Samstag, 17. August 2024

Sokrates, Platon und das Erwachsenwerden

Von Fichte stammt das Urteil, dass unterwürfige Seelen sich für ein naturalistisches System entscheiden, das ihre Servilität rechtfertige, während Menschen von stolzer Gesinnung nach einem System der Freiheit greifen. Welche Philosophie man wähle, hängt also davon ab, was für ein Mensch man ist.

Ausgehend von dieser Beobachtung beschreibt Peter Sloterdijk verschiedene philosophische Temperamente von Platon bis Foucault, eine Galerie von Charakterstudien und intellektuellen Portraits, die zeigen, wie sehr Nietzsche im Recht war, wenn er notierte, alle philosophischen Systeme seien immer auch so etwas wie unbemerkte Memoiren und Selbstbekenntnisse ihrer Verfasser gewesen.

 

Von Menschen mit stolzer Gesinnung oder von unterwürfigen Seelen ...

In jedem Fall markieren Sokrates und Platon für Sloterdijk den Durchbruch einer neuen Erziehungsidee, denn sie treten an gegen den Konventionalismus und Opportunismus der Rhetoriklehrer und der Sophisten und für eine umfassende Neuprägung des Menschen hervor. Paideia oder Erziehung als Formung des Menschen für das Gemeinwesen versteht sich explizit auch als ein Programm der Philosophie als politischer Praxis.Daran lässt sich auch ablesen, dass die Entstehung der Philosophie nicht zuletzt durch die Heraufkunft einer neuen, machtgeladenen Weltform bedingt war, die der griechsichen Stadtstaaten!

Diese erzwang eine Formung des Menschen in Richtung auf Politiktauglichkeit. Insofern darf man behaupten, “daß die klassische Philosophie ein logischer und ethischer Initiationsritus für eine Elite junger Männer – in seltenen Fällen auch für Frauen – gewesen ist; diese sollten es unter der Anleitung eines fortgeschrittenen Meisters dahin bringen, ihre bisherigen bloßen Familien- und Stammesprägungen zu überwinden” zugunsten einer weitblickenden und großgesinnten Menschlichkeit.

So sei die Philosophie “gleich an ihrem Anfang unvermeidlich eine Initiation ins Große, Größere, Größte; sie präsentierte sich als Schule der universalen Synthesis; sie lehrt, das Vielfältige und Ungeheure in einem guten Ganzen zusammenzudenken; sie führt ein in ein Leben unter steigender intellektueller und moralischer Belastung; (…)  sie will aus ihren Schülern Bewohner einer logischen Akropolis machen; sie weckt in ihnen den Trieb, überall zu Hause zu sein.” Die griechische Tradition verwendet dafür den Terminus “σωφροσύνη“ (sophrosyne – Besonnenheit), lateinisch humanitas.

Sokrates - Wo Ambivalenz herrscht, fallen naiv-positive Bilanzen schwer

Sofern die antike philosophische Schule also paideia ist, Einführung in die erwachsene Besonnenheit, die Humanität bedeutet, vollzieht sie eine Art Übergangsritus zur Formung eines  des polistauglichen  Menschen. Die Werte der paideia und der humanitas sind also weit mehr als nur unpolitische Charakterideale.


Denn: “Die klassische Philosophie stellte ihren Adepten in Aussicht, sie könnten es in einem chaotischen Kosmos zur Heiterkeit bringen; zum Weisen wird, wer das Chaos als Maske des Kosmos durchschaut. Wer in die Tiefenordnungen durchblickt, gewinnt Verkehrsfähigkeit im Ganzen; kein Ort im Sein ist ihm mehr ganz fremd; darum ist die Liebe zur Weisheit die Hochschule der Exilfähigkeit. Indem sie den Weisen so witzig wie programmatisch als kosmopolités, als Weltallbürger, bezeichnete, versprach die Philosophie Überlegenheit über ein Universum, das seiner Form nach schon ein wüster Markt der Götter, der Bräuche und der Meinungen war – zugleich ein Schlachtfeld, auf dem mehrere Staatswesen um die Hegemonie kämpften. (…)

 

In moderner Sprache würde man die klassische Philosophie mithin als Orientierungsdisziplin bezeichnen; wollte sie für sich werben, so konnte sie es vor allem mit dem Versprechen tun, den Wirrwarr der vorgefundenen Verhältnisse durch einen geordneten Rückgang auf sichere Grundlagen zu übersteigen – in heutiger Terminologie spräche man von Komplexitätsreduktion.” Der Philosophie also als “Eliminator von schlechter Vielfalt”.

 

Wer zu Zeiten von Sokrates und Platon erwachsen werden wollte, mußte sich darauf vorbereiten, in einem geschichtlich kaum gekannten Ausmaß Macht zu übernehmen – oder zumindest die Sorgen der Macht zu seinen eigenen zu machen.

 

“Nach Sokrates und Platon kann als erwachsen nicht mehr nur derjenige gelten, von dem die Ahnen und Götter des Stammes Besitz ergriffen haben. Die städtischen Lebensformen erfordern einen neuen Typus von Erwachsenen, dem die Götter nicht zu nahe treten – das heißt zugleich: Sie stimulieren eine Form von Intelligenz, die von Tradition und Wiederholung auf Forschung und »Erinnerung« umstellt. Offenbarungen und Evidenzen entstehen jetzt nicht mehr durch Ekstasen, sondern durch Schlüsse: Die Wahrheit selbst hat schreiben gelernt; Satzketten führen zu ihr hin.” Philosophie wird so zu einem “Unternehmen zur Aufhellung des Zwielichts, das wir bevölkern.”

 

    Platon - Philosophie als Aufhellung des Zwielichtes ...

Sloterdijk stellt fest, dass der moderne Ausdruck “Erziehung” nur wenig von diesem Ehrgeiz des ursprünglichen Projekts Philosophie enthalten würde. Dies liege nicht zuletzt daran, weil “die Fundierung des Wissens und Handelns in der `alteuropäischen´ Idee eines höchsten Gutes” aufgegeben wurde. “Der dominierende technologische Pragmatismus der Neuzeit gewann freie Bahn erst, nachdem die metaphysischen Hemmungen, die einem grenzenlosen moralischen und physischen Experimentieren im Weg standen, beiseite geräumt oder zumindest entkräftet waren.”

 

So bringe Modernisierung unvermeidlich einen Fortschritt im Bewußtsein der Haltlosigkeit mit sich. Aber das Moderne als Selbstzweck könne immer nur eine Hilfskonstruktion für Hilflose liefern; sie erzeuge nur Scheinsicherheiten ohne Weiterwissen; auf lange Sicht ruiniere sie die befallenen Gesellschaften durch die Drogen der falschen Gewißheit.

 

Daher empfiehlt es sich, “das Buch des europäischen philosophischen Wissens von neuem aufzuschlagen und den Zeilen und Wegen des klassischen Denkens noch einmal zu folgen – soweit die Kürze des Lebens es uns erlaubt, solche aufwendigen Wiederholungen zu wagen. 

 

Das Motto »Wieder denken« setzt die Aufforderung, neu zu lesen, voraus. Alle fruchtbaren Neulektüren profitieren von den Winkelbrechungen und Perspektiveverschiebungen, die unseren Rückblicken auf die Überlieferung innewohnen, sofern wir bewußte Zeitgenossen der aktuellen Umbrüche in den Wissens- und Kommunikationsverhältnissen der eben entstehenden telematischen Weltzivilisation sind. (…) 


"Wieder denken" und Lektüre ... statt hilfloses Denken in Bildern!

Besseres Wissen gewinnen wir heute nicht, ohne an den Abenteuern teilzunehmen, die bei der Revision der eigenen Geschichte auf uns zukommen. Ein neuer Aggregatzustand von Intelligenz wird auch den alten Schulen des philosophischen Wissens neue Informationen abgewinnen. Platon wieder lesen: Das kann bedeuten, sich darauf einzulassen, mit Platon – und Platon zum Trotz – an der Aktualisierung unserer Intelligenz zu arbeiten.”

 

Zitate aus: Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente. Vom Platon bis Foucault, München 2009 (Diederichs)

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