch einen Weltstaat oder eine Weltföderation verhindern, ist nicht neu. Eine Weltregierung wurde schon bei den griechischen Philosophen und Kosmopoliten, unter ihnen Platon, Aristoteles und Zenon von Kition, diskutiert. Die wohl berühmteste Forderung nach einer Weltregierung wurde von Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) formuliert.



Auch der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell, einer der größten Pazifisten des 20. Jahrhundert, machte im Jahr 1948 den Vorschlag, die Vereinigten Staaten sollten durch Kriegsdrohung und notfalls Krieg die Sowjetunion zwingen, einem zu gründenden Weltstaat beizutreten. Sein Aufsatz „Der Weg zum Weltstaat“ wurde im Rahmen seiner „unpopulären Betrachtungen“ zwei Jahre später veröffentlicht.

Russells Vorschlag war ein Akt der Verzweiflung, den er relativ schnell wieder zurücknahm. Aber bevor man ihn entrüstet von sich weist, sollte man ihn wenigstens einen Moment lang aushalten, denn Russell zufolge gibt es gewichtige Gründe, die einen Sieg Amerikas über die Sowjetunion für wünschenswert erscheinen lassen.

Bertrand Russell
Der wichtigste Grund ist für Russell die Tatsache, „dass in Amerika mehr Achtung vor der Freiheit und anderen Werten einer zivilisierten Lebensform besteht als in Russland.“

Russell veranschaulicht diese Ansicht an der Entwicklung Polens nach dem Ende des 2. Weltkrieges als Teil des sowjetischen Machtbereiches. „In Polen gab es blühende Universitäten, deren Professoren große geistige Leistungen aufzuweisen hatten. Einige von ihnen sind glücklicherweise entkommen; die übrigen aber sind einfach verschwunden. Das Unterrichtswesen ist jetzt auf das Erlernen der orthodoxen stalinistischen Lehre beschränkt worden, und die höhere Schulbildung ist lediglich den Jugendlichen zugänglich, deren Eltern `unbelastet´ sind. Geistige Werte können durch ein derartiges Bildungssystem nicht geschaffen werden. Der Mittelstand wurde durch Massendeportationen vernichtet (...) Politiker der Mehrheitsparteien wurden liquidiert, eingekerkert oder zur Flucht gezwungen. Wer den Verdacht der Regierung erregt hat, kann oft nur dadurch sein Leben retten, dass er seine Freunde an die Polizei verrät und bei den folgenden Gerichtsverhandlungen Meineide schwört. Wenn dieses Regime während einer Generation an der Macht bleibt, wird es zweifellos seine Ziele erreichen. Die traditionelle polnische Feindschaft gegen Russland wird durch die kommunistische Orthodoxie ersetzt werden. Wissenschaft und Philosophie, Kunst und Literatur werden zu knechtischen Anhängseln des Regierungssystems werden, geistlos, beschränkt und dumm. Kein Individuum wird selbst denken oder auch nur fühlen, jeder wird eine bloße Nummer in der Masse sein.“

Russell ist sich sicher, dass diese Mentalität nach einem russischen Sieg in der in der ganzen Welt herrschen würde. Selbst wenn als Folge des Sieges eine gewisse Nachgiebigkeit der sowjetischen Regierung letztlich zu einer Lockerung der Kontrollmaßnahmen führen müsste, so bliebe es insgesamt sehr zweifelhaft, ob man je wieder zur Achtung der Einzelpersönlichkeit zurückkehren würde: „Aus diesen Gründen wäre ein russischer Sieg in meinen Augen ein schreckliches Unglück.“

Ein Sieg der Vereinigten Staaten hätte dagegen Russell zufolge weit weniger drastische Folgen. „Zunächst einmal würde es sich nicht um einen Sieg der Vereinigten Staaten allein handeln, sondern eines Bündnissystems, in dem die anderen Mitglieder einen großen Teil ihrer Unabhängigkeit behalten hätten. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass die amerikanische Armee die Professoren von Oxford und Cambridge zur Zwangsarbeit nach Alaska schicken würde. Ebenso wenig glaube ich, dass sie einen Mann wie Attlee wegen Beteiligung an einer Verschwörung anklagen und damit zwingen würde, nach Moskau zu fliehen, lauter Analogien zu den Dingen, die die Russen in Polen getan haben. Auch nach dem Sieg einer von den USA geführten Allianz würde es immer noch eine britische, französische, italienische und, wie ich hoffe, auch deutsche Kultur geben. Es würde nicht die gleiche tote Uniformität entstehen, die die Folge einer sowjetrussischen Herrschaft wäre.

Die Moskauer Orthodoxie ist viel durchdringender als die von Washington. Ein amerikanischer Erbbiologe kann von der Lehre Mendels halten, was er will; wenn man aber in Russland als Biologe nicht mit Lysenko übereinstimmt, läuft man Gefahr, auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden. In Amerika kann man getrost, wenn man sich dazu veranlasst fühlt, ein kritisches Buch über Lincoln, schreiben: in Russland würde ein Buch, in dem Lenin kritisiert wird, nicht veröffentlicht und der Verfasser selbst liquidiert werden.

Mahnmal für die Opfer der Repression, Moskau, Garten der Künste
(Foto: Bundesstiftung Aufarbeitung)

Als amerikanischer Volkswirtschaftler kann man die Meinung vertreten, dass Amerika auf eine Depression zusteuert, oder auch das Gegenteil; in Russland wagt kein Volkswirtschaftler zu bezweifeln, dass in Amerika die Depression vor der Tür steht.

In Amerika kann ein Philosoph ein Idealist, ein Materialist, ein Pragmatist, ein Positivist sein, oder was ihm sonst gefällt, er kann auf Kongressen mit Leuten diskutieren, die anderer Meinung sind, und die Hörer können sich ein Urteil darüber bilden, wer recht hat. In Russland muss man ein dialektischer Materialist sein. Allerdings überwiegt manchmal das materialistische Element das dialektische oder umgekehrt, und wer den Entwicklungen der offiziellen Metaphysik nicht mit der erforderlichen Wendigkeit folgt, hat Schlimmes zu befürchten.

Stalin zwar weiß jederzeit die Wahrheit über die Metaphysik, aber man darf nicht glauben, dass die Wahrheit in diesem Jahr so lautet wie im vergangenen. In einer solchen Welt muss das geistige Leben stagnieren, und selbst der technische Fortschritt muss zum Stillstand kommen.“

Die Grundlage aber eines demokratischen Rechtsstaates ist und bleibt die Freiheit, denn „Freiheit ist wichtig, nicht nur für die Intellektuellen, sondern für jeden.“ Da es aber in Russland keine Freiheit gibt, habe die sowjetische Regierung ein größeres Maß wirtschaftlicher Ungleichheit schaffen können, als es in England oder Amerika besteht.

Schließlich könnte die kommunistische Oligarchie, die alle Mittel der öffentlichen Meinungsbildung kontrolliert, Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten begehen, die kaum möglich wären, wenn sie allgemein bekannt würden.

Dagegen können nur die Demokratie und die volle Öffentlichkeit des Staatslebens die Machthaber hindern daran hindern, einen Sklavenstaat mit Luxus für wenige und Armut für viele aufzurichten, wie es die Sowjetregierung überall da getan hat, wo sie die absolute Herrschaft ausübt.

„Freiheit ist wichtig, nicht nur für die Intellektuellen, sondern für jeden.“

Natürlich – Russell ist schließlich nicht blind - gibt es in der ganzen Welt wirtschaftliche Ungleichheit, aber unter einem demokratischen Regime wird sie allmählich schwächer, in einer Oligarchie dagegen stärker werden: Aber „überall da, wo eine Oligarchie an der Macht ist, droht die wirtschaftliche Ungleichheit zu einem Dauerzustand zu werden, eben weil eine erfolgreiche Revolution unter den modernen Verhältnissen unmöglich ist.“


Zitate aus: Bertrand Russell: Unpopuläre Betrachtungen, Zürich 2009 (Europa Verlag)   -   Siehe auch: Paideia - Arthur Koestler und der Kommunismus, Teil 1 und Teil 2