Donnerstag, 28. Mai 2015

Gordon Tulllock, der Föderalismus und der Wettbewerb

Gordon Tullock (1922 - 2014)
Die unter dem Namen „Public Choice“ zusammengefassten Theorien und Forschungsgebiete der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) versuchen die verschiedenen politischen Verhaltenweisen der Individuen ebenso wie Entscheidungsprozesse und Strukturen mit Hilfe der Ökonomie zu erklären. Dabei werden die politischen Akteure sowohl individuell und/oder innerhalb kollektiv handelnder Gruppen (Wähler, Parteien, Verwaltungen, Interessensverbände …) betrachtet.

In Abgrenzung zur neomarxistisch dominierten Politischen Ökonomie versteht sich die NPÖ als positive Ökonomie – im Gegensatz zur normativen Ökonomie, die einen Idealzustand erläutert, der aber mit der Realität nur wenig zu tun hat. 

Eine der Grundannahme der Neuen Politischen Ökonomie ist der Individualismus, der auf dem Modell des rational handelnden, von Eigeninteressen geleiteten Homo oeconomicus beruht, dessen Ziel die Maximierung des Nutzens ist und der dementsprechend Entscheidungen trifft.

Mit Blick auf den Föderalismus versucht die „Public-Choice“-Schule die These zu widerlegen, dass das Neben- und Übereinander vieler Regierungsinstanzen in föderalen oder nonzentralen Gemeinwesen nur zu Effizienzverlusten führt. Sie versucht daher Verfassungsarrangements zu entwickeln, die durch richtige Anreize effizientes Regieren begünstige. Auf diese Weise soll der Erosion wirtschaftlicher Freiheit einerseits und dem Expansionsdrang des Staates andererseits Einhalt geboten werden.

Die These, dass Nonzentralisation ein effizienzsteigender Mechanismus sein kann, wird vor allem von Gordon Tullock vertreten. Er geht davon aus, dass die Ausübung demokratischer Rechte in einem dezentralisierten Gemeinwesen für den einzelnen Bürger effektiver werden kann und dass ein föderaler und lokaler Wettbewerb von Politikern zu einer besseren Wirtschafts- und Steuerpolitik führe. Daher wird Tullocks Ansatz auch mit dem Begriff „Wirtschaftsföderalismus“ beschrieben.

Für Tullock ist Föderalismus „die Aufteilung von Regierungssystemen zwischen zentralisierten Funktionen und jenen Programmen, die auf lokaler ebene effizienter erledigt werden können.“ Der Neuen Politischen Ökonomik zufolge zeigt sich, dass bei einigen Arten von öffentlichen Gütern (Polizei, Feuerwehr, Abwassersystem, Schulen) viele Anbieter sinnvoll sind, während bei öffentlichen Gütern, die über andere Eigenschaften verfügen (nationale Verteidigung) ein einziger Versorger gerechtfertigt ist. 

Föderalismus ist optimale Schichtung und
Dezentralisierung von Regierungsaufgaben

Der Begriff „Föderalismus“ beschreibt somit „die optimale Schichtung oder Dezentralisierung existierender Regierungsdienstleistungen, die auf einer Untersuchung möglicher Größenvorteile basiert.“ Die Regierung handelt also dann angemessen, wenn sie Effizienz mit geringen Kosten verbindet.

Der Public-Choice-Ansatz erkennt an, dass Menschen sehr unterschiedliche Präferenzen haben können. Für einige Wähler ist die öffentliche Einrichtung von Joggingstrecken und Freiluftfreizeitanlagen wünschenswert, andere wollen einen potenten Internetzugang oder gut ausgestattete öffentliche Bibliotheken. Wieder andere wollen eine unverfälschte Umwelt und eine risikovermeidende Gesellschaft, während andere dafür plädieren, dass jedes Individuum seine eigenen Entscheidungen treffen soll. Daraus folgt die Tatsache, dass „je höher der Grad der Differenzierung von Präferenzen unter den Wählern ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass eine Regierung es jedermann recht machen kann.“

Der Grad der Differenzierung von Präferenzen unter den Wählern
führt dazu, dass k
eine Regierung es allen recht machen kann ...

Das grundlegende Argument für den Föderalismus ist die schlichte Tatsache, dass es bei vielen Staatstätigkeiten keine besondere Notwendigkeit für eine nationale politische Regelung besteht.

„In den Vereinigten Staaten – und noch mehr in der Schweiz – gibt es direkte Volksabstimmungen über unzählige rein lokale Angelegenheiten. Neue Schulgebäude und größere Straßenbauprojekte werden regelmäßig den Wählern in Städten und Kreisen vorlegt. Es scheint mir offenkundig zu sein, dass dies die bessere Art ist, mit lokalen Anliegen und Projekten umzugehen als erst die Kompetenzen durch Wahl an die Zentralregierung abzugeben, um dann die Zentralregierung diese Kompetenzen wieder an ihre örtlichen Beamten … zurück delegieren zu lassen.“

Ein wichtiges Argument für eine örtlich verpflichtete und politisch rechenschaftspflichtige Entscheidungsstruktur ist für Tullock die „Abstimmung mit Füßen“. „Weil es einem Bewohner möglich ist, zu entscheiden, wo er wohnen möchte oder sein Geschäft aufmachen will, sorgt diese Entscheidung für Marktstandorte dafür, dass die verschiedenen lokalen Regierungen in einen Wettbewerb zueinander geraten. Will ihre Steuereinnahmen davon abhängen, wie viele Menschen in ihren Grenzen leben oder arbeiten, zwingt dies die staatlichen Stellen dazu, diese Marterwägungen einzubeziehen.

Ein zweites wichtiges Argument ist, dass die Entwicklung spezialisierter öffentlicher Strukturen und Dienstleistungen es erlaubt, um bestimmte Arten von Bürgern anzuziehen. „Die Vororte größerer amerikanischer Großstädte konkurrieren oft miteinander durch die Zurverfügungstellung öffentlicher Dienstleistungen, um Mensch und Unternehmen anzulocken. New Trier zum Beispiel, ein Vorort von Chicago, hat seit Generationen ein besonders gutes Schulsystem. Die lokalen Steuern dafür sind außerordentlich hoch, aber die Einwohner mögen ganz offenbar, was sie dafür bekommen. Sehr viele Eltern ziehen nach New Trier, wenn ihr ältestes Kind schulreif ist und verlassen den Ort wieder, sobald ihr jüngstes Kind seinen Abschluss hat.“
 
New Trier High School -
"To commit minds to inquiry, hearts to compassion,
and lives to the service of humanity."

So ist der Wettbewerb Gordon Tullock zufolge „eines der grundlegendsten Merkmale des Föderalismus. Vom Standpunkt des Bürgers ist es eine gute Sache, wenn Städte und Staaten in einem Wettbewerb stehen und immer bessere Leistungen mit weniger Steuern anbieten können. Solch ein Wettbewerb, Menschen anzulocken, mag den Sozialisten und jenen, die etwas gegen die Marktwirtschaft haben, Kummer bereiten. Auch Beamte mögen es nicht, unter Wettbewerb zu arbeiten. Aber für diejenigen, denen es um das Wohlergehen der Mitbürger geht, funktioniert ein Staat gut, in dem Beamte unter diese Art von Druck gestellt werden.“



Zitate aus: Detmar Doering: Kleines Lesebuch über den Föderalismus, Sankt Augustin 2013 (Academia Verlag), S. 145 (aus: Gordon Tullock: The Theory of Public Choice, London 2000)   -   Weitere Literatur:  Gordin Tullock, zusammen mit James M. Buchanan: The Calculus of Consent – Logical Foundations of Constitutional Democracy. Ann Arbor, 1962.

Donnerstag, 21. Mai 2015

Karl Popper und Immanuel Kant (Teil 1) - "Der bestirnte Himmel über mir ..."

Gewidmet den Schülerinnen und Schülern 
meines Philosophiekurses 
(Abitur 2015) ... Danke!


Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Zum hundertfünfzigsten Todestag hielt Karl Popper in der BBC einen Vortrag, in dem er Kant als letzten großen Vorkämpfer der Aufklärung verteidigt – gegen die romantische Schule des „Deutschen Idealismus“ von Fichte, Schelling und Hegel, die die Aufklärung vernichtete.

Für Kant war Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Dies ist Popper zufolge mehr als nur eine einfache Definition, es ist „ohne Zweifel ein persönliches Bekenntnis; es ist ein Abriß seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen und im beschränkten Gesichtskreis des Pietismus, beschritt Kant mutig den Weg der Selbstbefreiung durch das Wissen (…) Man könnte wohl sagen, daß die Idee der geistigen Selbstbefreiung der Leitstern seines Lebens war, und daß der Kampf um die Realisierung und Verbreitung dieser Idee sein Leben erfüllte.“

Eine entscheidende Rolle in dem Prozess der Selbstbefreiung spielte Kopernikus´ Himmelsmechanik und die Kosmologie Isaac Newtons. Das Kopernikanische und Newtonsche Weltsystem übten auf Kants intellektuelle Entwicklung einen denkbar starken Einfluß aus. Das erste wichtige Buch Kant beschäftigt sich dementsprechend mit der allgemeinen Naturgeschichte und der Theorie des Himmels: „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt.“

Kants Erstlingswerk:
Ein Buch über Kosmologie!
Für Popper ist dieses Werk der wohl „großartigste Wurf, der je in der Kosmologie und Kosmogonie getan wurde. Es enthält die erste klare Formulierung nicht bloß jener Theorie, die heute gewöhnlich die `Kant-Laplacesche Hypothese vom Ursprung des Sonnensystems´ genannt wird, sondern auch eine Anwendung dieser Theorie auf das Milchstraßensystem selbst (…) Aber selbst das wird noch in den Schatten gestellt durch Kants Deutung der Nebelsterne als Milchstraßen, als ferne Sternensysteme, die unserem eigenen analog sind.“

Es war letztlich das kosmologische Problem, das Kant zu einer neuen Theorie der Erkenntnis führte und zu seiner Kritik der reinen Vernunft, denn das Problem, das er zu lösen versuchte – und vor dem kein Kosmologe weglaufen kann –, war das verwickelte Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, und zwar sowohl mit Bezug auf den Raum als auch mit Bezug auf die Zeit.

Kant berichtet in einem Brief, er habe das zentrale Problem der Kritik der reinen Vernunft gefunden, als er versuchte zu entscheiden, ob die Welt einen zeitlichen Anfang hat oder nicht. „Zu seinem Erstaunen entdeckte er, daß sich scheinbar gültige Beweise für beide Möglichkeiten aufstellen ließen.“

Der erste Beweis beruht auf der Vorstellung einer unendlichen Folge von Jahren (oder Tagen oder irgendwelchen gleich langen und endlichen Zeitintervallen). Eine solche unendliche Folge von Jahren ist eine Folge, die immer weiter geht und niemals zu einem Ende kommt. Sie kann niemals abgeschlossen vorliegen: „Eine abgeschlossene oder vollendete unendliche Folge von Jahren ist (für Kant) ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst.“

Kants erster Beweis argumentiert nun folgendermaßen: „Die Welt muß einen Anfang in der Zeit haben, da sonst im gegenwärtigen Augenblick eine unendliche Folge von Jahren verflossen ist und daher abgeschlossen und vollendet vorliegen muß. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich. Damit ist der erste Beweis geführt.“

Der zweite Beweis beginnt mit einer Analyse des Begriffes einer völlig leeren Zeit – der Zeit vor der Entstehung der Welt. „Eine solche leere Zeit, in der es überhaupt nichts gibt, muß notwendigerweise eine Zeit sein, worin kein Zeitintervall von einem anderen Zeitintervall durch seine zeitlichen Beziehungen zu Dingen oder Vorgängen differenziert ist; denn Dinge oder Vorgänge gibt es eben überhaupt keine. Betrachten wir nun aber das letzte Zeitintervall einer solchen leeren Zeit – das Zeitintervall, das dem Anfang der Welt unmittelbar vorangeht: Dann wird offenbar, daß dieses Zeitintervall von allen vorhergehenden Intervallen dadurch differenziert ist, daß es in einer engen und unmittelbaren zeitlichen Beziehung zu einem bestimmten Vorgang, nämlich der Entstehung der Welt, steht; andererseits ist, wie wir gesehen haben, dasselbe Zeitintervall leer, das heißt es kann in keiner zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang stehen. Also ist dieses letzte leere Zeitintervall ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst (…)

Die Welt kann keinen Anfang in der Zeit haben, da es sonst ein Zeitintervall geben müßte – nämlich das Intervall unmittelbar vor der Entstehung der Welt –, das sowohl leer ist als auch dadurch charakterisiert, daß es in einer engen zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang in der Welt steht. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich.“

Antinomie: "A" kann nicht gleich "Nicht-A" sein

Wir haben hier einen Widerstreit zwischen zwei Beweisen, den Kant eine „Antinomie“ nannte. Eine Antinomie ist eine spezielle Art des logischen Widerspruchs, bei der die zueinander in Widerspruch stehenden Aussagen gleichermaßen gut begründet oder bewiesen sind. Die Antinomien, von denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft spricht, sind sich logisch widersprechende Antworten auf die Fragen der Vernunft. Bereits in der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant:

„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

Kant fand sich noch in andere Antinomien verwickelt, zum Beispiel in solche hinsichtlich der Begrenzung der Welt im Raume oder auch in die Frage von Freiheit und Kausalität.

Was wir aus diesen Antinomien lernen können, ist nach Kant vor allem die Erkenntnis, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit auf die Welt als Ganzes unanwendbar sind. „Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind natürlich auf gewöhnliche physische Dinge und Vorgänge anwendbar. Dagegen sind Raum und Zeit selbst weder Dinge noch Vorgänge. Sie können nicht einmal beobachtet werden; sie haben einen ganz anderen Charakter.“

Raum und Zeit, so Popper weiter, stellen für Kant eher eine Art von Rahmen für Dinge und Vorgänge dar, vergleichbar mit einem System von Fächern oder einem Katalogsystem zur Ordnung von Beobachtungen. „So gehören Raum und Zeit nicht zu der wirklichen empirischen Welt der Dinge und Vorgänge, sondern zu unserem eigenen geistigen Rüstzeug, zu dem geistigen Instrument, womit wir die Welt angreifen. Raum und Zeit fungieren ähnlich wie Beobachtungsinstrumente. Wenn wir einen Vorgang beobachten, dann lokalisieren wir ihn in der Regel unmittelbar und intuitiv in einer raum-zeitlichen Ordnung. Wir können daher Raum und Zeit als ein Ordnungssystem charakterisieren.“

Immanuel Kant (1784 - 1804)
Zeit und Raum sind in unserem Geist apriorisch vor aller Erfahrung vorhanden, sie sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis.“ So stammt dieses Ordnungssystem gerade nicht aus der Erfahrung, auch wenn es in jeder Erfahrung verwendet wird und auf alle Erfahrungen angewendet. Dies ist der Grund dafür, daß der Mensch in solche Schwierigkeiten gerät, wenn er die Vorstellung von Raum und Zeit auf einem Gebiet anzuwenden versucht, das über alle mögliche Erfahrung hinausgeht – und genau das sind die transzendenten Fragen über den Beginn der Welt.

Kant gab seiner Theorie den irreführenden Namen „Transzendentaler Idealismus“ und „er hatte bald Grund, die Wahl dieses Namens zu bereuen, denn der Name führte manche seiner Leser dazu, ihn für einen Idealisten zu halten und zu glauben, Kant bestreite die Realität der physischen Dinge.“ Dagegen hatte Kant immer betont, daß die physischen Dinge in Raum und Zeit wirklich sind – real, nicht ideal.

Es sind ja gerade die wilden metaphysischen Auswüchse der spekulativen Vernunft des „Deutschen Idealismus“, auf die der Titel der „Kritik der reinen Vernunft“ - von Kant bewusst gewählt – abzielt, denn was Kants „Kritik“ kritisiert, ist eben die reine Vernunft. Kant kritisiert Aussagen der Vernunft über die Welt, die „rein“ in dem Sinne sind, „daß sie von Sinneserfahrung unberührt und durch keine Beobachtung kontrolliert sind. Kant kritisierte die „reine Vernunft“, indem er zeigte, daß reines spekulatives, durch keine Beobachtungen kontrolliertes Argumentieren über die Welt uns immer in Antinomien verwickeln muß.“

Kant schrieb seine Kritik unter dem Einfluss von Hume. Für beide war die Erkenntnis entscheidend, daß die Grenzen möglicher Sinneserfahrung und die Grenzen von vernünftigen Theorien über die Welt identisch sind. Auch die Gültigkeit der Newtonschen Physik stand hier auf dem Prüfstand: Natürlich war auch Kant völlig davon überzeugt, daß Newtons Theorie wahr und unanfechtbar sei. Aber Kant ging davon aus, „daß diese Theorie nicht nur das Resultat von angesammelten Beobachtungen sein könne. Was sonst konnte aber ihr Wahrheitsgrund sein?“

Obwohl sich die Gültigkeit der Newtonschen Physik in allen unseren Beobachtungen bewährt, „ist sie doch nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern von unseren eigenen Denkmethoden: von den Methoden, die wir anwenden, um unsere Sinnesempfindungen zu ordnen, zueinander in Beziehung zu setzen, zu assimilieren, zu verstehen. Nicht die Sinnesdaten, sondern unser eigener Verstand – die Organisation und Konstitution unseres geistigen Assimilierungssystems – ist verantwortlich für unsere naturwissenschaftlichen Theorien.“

Die Natur – oder wie in der der Antike: der Kosmos - die wir mit ihrer Ordnung und ihren Gesetzen erkennen, ist letztlich das Resultat einer ordnenden und assimilierenden Tätigkeit unseres Geistes. Kants eigene Formulierung dieser Idee ist unübertroffen: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor!“

Dies ist die Idee von der „Kopernikanischen Wende“: „Kopernikus“, schreibt Kant, „nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen könnte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe.“

Der Schritt in ein neues Weltbild
Wir müssen also nach Kant den Gedanken aufgeben, „daß wir passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten aufdrängt. An die Stelle dessen müssen wir den Gedanken setzen, daß, indem wir unsere Sinnesempfindungen assimilieren, wir, die Zuschauer, ihnen die Ordnung und die Gesetze unseres Verstandes aufzwingen. Unser Kosmos trägt den Stempel unseres Geistes.“

Für den Forschungsprozess ergeben sich aus dieser Idee entscheidende Konsequenzen: Für Popper gibt es „so etwas wie ein Kantisches intellektuelles Klima“. So müsse die Vernunft des Forschers die Natur nötigen, auf seine Fragen zu antworten, er dürfe sich aber nicht von ihr gleichsam am Leitbande gängeln lassen. „Der Forscher muß die Natur ins Kreuzverhör nehmen, um sie im Lichte seiner Zweifel, Vermutungen, Ideen und Inspirationen zu sehen. Das, glaube ich, ist eine tiefe philosophische Einsicht. Sie ermöglicht es, die Naturwissenschaft (nicht nur die theoretische, sondern auch die experimentelle) als eine echt menschliche Schöpfung anzusehen und ihre Geschichte, ähnlich wie die Geschichte der Kunst und der Literatur, als einen Teil der Ideengeschichte zu behandeln.“

Neben der epistemischen gibt es noch eine anthropologische Bedeutung der „Kopernikanischen Wende“. „Kopernikus nahm der Menschheit ihre zentrale Position in der Welt. Kants `Kopernikanische Wendung´ ist eine Wiedergutmachung dieser Position. Denn Kant beweist uns nicht nur, daß unsere räumliche Stellung in der Welt irrelevant ist, sondern zeigt uns auch, daß sich, in gewissem Sinne, unsere Welt um uns dreht. Denn wir sind es ja, die, wenigstens zum Teil, die Ordnung erzeugen, welche wir in der Welt finden. Wir sind es, die unser Wissen von der Welt erschaff en. Wir sind es, die die Welt aktiv erforschen; und die Forschung ist eine schöpferische Kunst.“


Nachbemerkung: "Für das Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt im Raume gibt es seit Einstein einen glänzenden Lösungsvorschlag, nämlich eine Welt, die endlich, aber ohne Grenzen ist. Einstein, so kann man wohl sagen, durchhieb damit den Kantischen Knoten; aber er hatte dafür viel schärfere Waffen zur Verfügung als Kant und dessen Zeitgenossen. Für das Problem der zeitlichen Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt gibt es dagegen heute noch keinen so einleuchtenden Lösungsvorschlag."


(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Karl Popper: Immanuel Kant  - Der Philosoph der Aufklärung. Eine Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, gehalten in englischer Sprache im englischen Rundfunk (British Broadcasting Corporation) am 12. Februar 1954, in: Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)   

Donnerstag, 14. Mai 2015

Xenophanes und die Suche nach der Wahrheit

In seinem Vortrag „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“, den er am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen hielt, behandelt Karl Popper auch das Thema der Objektiven Wahrheit und der Wahrheitssuche.

Xenophanes (ca. 570 - 470)
Es war der Vorsokratiker Xenophanes von Kolophen, der im 6. Jh. v.u.Z. als erster eine Wahrheitstheorie entwickelte, die die Idee der objektiven Wahrheit mit der Idee unserer grundsätzlichen menschlichen Fehlbarkeit verband. Xenophanes begründete eine Tradition, die man auch als skeptische Schule bezeichnet, wenngleich diese Bezeichnung leicht zu Mißverständnissen führen kann.

Der Duden erklärt „Skepsis“ als „Zweifel und Ungläubigkeit“, einen „Skeptiker“ als „mißtrauischen Menschen“ – und so wird das Wort heute auch meist verwendet. Aber das griechische Verb „σκέπτεσθαι“, von dem sich die Wortfamilie „skeptisch, Skeptiker, Skeptizismus“ herleitet, bedeutet ursprünglich „prüfend betrachten, prüfen, erwägen, untersuchen, suchen, forschen.“

Sicherlich hat es unter den Skeptikern auch viele Zweifler und vielleicht auch misstrauische Menschen gegeben, aber die fatale Gleichsetzung der Worte „Skepsis“ und „Zweifel“ wird Denkern wie Xenophanes, aber auch Philosophen wie Sokrates, Erasmus, Montaigne, Locke, Voltaire und Lessing, die für Popper alle mehr oder weniger zur Skeptischen Schule gehören, nicht gerecht.

Was alle die Mitglieder dieser skeptischen Tradition gemeinsam haben - und was auch Popper mit dieser Tradition gemeinsam hat, ist nun die Tatsache, dass sie alle die menschliche Unwissenheit betonen und daraus nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch – und das mag verwundern - ethische Konsequenzen ziehen.

Xenophanes, von Beruf Rhapsode, wandte sich dagegen, daß die Götter stehlen, lügen, ehebrechen, wie die Gesänge Homers und Hesiods erzählen. So unterwarf er die homerische Götterlehre einer Kritik, dessen wichtigstes Ergebnis die Entdeckung des Anthropomorphismus war, also die Entdeckung, „daß die griechischen Göttergeschichten nicht ernst zu nehmen sind, weil sie die Götter als Menschen darstellen.“

Stumpfnasig, schwarz, so sind die äthiopischen Götter.
Blauäugig aber und blond - so sind die Götterbilder der Thraker.
Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände,
Hände wie Menschen, zum Zeichnen, zum Malen, ein Bildwerk zu schaffen,
Dann würden Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern
Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen, ein jedes nach seinem.

Die Götter der Griechen - allzu menschlich ...

Wenn wir uns die Götter also nicht anthropomorph vorstellen können, wie müssen wir sie uns dann denken? Auf diese Frage gibt Xenophanes eine monotheistische Antwort:

Ein Gott nur ist der größte, allein unter Göttern und Menschen,
Nicht an Gestalt den Sterblichen gleich, noch in seinen Gedanken.
Stets am selbigen Ort verharrt er, ohne Bewegung,
Und es geziemt ihm auch nicht, bald hierhin, bald dorthin zu wandern.
Müh’los regiert er das All, allein durch sein Wissen und Wollen.
Ganz ist er Sehen, und ganz ist er Denken, und ganz ist er Hören.

Die für die Griechen völlig neue Idee des Monotheismus war für Xenophanes einerseits die Lösung eines schwierigen Problems – und diese neue Einsicht musste ihm selbst wie eine Offenbarung erscheinen -, andererseits  gab Xenophanes unumwunden zu, daß seine Theorie nicht sicher war und daß sie nicht mehr war als eine Vermutung. „Das war ein selbstkritischer Sieg ohnegleichen, ein Sieg seiner intellektuellen Redlichkeit und seiner Bescheidenheit.“

Der nächste Schritt bestand für Xenophanes darin, diese Selbstkritik zu verallgemeinern: „Ihm wurde klar, daß das, was er über seine eigene Theorie herausgefunden hatte – daß sie trotz ihrer intuitiven Überzeugungskraft nicht mehr war als eine Vermutung –, von allen menschlichen Theorien gelten muß. Alles ist nur Vermutung!“

Diese kritische Theorie bringt Xenophanes in die folgenden schönen vier Verse:

Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie. Es ist alles durchwebt von Vermutung.

Diese vier Zeilen „enthalten eine Theorie der objektiven Wahrheit. Denn Xenophanes lehrt hier, daß etwas, das ich sage, wahr sein kann, ohne daß ich oder sonst jemand weiß, daß es wahr ist. Das heißt aber, daß die Wahrheit objektiv ist. Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen, was ich sage, mit den Tatsachen, ob ich es nun weiß oder nicht weiß, daß die Übereinstimmung besteht.“

Darüber hinaus enthalten diese Verse einen Hinweis auf den Unterschied zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewißheit des Wissens. Sie weisen darauf hin, dass jeder, auch wenn er die die vollkommenste Wahrheit verkündet, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen kann: „Denn es gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit. Wir können eben nie, oder fast nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“

Alles Wissen ist nur ein Vermutungswissen

Gleichwohl war Xenophanes kein erkenntnistheoretischer Pessimist. Er war vielmehr ein Sucher und natürlich gelang es ihm, im Laufe seines langen Lebens, manche seiner Vermutungen kritisch zu verbessern. Er formuliert das folgendermaßen:

Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.

Wenn Xenophanes hier von „dem Besseren“ spricht, dann meint er die Annäherung an die objektive Wahrheit,  die Wahrheitsnähe, die Wahrheits-ähnlichkeit.

Xenophanes’ Theorie des menschlichen Wissens enthält also die folgenden erkenntnistheoretischen Aussagen:
  1. „Unser Wissen besteht aus Aussagen.
  2. Aussagen sind wahr oder falsch.
  3. Die Wahrheit ist objektiv. Sie ist die Übereinstimmung des Aussageinhaltes mit den Tatsachen.
  4. Selbst dann, wenn wir die vollkommenste Wahrheit aussprechen, können wir das nicht wissen; das heißt, nicht mit Sicherheit, nicht mit Gewißheit wissen.
  5. Da „Wissen“ im vollen Sinn des Wortes „sicheres Wissen“ ist, so gibt es kein Wissen, sondern nur Vermutungswissen: „Es ist alles durchwebt von Vermutung.“
  6. Aber in unserem Vermutungswissen gibt es einen Fortschritt zum Besseren: die Wahrheit.
  7. Das bessere Wissen ist eine bessere Annäherung an die Wahrheit.
  8. Aber es bleibt immer Vermutungswissen – von Vermutung durchwebt.“

Xenophanes will also betonen, dass die objektive Wahrheit von der subjektiven Sicherheit deutlich unterschieden werden muss. „Die objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, ob wir das nun wissen – sicher wissen – oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht mit der Sicherheit verwechselt werden oder mit dem sicheren Wissen. Wer etwas sicher weiß, der kennt die Wahrheit. Aber es kommt oft vor, daß jemand etwas vermutet, ohne es sicher zu wissen; und daß seine Vermutung tatsächlich wahr ist.“

Xenophanes deutet ja richtig an, „daß es viele Wahrheiten gibt – und wichtige Wahrheiten –, die niemand sicher weiß; ja, die niemand wissen kann, obwohl sie von manchen vermutet werden. Und er deutet weiter an, daß es Wahrheiten gibt, die niemand auch nur vermutet.“

Es gibt also unendlich viele Wahrheiten. Und daraus folgt weiter, dass es unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können. Es gibt unendlich viele, für uns unerkennbare Wahrheiten.

Popper bedauert, dass es auch heute noch viele Philosoph
Xenophanes vor dem Wiener Parlament:
"Der Weg zur Wahrheit führt
immer durch den Irrtum!"
- Ein guter Merksatz für Politiker -
en gibt, die denken, „daß die Wahrheit nur dann von Bedeutung für uns sein kann, wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie mit Sicherheit wissen. Aber gerade das Wissen um die Tatsache, dass es Vermutungswissen gibt, ist von großer Bedeutung. Es gibt Wahrheiten, denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können.“ Und dieser Weg führt fast immer durch den Irrtum; und ohne Wahrheit kann es keinen Irrtum geben.

Somit gibt es Popper zufolge ausreichende Gründe dafür, daß auch heute die Sokratische Einsicht „Ich weiß, daß ich nicht weiß“ hochaktuell ist. Denn aus dieser Feststellung ergeben sich drei Prinzipien, „die jeder rationalen Diskussion zugrunde liegen, das heißt jeder Diskussion im Dienste der Wahrheitssuche.“ Das Erstaunliche ist, dass diese Prinzipien „gleichzeitig erkenntnistheoretische und ethische Prinzipien“ sind.

  1. „Das Prinzip der Fehlbarkeit: Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.
  2. Das Prinzip der vernünftigen Diskussion: Wir wollen versuchen, möglichst unpersönlich unsere Gründe für und wider eine bestimmte, kritisierbare Theorie abzuwägen.
  3. Das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit: Durch eine sachliche Diskussion kommen wir fast immer der Wahrheit näher; und wir kommen zu einem besseren Verständnis; auch dann, wenn wir nicht zu einer Einigung kommen."

Alle drei Prinzipien implizieren unter anderem Duldsamkeit und Toleranz: „Wenn ich von dir lernen kann und im Interesse der Wahrheitssuche lernen will, dann muß ich dich nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen; die potentielle Einheit und Gleichberechtigung aller Menschen sind eine Voraussetzung unserer Bereitschaft, rational zu diskutieren. Wichtig ist auch das Prinzip, daß wir von einer Diskussion viel lernen können ; auch dann, wenn sie nicht zu einer Einigung führt. Denn die Diskussion kann uns lehren, einige der Schwächen unserer Position zu verstehen.“

Es liegen also jeder Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, letztlich ethische Prinzipien zugrunde. „Die Idee der Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip ist ein solches ethisches Prinzip.“

Auch die Wahrheitssuche und die Idee der Annäherung an die Wahrheit sind weitere ethische Prinzipien; wie auch die Idee der intellektuellen Redlichkeit und die der Fehlbarkeit, die uns zur selbstkritischen Haltung und zur Toleranz führt.


Zitate aus: Karl Raimund Popper: Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, Vortrag, gehalten am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)

Donnerstag, 7. Mai 2015

Johann Sebastian Bach und die Kantate "Brich mit dem Hungrigen dein Brot" (BWV 39)

Johann Sebastian Bach
Ende Mai 1723 nahm Bach seinen Dienst in Leipzig als Thomaskantor auf. Als Kantor und Musikdirektor war er für die Musik in den vier Hauptkirchen der Stadt verantwortlich. Dazu zählte die Vorbereitung einer Kantaten-aufführung an jedem Sonntag (!) und an den Feiertagen.

Für den 1. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1726, den 23. Juni, komponierte Johann Sebastian Bach die Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“ (BWV 39). Das Werk gehört zum dritten Leipziger Kantatenjahrgang.

Die vorgeschriebene 1. Lesung für den Sonntag war der Text „Gott ist Liebe“ (1. Joh 4,16–21)

Gott ist die Liebe;
und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott
und Gott in ihm. (…)
Und dies Gebot haben wir von ihm,
dass, wer Gott liebt,
dass der auch seinen Bruder liebe.“

Die 2. Lesung aus dem Evangelium war das „Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus“ (Lk 16,19–31), das zwei Figuren einander gegenüberstellt: Der arme Lazarus liegt vor dem Tor des Reichen und begehrt die Brotstücke, die von dessen Tisch auf den Boden fallen, die ihm der Reiche aber verweigert.

Lazarus und der Reiche
(Codex Aureus Epternacensis)
Nach seinem Tod findet sich Lazarus in Abrahams Schoß wieder. Auch der Reiche stirbt und wird begraben, findet sich aber in der Unterwelt wieder, in der er qualvolle Schmerzen leidet. Von Abraham wird der Reiche aufgeklärt: “Mein Kind, denk daran, daß du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber mußt leiden.“

Das Thema der Kantate ist - in klarer Anlehnung an die beiden Lesungen – der Aufruf zur Nächstenliebe. Der Titel des Werkes schlägt den Bogen zur alttestamentlichen Tradition der Nächstenliebe, wie sie sich vor allem bei den Propheten findet:

„Brich mit dem Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne Obdach sind,
führe ins Haus! (…)
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,
und deine Heilung wird schnell voranschreiten,
und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen,
und die Herrlichkeit des HERRN
wird deinen Zug beschließen.“ (Jes 58, 7f )

Auch der abschließende Choral, die 6. Strophe des Liedes „Kommt, laßt euch den Herren lehren“ von David Denicke betont die Notwendigkeit der Solidarität mit den Bedürftigen:

Selig sind, die aus Erbarmen
sich annehmen fremder Noth,
sind mitleidig mit den Armen,
bitten treulich für sie Gott ;
die behilflich sind mit Rath,
auch, wo möglich, mit der That,
werden wieder Hilf empfangen,
und Barmherzigkeit erlangen.


Vier Jahre, nachdem die Kantate im Gottesdienst in Leipzig erklang, wurden etwa 20.000 protestantische Christen aus dem Fürsterzbistum Salzburg aufgrund des Ausweisungserlasses von 1731 aus ihrer Heimat vertrieben.

Berliner Briefmarke (1982)

Von ihrem Beginn an hatte die Reformation im Fürsterzbistum Salzburg stets viele Anhänger gefunden, obwohl im Erzbistum ausschließlich die katholische Konfession erlaubt war.

Die Existenz von „Geheimprotestanten“ – Protestanten, die vorgaben, katholisch zu sein - war den Behörden gleichwohl bekannt. Wer in die Hände der Machthaber geriet, wurde unter Bruch der Bestimmungen des Westfälischen Friedens sofort aus Salzburg ausgewiesen.

Schließlich bekannten sich die Protestanten in einer Bittschrift offen zum protestantischen Glauben. Ihr Ziel war es, im Land anerkannt zu werden und eigene protestantische Prediger zu erhalten. Dazu war die Salzburger Regierung nicht bereit und beschloss, die Protestanten so schnell wie möglich des Landes zu verweisen, damit sie sich nicht weiter ausbreiten könnten.

Der Ausweisungsbeschluss des Erzbischofs vom 31. Oktober 1731 widersprach ganz eindeutig dem Westfälischen Frieden. Zwar war eine Ausweisung Andersgläubiger im Fall Salzburgs nicht prinzipiell illegal, aber ihre konkrete Ausgestaltung verletzte eindeutig die Friedensbestimmungen: Statt mindestens drei Jahren wurden Besitzlosen nur acht Tage Abzugsfrist gewährt, Besitzenden je nach Vermögen ein bis drei Monate.

Im Spätherbst und Winter 1731/32 begannen die Ausweisungen. Die Verteilung der Flüchtlinge in den protestantischen Gegenden Süddeutschlands bereitete erhebliche Probleme. Einige Gruppen machten sich auf den Weg in die Niederlande, andere wanderten nach Amerika auf.
 

Symbolische Darstellung des Empfangs 

Salzburger Exulanten in Preußen 

durch König Friedrich Wilhelm I. 

(unbekannter Künstler)

Es war der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., der am 2. Februar 1732 eine offizielle Einladung für die Salzburger Lutheraner aussprach. Sie sollten bei der Wiederbesiedelung des Kronlandes in Ostpreußen helfen.

Bei ihrem Zug kamen die Salzburger auch durch Leipzig. 1600 Protestanten trafen Mitte Juni 1732 in Leipzig ein, wurden mit hingebender Gastfreundschaft aufgenommen, selbst bei den Thomanern wurden Flüchtlinge untergebracht. Auch an die geistlich Stärkung wurde gedacht und so ließ Bach in dem am Sonntag stattfindenden Festgottesdienst die Kantate „Brich mit dem Hungrigen dein Brot“, die er vier Jahre vorher komponiert hatte, wieder aufführen.  Ein Zeichen für Bachs tiefe Frömmigkeit und lutherischen Glauben. Schließlich zogen die Flüchtlinge weiter, ihrer neuen preußischen Heimat entgegen.

Für die Region Salzburg hatte der hohe Bevölkerungsverlust durch die Vertreibung anders als lange vermutet keine katastrophalen wirtschaftlichen Folgen. Erst 1966 sprach der Erzbischof Andreas Rohracher im Rahmen eines Festaktes sein tiefes Bedauern über die Vertreibung aus.

Zum Anhören: Brich´ mit dem Hungrigen dein Brot (BWV 39)



Literatur: Hermann Keller: Bachs Frömmigkeit und Glaube, in: Württembergische Blätter für Kirchenmusik, 13. Jahrgang Nr. 2, Februar 1939 - Aufbau und vollständiger Text der Kantate online unter: https://webdocs.cs.ualberta.ca/~wfb/cantatas/39.html