Donnerstag, 27. Juli 2017

Homer und die physische Gewalt in der Illias (Teil 1)

Mit den beiden großen Heldenepen Homers, der Ilias und der Odyssee, beginnt im 8. Jahrhundert v. Chr. nicht nur die griechische, sondern die gesamte abendländische Literaturgeschichte. Insbesondere die Ilias stellt in Stoffgestaltung, Erzählung, Einzelbild und dramatischer Gestaltung das alles überragende erste Referenzwerk europäischer Literatur dar. Dies gilt zum einen für die literarische Gestaltung, zum anderen aber auch für die geschilderten Ereignisse, die man in der Antike für historisch hielt.

Handschrift eines Teiles des 8. Buches der Illias (Illias Ambrosiana, 5./6. Jh.)

Die Ilias ist allerdings auch ein wichtiger Markstein für das Thema Gewalt und die von Homer hierzu entworfenen Bilder sind besonders wirkmächtig.

Der Troianische Krieg ist nach antiker Vorstellung in das späte 2. Jahrtausend v. Chr. zu datieren. Dennoch sollte man - trotz aller bewussten Archaismen, mit denen der Dichter versuchte, seinen Hörern einen lebhaften Eindruck von der Welt der Vorfahren zu geben – die Ilias als Dichtung lesen, welche die Ideale, gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Verwerfungen der archaischen Zeit, insbesondere des späten 8. Jahrhunderts v. Chr., widerspiegelt.

Das Thema der Ilias ist nicht, wie man anhand des erst Jahrhunderte später entstandenen Titels vermuten könnte, der zehn Jahre dauernde Troianische Krieg, sondern nur ein kleiner Ausschnitt von 51 Tagen. Homer verdichtet auf diese Weise meisterhaft die mit dem Krieg verbundenen Grundkonflikte zwischen Göttern und Menschen wie der Menschen untereinander.

Das eigentliche, schon im ersten Vers benannte Thema ist der Groll des Achill, der sich von dem großen Heerführer Agamemnon zurückgesetzt fühlt, da dieser ihm Briseis, eine als Kriegsbeute Achill zustehende und bereits zugeteilte Frau, streitig gemacht hat. Achill verweigert daraufhin, ganz in gekränkter Ehre zürnend, den Kampf – mit verheerenden Folgen.

Agamemnon und Achill - Mosaik aus Pompeii
Mit dem Konflikt zwischen Agamemnon und Achill, dem nicht endenden Groll Achills und der Situation am troianischen Königshof lotet Homer sämtliche Bereiche zwischenmensch-licher Konflikte und Befindlichkeiten aus. In zahllosen Einzelepisoden werden die Menschen in Bewährung und Versagen vorgeführt.

Zentraler Aspekt ist ferner das Adelsethos der archaischen Zeit, das in allen Nuancen durchgespielt wird. Hierzu gehört auch, dass Achills Verweigerung in zweifelhaftem Licht erscheint und so die Grenzen der ewigen Gewaltbereitschaft benannt werden. Freundschaft, Gastfreundschaft, Ehe, Solidarität, Verpflichtung gegenüber den Vorfahren, Bewährung im Kampf, Witwenschaft wie Waisennot und anderes mehr werden vor dem Hintergrund des Krieges thematisiert und reflektiert.

Man hat im moralisch-ethischen wie sozialen Gehalt den Wesenskern, das eigentliche dichterische Anliegen, erkennen wollen, für das der Troianische Krieg selbst nur den Hintergrund lieferte. Dies hat viel für sich und erklärt gut die Faszination, die vom Epos ausgeht und die Wirkmächtigkeit ebenso wie eine breite, die Zeiten überdauernde Rezeption sicherte.

Dennoch nimmt die Schilderung von Kämpfen und Schlachten rund zwei Drittel des gesamten Werks ein: In 16 der 24 Gesänge werden Schlachten beschrieben. Sage und schreibe 318 tote Krieger, von denen 243 Namen tragen, werden in den Kampfszenen einzeln vorgeführt, wobei sie auf rund 60 verschiedene Todesarten sterben. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer namenloser Kämpfer und Verwundeter.

Auf den modernen Leser wirken die langen Kampfbeschreibungen ermüdend. Der antike Zuhörer hingegen scheint diese Partien besonders goutiert zu haben. Anders ist sonst der prominente Platz der Kampfschilderungen nicht zu erklären. Bei der Zusammenführung der vielen Einzelepisoden wird Homer jedenfalls die Publikumserwartungen bedacht haben, die den wandernden Sängern, den Rhapsoden bestens vertraut gewesen sein dürfte, da sie selbst dem Adel angehörten.

Aus heutiger Sicht ist nicht nur der Umfang der Schlachtschilderungen irritierend, sondern auch die detailversessene Beschreibung von Verletzungen und Todesarten. Die anatomisch exakt anmutende Wiedergabe von Kriegs- und Kampfverwundungen ließ im 19. Jahrhundert einen Gelehrten sogar vermuten, bei Homer habe es sich um einen griechischen Militärarzt gehandelt, der bestens mit den Wunden vertraut war, welche die zeitgenössischen Waffen wie Pfeile, Speere und Schwerter geschlagen hatten.

Kupferstich von John Flaxman zur Ilias (1793)

In vielen Fällen werden die Protagonisten kurz vorgestellt und ihre Herkunft erläutert, ehe Homer den Zweikampf selbst schildert. Am Ende steht in der Regel der Tod eines Kämpfers, der auf sehr unterschiedliche Weise beschrieben wird. Zunächst gibt es einfach ausgemalte Szenen, in denen der kurze Hinweis den Todesstoß zusammenfasst:

Der Speer „durchbohrte die Stirn, und die eherne Spitze drang in die Knochen, und ihm umhüllte Dunkel die Augen“ (4, 460 f.). In einem anderen Fall fährt die Lanze in „die Brust neben der Warze, rechts, und gerade durch die Schulter“ (4, 480 f.). Einem wieder anderen Krieger drang die Waffe „in die Schläfe, und durch die andere Schläfe drang die eherne Spitze“ wieder heraus (4, 502 f.). In weiteren Kämpfen wird schlicht der Kopf abgeschlagen (11, 261).

Alle Teile des Körpers sind von den Verletzungen betroffen, wobei zwischen den Kriegsparteien ein wichtiger Unterschied besteht. Die Troianer haben häufiger Rückenverletzungen, was ihrer Rolle im Epos durchaus entspricht, denn sie sind es, die häufiger auf der Flucht gezeigt werden.

Die Achäer, Agamemnon und seine Mitkämpfer, werden im Epos bisweilen wie wilde Tiere, vor allem wie Eber und Löwen beschrieben, die entsetzliche Verletzungen anrichten können. Odysseus etwa wütet mit einem Gefährten, „wie wenn zwei Eber sich unter jagende Hunde stürzen“ (11, 324 f.). Agamemnon kämpft gar wie ein Löwe, der einer Kuh (d.h. einem Troer) nachstellt: „Er packt sie und bricht ihr den Nacken heraus mit den starken Zähnen zuerst und schlürft dann das Blut und die Eingeweide“ (11, 175 f.). Diesem grausigen Bild entsprechend beschreibt Homer den Tod einzelner Troer, wie beispielsweise den des Diores, der im Kampf von einem Wurfgeschoss getroffen worden war, das ihm „die beiden Sehnen und die Knochen zerschmetterte“ (4, 521). 

Weiter heißt es: „Der aber fiel rücklings nieder / in den Staub, und breitete beide Arme aus nach seinen Gefährten, / den Lebensmut verhauchend. Doch der lief herbei, der ihn getroffen, / Peroos, und stieß mit dem Speer in den Nabel, und alle / Gedärme ergossen sich auf die Erde, und ihm umhüllte Dunkel die Augen“ (4, 522–526).

Der Tod des Sarpedon

Anderen Kämpfern fährt der Speer in den Kopf, und „das Gehirn wurde drinnen ganz mit Blut vermengt“ (12, 185 f.; 20, 399 f.). Einer wird getroffen „unter dem Kinnbacken und dem Ohr, und die Zähne stieß hinaus das Ende des Speers und schnitt mitten durch die Zunge“ (17, 617 f.).

Besonders eindrücklich ist das Bild des Mannes, der im Rücken getroffen wird, wobei die Lanze den gesamten Körper durchdringt. Er sinkt nieder, „und eine Wolke umhüllte ihn, eine schwarze, und er zog an sich, zusammengesunken, die Eingeweide mit den Händen“ (20, 417 f.). Einem Unterlegenen wird der Kopf unter dem Ohr abgeschlagen, „und nur die Haut hielt noch, und seitwärts herab hing der Kopf“ (16, 340 f.).

Besonders kleinteilig ist die Beschreibung der Verletzung, die Pandaros erleidet. Die Lanze wird von der Göttin Athene „auf die Nase neben dem Auge (gelenkt), und sie durchbohrte die weißen Zähne. Und ihm schnitt ab die Wurzel der Zunge das unaufreibbare Erz, und die Spitze fuhr ihm heraus am untersten Kinn.“ (5, 291–293).


Achills´ Kampf am Fluss
Johann Balthasar Probst
(1673 - 1748)
Eine Lanze trifft „in den Schenkel, wo der dickste Muskel des Menschen ist, und rings um die Spitze der Lanze zerrissen ihm die Sehnen“ (16, 314‒316), einen „Oberarm schälte des Speeres Spitze aus den Muskeln und schmetterte den Knochen gänzlich herunter“ (16, 323 f.).

Eindrucksvoll ist auch der Tod des Erymas (16, 345–350): „Idomeneus aber stieß dem Erymas in den Mund mit dem erbarmungslosen Erz, / und gerade hindurch fuhr hinten heraus der eherne Speer, / unterhalb des Gehirns, und spaltete die weißen Knochen. / Und herausgeschüttelt wurden die Zähne, und es füllten sich ihm / mit Blut die beiden Augen, und aus dem Mund und durch die Nasenlöcher / sprühte er es, klaffend.

(Fortsetzung folgt)


aus: Martin Zimmermann: Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013

Donnerstag, 20. Juli 2017

Ottfried Höffe und die Philosophie

Die These Ottfried Höffes, die Philosophie „aus Gründen des Artenschutzes zu fördern“, klingt zunächst ungewöhnlich, hat aber durchaus seine Berechtigung, denn die Notwendigkeit, die Philosophie gegen den Zeitgeist zu verteidigen, besteht mehr denn je.

In der Philosophie und den Geisteswissenschaften lernt man nicht bloß gewisse Sachverhalte und Techniken; man übt auch Fähigkeiten und Methoden, sogar Haltungen ein, was eine Bildung im emphatischen Sinn erbringt. Man verändert seine Einstellung sowohl gegenüber der sozialen und kulturellen als auch der natürlichen Welt, nicht zuletzt die Einstellung gegenüber sich selbst.

Das Problem der Bildung in der Philosophie
Insbesondere die Philosophie vermittelt sehr früh, was bei Philosophen „gebildet“ oder „allgemein gebildet“ heißt. Es ist kein Vorrat konkreter Kennt-nisse, der ohnehin rasch veraltet. Gemeint ist vielmehr der Besitz allgemeiner Gesichts-punkte, mit denen man auch dort treffend mithält, wo man auf neuartige Sachverhalte stößt. 

Gebildet ist zum Beispiel, wer den Satz vom Widerspruch, also ein grundlegendes Denkprinzip, nicht aus höheren Prinzipien ableiten will, oder wer sachfremde von sachdienlichen Argumenten zu unterscheiden vermag, und heute: wer für die Wirtschaft und die Naturwissenschaften sowohl deren Wert als auch deren Grenzen einzuschätzen versteht.

Nimmt man als Leitfaden der Wertschätzung die Wissensgesellschaft von heute ernst, so zählen kognitive Kompetenzen. Im Fall der Philosophie, auch der Literatur- und Geschichtswissenschaften, beginnen sie mit einer Art geistiger Wahrnehmung, nämlich der Fähigkeit, selbst komplexe Texte zu lesen.

Um simples Lesen, im Fall der Kunst- und Musikwissenschaften um bloßes Sehen und Hören, handelt es sich freilich nicht. Das Wahrnehmen wird zu einer klaren und genauen Beobachtung gesteigert; es wird mit einer Kultur der Phantasie und Einbildungskraft verbunden und zu jener Kunst des Entschlüsselns entfaltet, die den Gegenstand zum Sprechen bringt.

Das Zeitalter der Globalisierung heißt die Philosophie und Geisteswissen-schaften auch deshalb willkommen, weil sie mit einer zweiten Wissensleistung, dem Erinnern, den kulturellen Reichtum der Menschheit vergegenwärtigt.

Damit verbindet sich drittens eine Urparteilichkeit in der Erinnerung, eine „anamnetische Gerechtigkeit.“ Mag andernorts ein Eurozentrismus, häufiger ein Americozentrismus vorliegen – gegen diesen Kulturimperialismus erhebt die Gesamtheit der Geisteswissenschaften einen vehementen Einspruch. Denn studiert werden die sozialen und kulturellen Gegenstände schlechthin aller Gesellschaften und Epochen. Es geschieht freilich nicht – manchen Kollegen ist allerdings zu sagen: es darf nicht geschehen – auf die desaströse Weise, daß man sich auf das Bewahren von Traditionen verkürzt oder gar im Loblied auf Museen mit einer Kompensation des Fortschritts zufrieden ist.

Philosophie -
Immer über den eigenen Horizont hinaus
Die Philosophie – mag man einwenden – beschränkt sich in der Regel auf einen kleinen Teil der Weltkultur. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, schlicht berechtigt aber auch nicht. Denn Platon dürfte von ägyptischen Lehren beeinflußt worden sein; im Mittelalter, immerhin einer Epoche von vielen Jahr-hunderten, stehen Philosophen sowohl aus der islamischen als auch der christlichen und der jüdischen Welt in engem Gespräch miteinander; die großen Aufklärungsphilosophen Leibniz und Wolff interessieren sich für das chinesische Denken, das in der heutigen Universität im Rahmen der Sinologie ein selbstverständliches Heimatrecht besitzt.

Dabei hat die Philosophie einen großen Vorteil: Sie beruft sich nicht auf kulturelle Besonderheiten, sondern lediglich auf die allgemeine Menschenvernunft und allgemeinmenschliche Erfahrungen. Mag sie auch in einer Region der Welt besonders rasch und weit sich entwickelt haben – als Philosophie interessiert sie sich für Grundgedanken aus allen Kulturen und steht ihnen allen offen.

Die Philosophie ist von ihrem Wesen her eine die Grenzen, vor allem auch die Religionsgrenzen überschreitende Instanz; sie ist ihrer Natur nach ein Anwalt der gesamten Menschheit.

In diesem Kontext  wird eine dem Zeitalter der Globalisierung hochwillkommene Fähigkeit eingeübt, die Sympathie und Empathie mit anderen Kulturen: Wer sich in fremde Denk-, Sprach- und Verhaltensmuster «einlebt», lernt ein dreifaches Verstehen. Er lernt die anderen in ihrer Andersartigkeit, sich und die anderen in ihrer Gemeinsamkeit, schließlich durch den Kontrast sich selbst besser zu verstehen.

Argumentative Klarheit,
sprachliche Präzision
und methodische Sorgfalt
Damit verbindet sich eine argumentative Klarheit, sprachliche Präzision und methodische Sorgfalt, die dem Vergleich mit den Naturwissenschaften nicht zu scheuen braucht. Und weil man die Kulturzeugnisse, statt sich auf fremde Meinungen zu verlassen, selbst studiert, bildet man sich die eigene Meinung, und gegen die oft fragwürdigen Versprechen politischer Führung entwickelt sich eine kritische Urteilsfähigkeit.


Zitate aus: Otfried Höffe: Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik, München 2014