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Donnerstag, 12. Januar 2023

Michael Esfeld, die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde - Teil 2

 

(Fortsetzung vom 05.01.2023)

Nach Ansicht von Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne, stehen wir wie schon nach dem zweiten Weltkrieg auch heute wieder vor einer Weichenstellung zwischen Freiheit und Totalitarismus – zwischen einer offenen Gesellschaft, die jeden Menschen bedingungslos als Person anerkennt, und einer geschlossenen Gesellschaft, die die Gewährung von Grundrechten an bestimmte Bedingungen knüpft.

„Die neuen Feinde der offenen Gesellschaft kommen wieder aus dem Inneren der Gesellschaft mit Wissensansprüchen, die zugleich kognitiver und moralischer Art sind und die wiederum eine technokratische Gestaltung der Gesellschaft zur Folge haben, die sich über Menschenwürde und Grundrechte hinwegsetzt. Allerdings operieren die neuen Feinde der offenen Gesellschaft nicht mit dem Trugbild eines absolut Guten, sondern mit gezielt geschürter Angst vor Bedrohungen, die angeblich unsere Existenz gefährden.“

Diese Bedrohungen, sei die Ausbreitung des Coronavirus oder der Klimawandel, werden nun zum Anlass genommen, bestimmte Werte absolut zu setzen, wie Gesundheitsschutz oder Klimaschutz. Eine Allianz aus Experten, Politikern und manchen Wirtschaftsführern nimmt für sich in Anspruch, das richtige Wissen zu haben, wie man das gesellschaftliche bis hin zum familiären und individuellen Leben steuern muss, um diese Werte zu sichern. 

Die neuen Feinde der offenen Gesellschaft: "Wiederum geht es um ein höheres gesellschaftliches Gut – Gesundheitsschutz, Lebensbedingungen zukünftiger Generationen –, hinter dem individuelle Menschenwürde und Grundrechte zurückzustehen haben."


Der eingesetzte Mechanismus besteht darin, diese Herausforderungen so ins Rampenlicht zu stellen, dass sie als existenzielle Krisen erscheinen – ein Killervirus, das umgeht, eine Klimakrise, welche die Existenzgrundlagen unserer Kinder bedroht. Die Angst, die man auf diese Weise schürt, ermöglicht es dann, Akzeptanz dafür zu erhalten, die Grundwerte unseres Zusammenlebens beiseitezuschaffen – genau wie in den von Popper kritisierten Totalitarismen, in welchen das angeblich Gute sehr viele Menschen zu de facto verbrecherischen Handlungen motivierte.“

Das Problem ist, dass es ja nicht in erster Linie „böse“ Menschen sind, die das Böse tun, sondern häufig solche, die sich selbst als „gute“ Menschen bezeichnen und die aus Sorge um einen ihrer Überzeugung nach bedrohten und existenziell wichtigen Wert Dinge tun, die letztlich verheerende Folgen haben. 

„Dieser Mechanismus trifft die offene Gesellschaft ins Mark, weil man ein bekanntes Problem ausspielt, nämlich das der negativen Externalitäten. Damit ist Folgendes gemeint: Die Freiheit des einen endet dort, wo sie die Freiheit anderer bedroht. Handlungen des einen – einschließlich der Verträge, die er eingeht – haben Auswirkungen auf Dritte, die außerhalb dieser Beziehungen stehen, deren Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens aber durch diese Handlungen beeinträchtigt werden kann. Die Grenze, jenseits welcher die freie Lebensgestaltung des einen der freien Lebensgestaltung anderer einen Schaden zufügt, ist nicht von vornherein festgelegt. Man kann sie eher weit oder eher eng fassen. 

Der genannte Mechanismus besteht nun darin, mittels Erzeugens von Angst und unter dem Deckmantel von Solidarität diese Grenze so eng zu fassen, dass de facto kein Spielraum mehr für die freie Lebensgestaltung bleibt: Jede freie Lebensgestaltung des einen kann so ausgelegt werden, dass mit ihr negative Externalitäten einhergehen, die potenziell eine Bedrohung für die freie Lebensgestaltung anderer darstellen.“

So schüren die neuen Feinde der offenen Gesellschaft die Angst vor der Ausbreitung einer angeblichen Jahrhundertseuche – aber natürlich kann jede Form physischen Kontaktes zur Ausbreitung des Coronavirus (ebenso wie anderer Viren und Bakterien) beitragen. Sie schüren die Angst vor einer drohenden Klimakatastrophe – aber natürlich kann jede Handlung Auswirkungen auf die nicht-menschliche Umwelt haben und dadurch zur Veränderung des Klimas beitragen. Folglich soll und muss jeder nachweisen, dass er mit seinem Handeln nicht unabsichtlich zur Ausbreitung eines Virus oder zur Schädigung des Klimas beiträgt usw. – die Liste könnte man beliebig erweitern. 

„So stellt man alle Menschen unter Generalverdacht, letztlich mit allem, was sie tun, andere zu schädigen. Man kehrt die Beweislast um: Es muss nicht der konkrete Nach- weis geführt werden, dass jemand mit bestimmten seiner Handlungen andere schädigt. Vielmehr muss jeder nachweisen, dass er andere nicht schädigt, einschließlich der Mitglieder zukünftiger Generationen. Dementsprechend können sich die Menschen von diesem Generalverdacht nur dadurch befreien, dass sie ein Zertifikat erwerben, durch das sie sich reinwaschen – wie einen Impfpass, einen Nachhaltigkeitspass oder generell einen sozialen Pass. 

Das ist eine Art moderner Ablasshandel. Damit ist Freiheit abgeschafft und ein neuer Totalitarismus installiert; denn die Ausübung von Freiheit und die Gewährleistung von Grundrechten hängt dann von einer Genehmigung ab, die eine Elite von Experten erteilt – oder eben verweigert.

Die Weichenstellung, vor der wir stehen, ist somit diese: eine offene Gesellschaft, die jeden bedingungslos als Person mit einer unveräußerlichen Würde und Grundrechten anerkennt; oder eine geschlossene Gesellschaft, „zu deren sozialem Leben man Zutritt erhält durch ein Zertifikat, dessen Bedingungen bestimmte Experten definieren, wie einst die Philosophen-Könige Platons. Genau wie letztere, deren Wissensansprüche von Popper entlarvt wurden, haben auch ihre heutigen Nachfahren kein Wissen, das sie in die Position versetzen würde, solche Bedingungen ohne Willkür festzusetzen.“

Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Sie erliegen dann der totalitären Versuchung, die bereits Popper kritisierte.

„Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Sie erliegen der Versuchung, die bereits Popper bei den von ihm kritisierten Intellektuellen und Wissenschaftlern ausmachte. Für Politiker ist es wenig attraktiv, am besten nichts zu tun und das Leben der Menschen seinen Gang gehen zu lassen. Da kommt die Gelegenheit recht, altbekannte, aber in neuer Form auftretende Herausforderungen zu existenziellen Krisen hochzureden und Angst zu schüren mit pseudo-wissenschaftlichen Modellrechnungen, die in Katastrophen-Prognosen münden. Dann können Wissenschaftler sich mit politischen Forderungen ins Rampenlicht stellen, denen durch den angeblichen Notstand keine rechtsstaatlichen Grenzen gesetzt sind. Politiker können durch wissenschaftliche Legitimation eine Macht erhalten, in das Leben der Menschen einzugreifen, die sie auf demokratischem, rechtsstaatlichem Wege nie erlangen könnten. Bereitwillig hinzu gesellen sich diejenigen wirtschaftlichen Akteure, die von dieser Politik profitieren und die Risiken ihrer Unternehmen auf den Steuerzahler abwälzen können. (…) 

Aber gerade die Wissenschaftstheorie Poppers lehrt uns, dass kein Individuum oder Gruppe von Individuen die Entwicklung der Gesellschaft mittels eines vorbereiteten Planes (…) bestimmen kann“: „Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten“ (Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde).


Zitate aus: Michael Esfeld: Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde, LI-Paper, Liberales Institut Zürich, April 2021


Donnerstag, 5. Januar 2023

Michael Esfeld, die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde - Teil 1


"Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" ist der Titel von Karl Poppers Hauptwerk in politischer Philosophie, geschrieben im Exil in Neuseeland während des zweiten Weltkriegs und 1945 veröffentlicht.

Dieses Buch schuf eine der intellektuellen Grundlagen für die Bildung einer west-lichen Staatengemeinschaft, die auf Rechtsstaat und Menschenrechten basierend sich dem Sowjetimperium entgegenstellt. „Dadurch wurde der eiserne Vor- hang nicht nur zu einer physischen, sondern vor allem auch zu einer weltanschaulichen Grenze – die Behauptung von Freiheit gegen den Machtanspruch des Totalitarismus.“

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)

Diese Weichenstellung setzte den Rahmen für nahezu alle wesentlichen gesell-schaftlichen Gruppen und politischen Parteien im Westen: „Was auch immer für verschiedene Interessen und unterschiedliche parteipolitische Programme bestanden, der auf Grundrechten basierende freiheitliche Rechtsstaat im Gegensatz zum Totalitarismus des Sowjetimperiums stand nicht zur Disposition.“ 

Diese Weichenstellung prägte Politik und Gesellschaft über vier Jahrzehnte. 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, schien keine neue Weichenstellung erforderlich: Freiheit und Rechtsstaat hatten sich durchgesetzt. Francis Fukuyama sprach sogar vom Ende der Geschichte. 

Das war ein Irrtum, so Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne. Die Weichenstellung erfolgt jetzt, im Jahre 2021. „Auch heute geht es um eine Weichenstellung zwischen Freiheit und Totalitarismus, die wiederum unser Leben für die kommenden Jahrzehnte prägen könnte. Und es geht wieder um einen Trend, der alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien umfassen könnte, was auch immer ansonsten ihre Unterschiede sein mögen. 

Nach Popper zeichnet sich die offene Gesellschaft dadurch aus, dass sie jeden Menschen als Person anerkennt: „Die Person hat eine unveräußerliche Würde. Sie hat die Freiheit, ihr Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten, ebenso wie die Verantwortung, für ihr Handeln auf Verlangen Rechenschaft abzulegen. Freiheit ist die `condition humaine´. Wenn wir denken und handeln, sind wir frei. Das ist deshalb so, weil man für Gedanken und Handlungen – und nur für diese – Gründe und damit Rechtfertigungen verlangen kann. Für Verhalten, das eine Reaktion auf biologische Reize und Begierden ist, ergibt es hingegen keinen Sinn, Gründe zu verlangen. Frei sind wir, weil die Spezies Mensch sich in der Evolution von dem Zwang befreit hat, einer bloßen Reaktion auf Reize unterworfen zu sein.“

Aus dieser Freiheit ergeben sich Grundrechte. „Das sind Rechte der Abwehr gegen äußere Eingriffe in die eigene Urteilsbildung darüber, wie man sein Leben gestalten will. 

In der Philosophie werden diese Grundrechte so gedacht, dass sie mit der Existenz von Personen als solcher gegeben sind. Sie hängen also nicht vom positiven Recht eines Staates und kontingenten historischen Umständen ab. So zum Beispiel im Naturrecht seit der Antike; in der Aufklärung, die universelle Menschenrechte politisch einforderte, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten und unter anderem zur Abschaffung der Sklaverei führten; bei Kant, dessen kategorischer Imperativ fordert, Menschen stets als Zweck an sich selbst und nie nur als Mittel zu einem Zweck zu behandeln; im 20. Jahrhundert unter anderem auch in der Diskursethik von Karl-Otto Apel oder der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Der Staat ist ein Rechtsstaat, der diese Rechte schützt; er lenkt die Gesellschaft nicht, sondern lässt den Menschen freien Lauf, ihre sozialen Beziehungen zu gestalten.

Popper zufolge sind die intellektuellen Feinde der offenen Gesellschaft diejenigen, die für sich reklamieren, das Wissen um ein gemeinschaftliches Gut zu besitzen. „Aufgrund dieses Wissens nehmen sie in Anspruch, die Gesellschaft technokratisch steuern zu können, um dieses Gut zu verwirklichen. Dieses Wissen ist sowohl faktisch-naturwissenschaftlicher als auch normativ-moralischer Art: Es ist mora-lisches Wissen um das höchste Gut zusammen mit naturwissenschaftlichem bzw. technokratischem Wissen darüber, wie man die Lebenswege der Menschen steuern muss, um dieses Gut zu erreichen. Deshalb steht dieses Wissen über der Freiheit der einzelnen Menschen, nämlich über deren eigener Urteilsbildung darüber, wie sie ihr Leben gestalten möchten.

Diese Feinde kommen aus dem Inneren unserer Gesellschaft. Popper macht das am Übergang von Sokrates zu Platon und dann von Kant zu Hegel und Marx fest. Sokrates und Kant legen den intellektuellen Grund für die offene Gesellschaft; Platon, Hegel und Marx zerstören diesen, indem sie die Suche nach dem, was jeder als ein für sich gelingendes Leben ansieht, durch den Wissensanspruch um ein absolutes Gutes ersetzen, auf das die Geschichte zusteuert. 

Dieses Wissen berechtigt sie dazu, sich über Grundrechte und Menschenwürde hinwegzusetzen; denn es geht um das Ziel des menschlichen Daseins. Deshalb handelt es sich um einen Totalitarismus: Die gesamte Gesellschaft bis hin zum Leben der Familien und der Individuen wird auf die Verwirklichung des angeblichen absoluten Guten ausgerichtet, ohne dass durch Menschenwürde und Grundrechte Schranken gesetzt sind.“

Experten nehmen für sich in Anspruch, ein moralisch-normatives Wissen
zur Steuerung der Gesellschaft zu haben - wie einst die Philosophen-Könige Platons

Diese Feinde der offenen Gesellschaft sind durch die Massenmorde entlarvt worden, die sich im 20. Jahrhundert auf dem Weg zur Verwirklichung des angeblich Guten als unumgänglich erwiesen haben. „Auf diesem Weg wurden nicht nur Menschenwürde und Grundrechte beseitigt, sondern zugleich auch ein schlechtes Resultat in Bezug auf das absolut gesetzte, angebliche Gute erzielt.“ So haben die kommunistischen Regimes auf dem Weg zu einer klassenlosen, ausbeutungsfreien Gesellschaft wesentlich schlimmere wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse geschaffen als der Kapitalismus. Und im Nationalsozialismus hat der Weg zu einer reinrassigen Volksgemeinschaft eben dieses Volk an den Rand des Untergangs geführt. Diese Ideen und ihre politischen Folgen gehören in der Tat der Geschichte an. 

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Michael Esfeld: Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde, LI-Paper, Liberales Institut Zürich, April 2021


Donnerstag, 28. Januar 2016

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 4)

Zivilisierte Verachtung und die Religion


Wann ist eine religiöse Position
der zivilisierten Verachtung würdig? 

Die von Carlo Strenger vertretene Kultur der Zivilisierten Verachtung beruht gleichermaßen auf dem Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung und dem der Menschlichkeit. Insbesondere bei den Themen, bei denen Religion und säkularer und demokratischer Liberalismus aufeinandertreffen, kann das Prinzip der zivilisierten Verachtung helfen, die Streitpunkte zu identifizieren und präzise zu fassen - und damit auch feststellen zu können, wann eine religiöse Position der zivilisierten Verachtung würdig ist.

Dies ist immer dann der Fall, wenn sie den sogenannten „Ärztetest“ nicht besteht. Der Ärztetest besagt, dass Menschen in der Regel – wenn es um ihre eigene Gesundheit geht - keineswegs alle medizinischen Richtungen für gleichwertig halten, sondern lieber zum erprobten Chirurgen als zum Wunderheiler gehen. Ähnliches gelte für persönliche Finanzfragen, bei denen auch kaum jemand zum Relativismus neigt sei. Den Ärztetest einzufordern bedeutet letztlich, auch in gesellschaftlichen Debatten und Diskursen wissenschaftliche Mindeststandards verlangen: "Zivilisierte Verachtung ist dann angebracht, wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen." 

Den Worten Jürgen Habermas zufolge leben wir in einem „postsäkularen Zeitalter“, was bedeutet, dass letztlich jede moderne Gesellschaft damit zurechtkommen muss, „dass Religionen fürs Erste ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens bleiben werden.“ 

Nun scheint Religion eines der Themen zu sein, an dem das Toleranzprinzip an seine Grenzen zu stoßen scheint: „Immer wieder stellt sich konkret die Frage, ob religiöse Praktiken toleriert werden können, die mit zentralen Grundwerten der Aufklärung (etwa der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz) nicht vereinbar sind.“

Das Toleranzprinzip behauptet nicht,
jede religiöse Aussage respektieren zu müssen!
Wichtig dabei ist, sich bewusst zu machen, dass das Toleranzprinzip der Aufklärung nie behauptet hat, „wir seien verpflichtet, Glaubenssätze von Religionen zu respektieren, die wir mit guten Argumenten für irrational, unmoralisch oder gar unmenschlich halten. Das Toleranzprinzip besagte allein, dass keine kirchliche, religiöse oder staatliche Instanz das Recht hat, Menschen einen Glauben aufzuzwingen, und dass jeder Mensch in der Lage sein soll, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben.“

Dabei argumentierten die Aufklärer stets mit der Tatsache, dass Dogmen oder Glaubenssätze sich nicht empirisch oder logisch begründen lassen und es daher unmoralisch wäre, Menschen zu etwas zu zwingen, wovon man sie rational nicht überzeugen kann. 

Die Konsequenz aus diesem Argument ist, dass keine religiöse Autorität sich über eine vernünftige Kritik stellen könnte und auch nicht dürfte: „Die Vorstellung unumstößlicher Autoritäten, die sich nicht mit Argumenten rechtfertigen müssen, ist mit der Aufklärung obsolet geworden.“

So mag beispielsweise die Geschichte von der Opferung Isaaks, die in den abrahamitischen Religion eine fundamentale Rolle für das Gottesbild hat, in der Zeit, in der sie entstand, noch akzeptabel gewesen sein, in unserer Zeit ist sie in ihrer Grundaussage gleichwohl „hochproblematisch.“ Strenger zufolge dürfe man also sehr wohl fordern, „dass gewisse Tatsachenbehauptungen dem Ärztetest unterzogen werden. Aussagen, die ihn nicht bestehen, sollten dann in bestimmten Kontexten keine Rolle spielen.“

Strenger ist sich gleichwohl darüber im Klaren, dass die Mehrheit der abrahamitischen Konfessionen und Strömungen die kompliziert Arbeit einer „Entmythologisierung“ jedoch noch vor sich haben, „weshalb viele der von ihnen vertretenen Positionen den Ärztetest nicht passieren würden. Als Beispiel sei nur das Prinzip der Gleichberechtigung von Männern und Frauen genannt. 

Die Opferung Isaaks (Marc Chagall)
Man kann nun natürlich fragen, warum Religionen einen solchen Test überhaupt als legitim akzeptieren sollten? Die Antwort ist einfach: weil der überwiegende Teil ihrer Anhänger den Ärztetest auf mehr oder weniger alle Lebensbereiche anwendet – außer auf den eigenen Glauben.“ Der Widerspruch liegt einfach darin, dass diese Religionen gleichzeitig Tatsachenbehauptungen vertreten, die großen Einfluss auf das Wohlergehen einer Vielzahl von Menschen haben, dem Ärztetest aber nicht standhalten. 

Strenger hält den Ärztetest im Hinblick auf religiöse Positionen deshalb für sinnvoll, „da wir mit ihm über ein leicht zu handhabendes Instrument verfügen, um Religionen denselben Standards in puncto Verantwortlichkeit und Rationalität zu unterwerfen, die wir auch an andere öffentliche Institutionen richten.“

Das Grundrecht der Religionsfreiheit, das für die Aufklärer so wichtig war und „ohne das wir ins Zeitalter der Inquisition und der Religionskriege zurückfallen würden“, wird dadurch nicht angetastet. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, „dass Religionen über alle Kritik erhaben sind: In dem Moment, in dem sie Tatsachenbehauptungen aufstellen, die Menschenleben und die menschliche Würde betreffen, müssen sie den Anforderungen entsprechen, welche auch die meisten religiösen Menschen an die Vertreter jenes Berufsstandes richten, dem sie ihre Gesundheit anvertrauen. Und damit sind wir wieder beim Ärztetest.“

Diese Forderung ist, darüber ist sich Strenger bewusst, nicht immer leicht zu ertragen. Aber eine Kultur der zivilisierten Verachtung verlangt „von uns allen, Kränkungen auszuhalten, die mit Kritik an unserer eigenen Weltanschauung fast notwendigerweise verbunden sind (…)

Wir müssen Kränkungen unserer eigenen
Weltanschauung aushalten können!
Wirkliche Freiheit zur Kritik, ob diese nun wissenschaftlich, poetisch oder satirisch vorgetragen wird, kann es nur dann geben, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft fähig sind, zivilisierte Verachtung für ihre Positionen auszuhalten und in einer bestimmten Hinsicht zu akzeptieren.“

Natürlich ist es schwierig, nicht gekränkt zu sein, „wenn Säulen der eigenen Kultur attackiert oder zum Gegenstand von Satire werden“ und es ist sicherlich kein Wunder, wenn die Reaktionen der Gekränkten oft heftig ausfallen.

Aber es ist unvermeidlich, insbesondere im Zeitalter der Globalisierung, weltweit die Fähigkeit, Kränkungen zu ertragen, einzufordern: „Wenn wir uns einem radikalen Islam beugen, der Karikaturen aus Dänemark und Romane aus Großbritannien von Teheran oder Karatschi aus zum Casus Belli erklärt und damit Gewaltexzesse in Kopenhagen, Oslo oder Paris rechtfertigt, kann nirgends mehr frei gesprochen und geschrieben werden. Schon die Rushdie-Affäre hat uns gelehrt, dass zu viel Verständnis für religiöse Empfindlichkeiten die falsche Taktik ist. 

Wenn Kollektive, ob es sich dabei nun um Muslime handelt, die sich durch Karikaturen verletzt fühlen, um christliche Fundamentalisten, die gegen Abtreibungsärzte vorgehen, oder um ultraorthodoxe Juden, die Frauen hinauswerfen, die sich im Bus nicht nach hinten setzen wollen, zu dem Schluss gelangen, dass sie mit Gewalt ihre Ziele erreichen können, ist die liberale Grundordnung insgesamt bedroht.“

Gegen die notorische Behauptung, die Aufklärung sei letzten Endes fehlgeschlagen, müsse im Anschluss an Habermas immer betont werden, dass die Aufklärung per definitionem „ein unvollendetes Projekt“ ist. „Die Idee, die Aufklärung sei eine politische Heilslehre, die den Menschen die Erlösung bringen werde, ist eine Fehlinterpretation, die schon oft zu katastrophalen Konsequenzen führte. Die Aufklärung im eigentlichen Sinne ist ein nie endender Prozess, im Rahmen dessen die Menschheit sich immer wieder bewusst macht, dass es für kein Problem“ eine endgültige Lösung gibt.

Nicht erst seit Popper dürfte klar sein, dass menschliches Wissen ist immer vorläufiger Natur ist, „weshalb die Selbstkorrektur durch Kritik die einzige Möglichkeit darstellt, neu auftauchende Probleme anzugehen. Das Umfeld, in dem solche endlosen Lernprozesse am besten funktionieren, ist eine offene Gesellschaft.“ 

Offene Gesellschaft und Kritik, statt Totalitarismus und politische Korrektheit

Mit dem Ziel, ein Abrutschen in totalitäre Systeme zu verhindern, ist das Prinzip der zivilisierten Verachtung als ein Hilfsmittel der prinzipiell unvollendeten Aufklärung zu verstehen und muss in diesem Kontext gedacht werden. „Wirklich zivilisiert ist Verachtung aber nur dann, wenn sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und einer konsistenten Argumentation basiert, die jederzeit stringenter Kritik unterworfen werden kann und nicht als Vorwand gebraucht wird, um Andersdenkende zu erniedrigen und ihre Menschenrechte einzuschränken.“ 

Der Westen, so der große französische Historiker Fernand Braudel, kann durchaus als eigene Zivilisation bezeichnet werden kann, „in deren Zentrum der Begriff der Freiheit steht.“, Diese Erkenntnis mit Hilfe der politischen Korrektheit über Bord zu werfen, wäre grob fahrlässig. An die Stelle von Ideologien muss also wieder die individuelle Freiheit gesetzt werden, sowie das Recht, „sein Leben nach bestem Wissen und Gewissen selbst zu gestalten, Meinungen offen zu äußern und sich vor keiner Autorität fürchten zu müssen.“

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)