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Donnerstag, 19. Mai 2016

Jürgen Osterhammel und der Nationalstaat

Das 19. Jahrhundert gilt den Historikern, insbesondere den deutschen und französischen, als das Zeitalter des Nationalismus und der Nationalstaaten. In seinem monumentalen Werk über die „Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.Jahrhunderts“ wirft Jürgen Osterhammel einen kritischen Blick auf diese so lange unwidersprochene These.

Am Anfang seiner Darstellung steht die begriffliche Klärung: „Nationalismus“ definiert Osterhammel als „Wir-Gefühl“, „das sich auf ein großes, sich als politischen Akteur und als Sprach- und Schicksalsgemeinschaft begreifendes Kollektiv richtet.“

Seit dem Ende des 18. Jahrhundert hatte sich in Europaeine Haltung entwickelt, die auf relativ einfachen und allgemeinen Ideen beruht: „Die Welt zerfällt in Nationen als ihre `natürlichen´ Grundeinheiten; Imperien zum Beispiel sind demgegenüber künstliche Zwangsgebilde.“ Entscheidend dabei ist, dass die Nation – und nicht etwa die lokale Heimat oder gar eine Religionsgemeinschaft – der primäre Bezugspunkt individueller Loyalität sei und damit auch zum maßgebenden Rahmen für Solidaritätsbildung werde.

Eine Nation müsse daher „klare Kriterien der Zugehörigkeit zum Großkollektiv formulieren“, was übrigens auch zur Konsequenz führt, „Minderheiten als solche kategorisieren – eine Vorstufe zu einer möglichen, aber nicht zwingenden Diskriminierung.“

Schließlich strebt eine „politische Autonomie auf einem definierten Territorium.“ Sie benötigt zur Gewährleistung einer solchen Autonomie logischerweise einen eigenen Staat. Aus der Nation wird der Nationalstaat.

Dennoch ist der Zusammenhang zwischen Nation und Staat damit noch lange nicht leicht zu fassen. Hagen Schulze vertritt beispielsweise die These, dass in Europa zuerst der `moderne Staat´ entsteht und sich erst in einer zweiten Phase `Staatsnationen´ und dann `Volksnationen´herausbilden oder sich selbst als solche definieren. Erst in der Zeit nach der Französischen Revolution, so Schulze, habe „ein gesellschaftlich breit fundierter Nationalismus – Schulze sagt `Massennationalismus´ – das Formgehäuse des Staates annektiert.“

Schulze spricht sogar einer deutlich erkennbaren Periodisierung der Idee des Nationalstaates, beginnenden mit dem `revolutionären´ Nationalstaat (1815–1871), über den `imperialen´ (1871–1914) und schließlich den `totalen´ Nationalstaat (1914–1945). So erscheint der Nationalstaat als „das Kompositprodukt oder die aufhebende Synthese von Staat und Nation: nicht einer virtuellen, sondern einer mobilisierten Nation.“

Europa, Heimat der nationalen Identitäten
(Satirische Landkarte aus dem 19. Jahrhundert)

Wolfgang Reinhard dagegen kommt zu einem anderen Ergebnis als Schulze. Für ihn war die Nation „die abhängige, die Staatsgewalt aber die unabhängige Variable der historischen Entwicklung.“

Demnach sei der Nationalstaat, den auch Reinhard erst im 19. Jahrhundert erkennen kann, nicht „das nahezu unvermeidliche Resultat einer massenhaften Bewusstseinsbildung und Identitätsformierung `von unten´, sondern das Produkt eines konzentrierenden Machtwillens `von oben´.“

So sei der Nationalstaat gerade nicht die staatliche Hülle einer gegebenen Nation, sondern vielmehr ein „Projekt von Staatsapparaten und machthabenden Eliten“, oder auch von „revolutionären oder antikolonialen Gegeneliten.“

Immer aber knüpfe der Nationalstaat an ein bereits vorhandenes Nationalgefühl an, instrumentalisiere es dann aber für eine Politik der Nationbildung. Das Ziel der nationalstaatlichen, bzw. nationalistischen Politik besteht in der Folge darin, mehreres zugleich zu schaffen: „einen aus eigenen Kräften lebensfähigen Wirtschaftsraum, einen handlungsfähigen Akteur der internationalen Politik und manchmal auch eine homogene Kultur mit eigenen Symbolen und Werten.“

So gibt es Reinhard zufolge nicht nur Nationen auf der Suche nach einem eigenen Nationalstaat, sondern umgekehrt auch „Nationalstaaten auf der Suche nach der perfekten Nation, mit der sie sich im Idealfall zur Deckung bringen könnten.“ 

Es sei also wenig erstaunlich, dass die meisten Staaten, die sich heute als Nationalstaaten bezeichnen, in Wahrheit multinationale Staaten sind, „mit erheblichen Anteilen sich zumindest im vorpolitisch-gesellschaftlichen Raum organisierender Minderheiten.“

Diese Minderheiten unterscheiden sich vor allem dadurch voneinander, ob ihre politischen Führer die Existenz des Gesamtstaates separatistisch in Frage stellen wie beispielsweise die Katalanen in Spanien oder ob sie sich mit einer Teilautonomie zufrieden geben wie etwa die Schotten. „Solche Minderheiten waren die `Völkerschaften´ und (in einem vormodernen Wortsinne) `Nationen´ der großen Imperien. Die Polyethnizität aller Imperien hat sich in die Nationalstaaten hinübergerettet, gerade auch in die jungen des 19. Jahrhunderts, auch wenn diese das stets hinter homogenisierenden Diskursen zu verbergen versuchen.“

Imperium = ein Beziehungsgeflecht zwischen einem Zentrum und einer Peripherie,
die in Form von staatenübergreifenden Sozialstrukturen verbunden sind
 

Für Osterhammel schließlich ist das 19. Jahrhundert weniger ein Zeitalter der Nationalstaaten als vielmehr der Imperien. Selbst nach dem Ende des Ersten Weltkrieg, „der drei Imperien – das osmanische, das hohenzollernsche und den habsburgischen Vielvölkerstaat – zerstörte“, dauerte die imperiale Epoche an. Nicht nur bestanden die westeuropäischen Kolonialreiche fort, sondern auch der neuen Sowjetmacht gelang es innerhalb weniger Jahre, den kaukasischen und innerasiatischen Gürtel des spätzarischen Russischen Reiches wiederherzustellen. Schließlich bauten „Japan, Italien und – sehr kurzlebig – das nationalsozialistische Deutschland bauten neue Imperien auf, welche die älteren Reiche imitierten und karikierten.“

So kommt Osterhammel zum Schluss, dass das 19. Jahrhundert zwar kein `Zeitalter der Nationalstaaten´ war, dass es gleichwohl die Epoche des Nationalismus war, „in der diese neue Denkweise und politische Mythologie entstand, als Doktrin und Programm formuliert und als massenbewegendes Sentiment mobilisierend wirksam wurde.“

Häufig enthielt der Nationalismus eine starke anti-imperiale Komponente. In Deutschland war es gerade die Erfahrung französischer `Fremdherrschaft´, die den Nationalismus radikalisierte. „Im Zarenreich, in der Habsburger Monarchie, im Osmanischen Reich, in Irland: überall regten sich Widerstände im Namen neuer nationaler Vorstellungen.“ 

Deutscher Nationalismus und die Sehnsucht nach einem Nationalstaat: 
Der Zug zum Hambacher Schloss
Gleichwohl waren diese Widerstände nicht immer unweigerlich mit dem Ziel nationalstaatlicher Unabhängigkeit verknüpft. Manchmal ging es schlicht um den Schutz vor Übergriffen oder Diskriminierung oder um stärkere Repräsentation der eigenen Interessen innerhalb des imperialen Verbandes, meist mit dem Ziel, Spielräume für die eigene Sprache und Kultur zu gewinnen.

Erst im 20. Jahrhundert, „als neue, mit dem Westen vertraute Bildungseliten sich mit dem Modell des Nationalstaates angefreundet und die mobilisierende Kraft einer national-emanzipatorischen Rhetorik erkannt hatten ... war der eigene Nationalstaat, wie vage auch immer imaginiert, als Entfaltungs- und Gestaltungsrahmen politischer Führungsgruppen, die sich keiner höheren Autorität mehr unterordnen wollten, ein immer attraktiveres Ziel.

So war das 19. Jahrhundert weniger das „Zeitalter der Nationalstaaten“, sondern mehr eine „Zeit der Bildung von Nationalstaaten.“ Dabei ist es gerade nicht immer leicht anzugeben, wann ein Zustand der Nationalstaatlichkeit tatsächlich erreicht war, „wann die `äußere´ und die `innere´ Nationalstaatsbildung hinreichend ausgereift waren.“

Gerade der `innere´ Aspekt der nationalstaatlichen Bildung ist viel schwieriger zu erfassen, weil er Entscheidungen darüber verlangt, „wann ein bestimmtes territorial organisiertes Gemeinwesen innerhalb meist evolutionär verlaufender Wandlungen einen Grad der strukturellen Integration und homogenisierenden Bewusstseinsbildung erreicht hat, der es von seinem früheren Zustand (als Fürstenstaat, Imperium, alteuropäische Stadtrepublik, Kolonie usw.) qualitativ deutlich verschieden macht.“

Viel einfacher dagegen ist zu entscheiden, „wann ein Gemeinwesen international handlungsfähig wird, also die äußere Form eines Nationalstaates annimmt.“ 

Die Europa beherrschenden Nationalstaatbildungen der Epoche jedenfalls, so Osterhammel, „folgten nicht dem polykephalen, sondern einem hegemonialen Modell, bei dem eine regionale Vormacht die Initiative ergreift, militärische Mittel einsetzt und dem neu entstandenen Staat ihren Stempel aufdrückt“, wie man am Beispiel Preußens als der „unifizierende Hegemon“ für den deutschen Nationalstaat hervorragend sehen kann.


Zitate aus: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010 (C.H. Beck)   -   Weitere Literatur: Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003 (C.H.Beck)



Donnerstag, 2. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 1: Die Massen

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Arendt geht davon aus, dass totalitäre Herrschaft ohne Unterstützung durch eine Massenbewegung möglich ist: „Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint.“ (663)

„Ohne den Führer sind die Massen ein Haufen,
ohne die Massen ist der Führer ein Nichts“ (Hannah Arendt)

So seien totalitäre Bewegungen überall da möglich, wo Massen existieren, die „aus gleich welchen Gründen“ nach politischer Organisation verlangen. Das Entscheidende ist, dass die Massen nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten werden, ihnen somit auch jedes spezifische Klassenbewusstsein fehlt, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt.

Vielmehr ist der Ausdruck `Masse´ „überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder, weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemein erfahrenen und verwalteten Welt beruht, als in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen“ (668).

Totale Herrschaft setzt also die allmähliche Zerstörung des politischen Raums und die Entfremdung des Individuums in der Massengesellschaft voraus. Mit dem Wegfall der Klassenstruktur und dem Zusammenbruch des Parteiensystems nun verwandelten sich Arendt zufolge die apathischen Mehrheiten, die bisher hinter jeder Parteien gestanden hatten, in „eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen, die nicht verband außer der allen gemeinsamen Einsicht, dass die Hoffnungen der Parteimitglieder auf die Wiederkehr der guten alten Zeit sich nicht erfüllen und dass sie jedenfalls diese Wiederkehr schwerlich erleben würden und dass daher diejenigen, welche bisher die Gemeinschaft vertraten … in Wahrheit Narren waren, die sich mit den bestehenden Mächten verbündeten, um alle übrigen entweder aus schierer Dummheit oder aus schwindelhafter Gemeinheit in den Abgrund zu führen“ (677f).
 
NSDAP - Reichsparteitag in Nürnberg (1936)

Das Erstaunliche nun ist, dass die politischen Eliten Europas „mindestens seit Jakob Burckhardt und Nietzsche“ auf das Emporkommen von Demagogen und Militärdiktaturen, auf die Verbreitung von Aberglauben, Leichtgläubigkeit, Dummheit und Brutalität vorbereitet waren. Es war daher schon unverzeihlich, dass sich viele Intellektuelle „in den Zeiten der Prüfung" von den Versprechungen des Kommunismus und Nationalsozialismus haben betören lassen.

Schlimmer jedoch war, dass sie kaum die Folgen dieses Phänomens eines radikalen Selbstverlusts vorausgesehen oder richtig eingeschätzt haben, „diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten.“ (680)

Arendt verdeutlicht diese Beobachtung an den Moskauer Prozessen und der Liquidierung der Röhm-Fraktion. Beide wären nicht möglich gewesen, „wenn nicht gerade die Massen hinter Stalin und Hitler gestanden hätten“ (659).

Totalitäre Führer sind eben nicht nur Demagogen, und das Beunruhigende ihres Erfolges liegt nicht allein darin, dass sie an pöbelhafte Instinkte appellieren. Was die modernen Massen beispielsweise vom Mob unterscheidet, ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen, die sich so auffallend in den modernen totalitären Massenorganisationen manifestiert. Dass Mitglieder totalitärer Bewegungen sich nicht über Verbrechen gegen Gegner ihrer Ideologie aufregen, ist selbstverständlich. Aber keineswegs selbstverständlich ist, „dass wir die gleiche Bewunderung für das Verbrechen, oder doch zumindest die gleiche Indifferenz, auch dann antreffen, wenn die Betroffenen Mitglieder der eigenen Bewegung sind, und dass schließlich, wie wir aus zahllosen Beispielen aus der kommunistischen Partei wissen, die Anhänger auch dann nicht in ihren Überzeugungen zu erschüttern sind, wenn sie selbst die Opfer werden“ (660).
 
Das Selbstbild der Führer des Totalitarismus

Das war es auch, was die gesamte zivilisierte Welt an den Moskauer Prozessen so erschütterte und verwirrte: „Dass die Opfer als die willigen Helfershelfer der Ankläger erschienen und in ihren `Geständnissen´ die freien Erfindungen der Staatsanwaltschaft eher noch überboten. Die Parteidisziplin, der sie sich unterstellt hatten, als sie in die Bewegung eintraten … hielt allen Proben stand (…) Das Argument, dem sie sich alle beugten, lautete: `Wenn du wirklich, wie du behauptest, für die Sowjetunion bist, dann kannst du es augenblicklich nur dadurch beweisen, dass du die Geständnisse ablegst, die die Regierung von dir verlangt, weil sie in diesem Zeitpunkt solche Geständnisse braucht´“. Sie blieben, mit anderen Worten, auch auf der Anklagebank noch Funktionäre der Partei und bemühten sich … eifrig, das Beweismaterial für ihre eigenen Todesurteile … herbeizuschaffen“ (660f).

Die totalitären Bewegungen sind also „Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen“, bei denen man eine im Vergleich zu anderen Parteien und Bewegungen, erstaunliche Ergebenheit und `Treue´ beobachten kann:

„Wie sehr die totale Ergebenheit der Mentalität des Massenindividuums entspricht, kann man deutlichst daran ablesen, dass totalitäre Führer und Bewegungen sich auf sie verlassen können, bevor sie die Macht ergriffen und den totalen Terror organisiert haben. Innerhalb der Bewegung genügt die ideologisch begründete Behauptung, dass die Bewegung im Begriff stehe, die gesamte Menschheit zu organisieren, vollkommen, denn wer diese Behauptung ernst nimmt, schließt sich ja von der zukünftigen Menschheit überhaupt aus, wenn er die Forderung der totalen `Treue´ nicht erfüllt“ (697f).
 
"Totalitäre Bewegungen sind Massenorganisationen
atomisierter und isolierter Individuen"

An dieser Stelle gibt Arendt bereits einen Ausblick auf einen der Wesenszüge totaler Herrschaft: Diese gibt sich nämlich niemals damit zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen, sondern „in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren“ (701).

So haben weder der Nationalsozialismus, noch der Bolschewismus jemals eine neue Staatsform proklamiert oder behauptet, dass ihre Ziele mit dem Ergreifen der Macht und des Staatsapparats befriedigt seien. Was die Herrschaft betrifft, so ging es ihnen um etwas, was kein Staat und bloßer Gewaltapparat, sondern nur eine ständig „in Bewegung gehaltene Bewegung“ leisten kann, nämlich die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen:

„Die Macht als Gewalt ist für die totalitäre Herrschaft niemals ein Ziel, sondern nur ein Mittel, und die Machtergreifung in einem gegebenen Land nur das willkommene Durchgangsstadium, nicht das Ende der Bewegung. Das praktische Ziel der Bewegungen ist, soviel Menschen wie möglich in die Bewegung hineinzuorganisieren und in Schwung zu bekommen; ein politisches Ziel, bei dem die Bewegung an ihr Ende kommen würde, gibt es überhaupt nicht“ (702).

Dazu gehört selbstverständlich auch die Unterdrückung aller höheren Formen geistiger Aktivität. Totale Beherrschung kann daher die freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, „weil sie kein Handeln zulassen darf, das nicht absolut voraussehbar ist. Die totalitäre Bewegung muss daher, wenn sie erst einmal die Macht in der Hand hat, unerbittlich alle Talente und Begabungen, ohne Rücksicht auf etwaige Sympathien durch Scharlatane und Narren ersetzen; ihre Dummheit und ihr Mangel an Einfällen sind so lange die beste Bürgschaft für die Sicherheit des Regimes, als dieses noch nicht seine eigene Funktionärsschicht herangezogen hat, die selbst gegen die Menschlichkeit der Narrheit und Scharlatanerie gefeit ist“ (724).

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)   -   Weitere Literatur: Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt)   -   Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991 (Metzler)

Donnerstag, 18. Juli 2013

Hannah Arendt und die Eroberung des Staates durch die Nation

Der völkische Nationalismus beruht, wie Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) überzeugend dargestellt hat, auf der schlichten Behauptung, dass „das eigene Volk einzigartig und seine Existenz mit der gleichberechtigten Existenz anderer Völker unvereinbar sei.“

Diese Behauptung verbindet sich mit der Idee, „dass das eigene Volk von `einer Welt von Feinden umgeben´, in einer Situation des `einer gegen alle´ sich befindet, und dass es infolgedessen nur einen Unterschied in der Welt gibt, der zählt, den Unterschied zwischen einem selbst und allen anderen“ (482).

In diesem Kontext vertraten vor allem die Ideologen der Panbewegungen im 18. Jahrhundert die These vom göttlichen Ursprung der Völker. Demnach ist die „nationale Zugehörigkeit eine von Gott selbst geschaffene ewige Eigenschaft des Menschen.“ Wird eine solche Nationalität noch dazu als eine Auserwähltheit gedeutet, „so wird das gesamte Volk aus dem Verdikt nachprüfbarer Geschichte erlöst, da nun nichts, was ihm im Rahmen seiner geschichtlichen Realität widerfahren ist – Eroberung, Wanderungen, Zerstreuungen –, etwas an seiner geschichtlichen `Sendung´ ändern kann“ (496)

Ausgehend von dieser pseudotheologischen Prämisse tritt im völkischen Denken an die Stelle „der individualistisch verstandenen Menschenwürde“ nun die Vorstellung, „dass alle, die in dasselbe Volk geboren sind, auf eine naturhafte Weise miteinander verbunden sind und, ähnlich wie die Mitglieder der gleichen Familie, aufeinander sich verlassen können.“ Arendt gibt sogar zu, dass die mit solchen Vorstellungen verbundene Wärme und Sicherheit in der Tat sehr geeignet war, „die berechtigten Ängste moderner Menschen in dem Dschungel einer atomisierten Gesellschaft zu beschwichtigen, gerade weil diese Bewegung „durch Uniformierung und massenhafte Zusammenfassung von Menschen eine Art Ersatz für gesellschaftliche Heimat und Sicherheitsgefühl zu geben vermag“ (499).

Arendt lässt keinen Zweifel daran, dass die Frage, „ob Gott den Menschen oder die Völker schuf“, in der Tat für jede politische Philosophie von grundsätzlicher Bedeutung ist. Gleichwohl ist für sie klar, dass alle Völker „offenkundig das Resultat menschlicher Organisation“ sind (497).

Der Ruf nach "Deutschlands Wiedergeburt": Das Hambacher Fest (1832:)

So entstehen Arendt zufolge Nationen überall da, „wo Völker begannen, sich als geschichtliche und kulturelle Einheiten zu verstehen, die auf einem bestimmten, ihnen zugewiesenen Siedlungsgebiet beheimatet und verwurzelt sind, weil auf ihm die Geschichte ihre für alle sichtbaren Spuren hinterlassen hatte, so dass die Erde selbst, so wie sie in Feld und Acker und Landschaft von menschlicher Bestellung erzeugt wurde, auf die gemeinsame Arbeit der Vorfahren und das gemeinsame, an diesen Boden gebundene Schicksal der Nachfahren verwies“ (487).

Entscheidend ist für Arendt, dass der Nationalstaat seit den Tagen der Französischen Revolution den Anspruch vertrat, „das Volk im Ganzen zu repräsentieren“, so dass auf diese Weise zwei Faktoren, „nämlich nationale Zugehörigkeit und Staatsapparat, miteinander verschmolzen und im nationalen Denken miteinander identifiziert wurden.“ So bestand die höchste Funktion des Staates darin, den gesetzlichen Schutz „aller Einwohner des Territoriums ist, ohne Rücksicht auf deren nationale Zugehörigkeit“ (487f)

Für Arendt besteht die Tragödie des Nationalstaates darin, „dass das Nationalbewusstsein der Völker gerade mit dieser höchsten Funktion des Staates in Konflikt geriet, insofern als es im Namen des Volkswillens verlangte, dass nur diejenigen als vollgültige Bürger in den Staatsverband aufgenommen werden sollten, die durch Abstammung und Geburt dem als wesentlich homogen angenommenen Körper der Nation zugehörten.“

Dadurch wurde der Staat “aus einem gesetzgebundenen und Gesetzlichkeit schützenden Apparat zu einem Instrument der Nation. Die Nation setzte sich an die Stelle des Gesetzes“ (488).

Moderner völkischer Nationalismus in Katalonien

Auf dem Spiel steht nicht mehr und nicht weniger das politische Verständnis von Gleichheit der Menschen: Für Arendt sind „Menschen ungleich, was ihren menschlich-natürlichen Ursprung angeht, so wie die Völker sich wesentlich voneinander durch verschiedene Organisationen und geschichtliche Schicksale unterscheiden. Ihre Gleichheit ist nur eine Gleichberechtigung, und diese kann sich nur dort verwirklichen, wo Menschen sich so miteinander verständigen und einrichten, dass sie sich solche Gleichberechtigung garantieren“ (497).

Genau diese Gleichberechtigung bzw. ihre rechtliche Garantie durch die staatlichen Institutionen geht in der `Eroberung des Staates durch die Nation´ unwiderruflich verloren, weil „das einzig verbliebene Band zwischen den Bürgern eines Nationalstaates … nun das Nationale, die gemeinsame Abstammung“ war:

„In einem Jahrhundert, in dem jede Schicht der Bevölkerung von ihren partikularen Klassen- und Gruppeninteressen beherrscht war und Politik sich in der tat in dem Widerstreit solcher Interessen erschöpfte, erschien daher das gemeinsam nationale Interessen nirgends garantiert zu sein außer in der gemeinsamen Abstammung, dem der Nationalismus als eine bestimmte, allen Klassen und Gruppierungen gemeinsame Gesinnung entsprach“ (489).

Als die Nation schließlich den Staat erobert hatte, wurde offensichtlich, dass nationale Interessen allen Erwägungen juridischer Art überzuordnen waren, dass mit anderen Worten `Recht ist, was dem eigenen Volke nützt´. „Die Sprache des Mobs drückte hier wie auch sonst nur das in brutaler Offenheit aus, wovon die öffentliche Meinung ohnehin überzeugt war und dem die öffentliche Politik, wenn auch mit Zurückhaltung, ohnehin Rechnung trug“ (575)

Das Ergebnis dieses historischen Prozesses ist bekannt: „Sobald das immer prekäre Gleichgewicht zwischen Nation und Staat, zwischen Volkswillen und Gesetz, zwischen nationalem Interesse und legalen Institutionen verlorenging zugunsten einer immer chauvinistischer werdenden Nation und von Interessen, die oft nicht einmal mehr im wahren Interesse der Nation lagen, erfolgte die innere Zersetzung des Nationalstaates mit großer Geschwindigkeit, wobei man sich klar sein muss, dass Geschwindigkeit historisch nach Jahrzehnten und nicht nach Jahren oder Monaten zu berechnen ist. Und diese Zersetzung begann in genau dem historischen Augenblick, als zum ersten Mal das Recht zur nationalen Selbstbestimmung in ganz Europa anerkannt worden war. Dies hieß eben auch, dass der Vorrang des nationalen Volkswillens von allen legalen Institutionen und `abstrakten´ Maßstäben in ganz Europa akzeptiert worden war“ (575).

Selbstinszenierung des Völkischen Nationalismus: Lichtdom auf dem Reichsparteitag der NSdAP, "Parteitag der Ehre" (eröffnet am 8.9.1936 in Nürnberg)

Nachtrag vom 13.09.2013:
Für die Europäische Komission ist Katalonien nicht nur die korrupteste Region Spaniens, sondern nimmt unter den 172 Regionen Europas den 130. Rang ein. Wen wundert es?
  
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 482ff

Donnerstag, 11. Juli 2013

Rudyard Kipling die imperialistische Legende Englands

Joseph Rudyard Kipling (1865-1936)
Als Rudyard Kipling 1907 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war er nicht nur der erste britische Schriftsteller, sondern auch der bis dahin jüngste Autor, dem diese Ehrung zuteil wurde. Kipling erwarb seinen Ruhm vor allem als hervorragender Erzähler und Verfasser von Kurzgeschichten. Seine Kinderbücher – u.a. Das Dschungelbuch – gehören zu den Klassikern des Genres.

Obwohl er zu den populärsten englischen Schriftstellern zählte, nahmen seine Popularität und auch sein literarischer Erfolg nach dem Ersten Weltkrieg stark ab. Das hatte einen einfachen Grund, wie Jorge Luis Borges im Vorwort zum Sammelband „Das Haus der Wünsche“ schreibt: „Kipling wurde als der kritische Barde des Britischen Weltreichs katalogisiert. Das hat an sich nichts Unehrenhaftes, aber es genügte, um seinen Namen zu schmälern, vor allem in England. Seine Landsleute haben ihm niemals ganz seine ständigen Bezugnahmen auf das Imperium verziehen.“

In diesem Kontext geht auch Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) auf Kipling ein, den sie als „Schöpfer der imperialistischen Legende“ bezeichnet.

Legendäre Darstellungen der Geschichte haben Arendt zufolge schon immer den Zweck, „an Tatsachen und Ereignissen nachträglich Korrekturen vorzunehmen, welche die Geschehenskette, in deren Verantwortlichkeit der Mensch unabhängig von bewusster Tat oder voraussehbarer Konsequenz eingespannt ist, menschlich erträglicher machten“.

Das Wasser (Vor Anker liegende englische Schiffe)

Denn die Wahrheit dieser alten Legenden liegt in dieser „von Menschen gestiftete Helle, in der allein die Völker es ertragen können, vergangenes Geschehen als ihre Vergangenheit anzuerkennen, in der sie Herren wurden über das, was sie nicht getan hatten, oder fertig wurden mit dem, was sie nicht ungeschehen machen konnten.“

Legenden gehören nicht nur zu den frühesten Erinnerungen des Menschengeschlechts, sondern sind geradezu der Beginn der menschlichen Geschichte. Eine besondere Blüte erlebte die Legende im Rahmen der national gebundenen Gründungslegenden im 19. Jahrhundert. Für Arendt ist Kipling der Schöpfer der imperialistischen Legende Englands, „ihr Thema ist das englische Weltreich; und ihr Resultat ist der imperialistische Charakter.“

Im Falle des imperialistischen Charakters Englands zeichnet sich dieser durch ein Verantwortungsbewusstsein aus, „das aus der Überzeugung entsprang, dass man mit prinzipiell unterlegenen Völkern zu tun hatte, die man einerseits zu schützen in gewissem Sinne die Pflicht hatte, für die aber andererseits niemals die gleichen Gesetze gelten können wie für das Volk, das man selbst in dieser Herrschaft vertrat.“ – eine Beobachtung, die eine erstaunliche Nähe aufweisen zu den Anmerkungen von Karl Marx über die britische Herrschaft in Indien.

Der Wind (Englisches Kriegsschiff Great Harry)

Die Gründungslegende des englischen Weltreiches, wie Kipling sie in der Erzählung „The First Sailor“ präsentiert, beginnt mit den natürlichen Grundbedingungen des britischen Volkes. „Umgeben vom Meer, bedürfen sie des Beistandes der drei Elemente: des Wassers, des Windes und der Sonne; und sie verbünden sich mit diesen Elementen durch die Erfindung des Schiffes. Das Schiff trägt das gefährliche Bündnis mit den Elementen und macht die Engländer zu den Herren der Welt.“

„You’ll win the world without anyone caring how you did it: you’ll keep the world without anyone knowing how you did it: and you’ll carry the world on your backs without anyone seeing how you did it. But neither you nor your sons will get anything out of that little job except Four Gifts—one for the Sea, one for the Wind, one for the Sun, and one for the Ship that carries you …

For, winning the world, and keeping the world, and carrying the world on their backs—on land, or on sea, or in the air—your sons will always have the Four Gifts. Long-headed and slow-spoken and heavy—damned heavy—in the hand, will they be; and always and always a little bit to windward of every enemy—that they may be a safeguard to all who pass on the seas on their lawful occasions.” (Kipling, The First Sailor)

Die Sonne (Zwei Kriegsschiffe und kleinere Küstenfahrzeuge vor Anker auf der Themse bei Greenwich)

Die Erzählung – aufgrund ihrer Verspieltheit in eigentümlicher Nähe zu antiken Gründungslegenden – stellt den Engländer als das einzige politisch erwachsene Volk dar, „dem darum die Sorge um das Wohlergehen der Welt zur Last gelegt werden kann, während die übrigen Völker offenbar so schwach sind, dass sie eines Beschützers bedürfen, oder so barbarisch, dass sie die großen Kommunikationswege der Erde nur stören und gefährden können. Politisch jedenfalls sind sie alle so unerfahren, dass sie weder wissen, was die Welt zusammenhält, noch sich darum scheren.“

Das Problem dieser mythischen Verklärung war, das ihm wohl der Schein einer echten Legende eigen war und dennoch der Trug allzu offensichtlich wurde, denn „die Welt wusste und sah genau, „wie sie es machten“, und die schönste Sage hätte ihr nicht weismachen können, dass die Engländer aus diesem `little job´ nichts für sich selbst herausholten.“
  
Zitate aus: : Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 443ff  -  Rudyard Kipling: The First Sailor, in: A Book of Words. For my friends known and unknown. Selections from speeches and addresses.  Delivered between 1906 and 1927 (1928)

Weitere Literatur: Rudyard Kipling: Das Haus der Wünsche. Eine Sammlung phantastischer Literatur. Erzählungen. Vorwort von Jorge L. Borges, in: Die Bibliothek von Babel, Bd.13, Frankfurt 2007 (Edition Büchergilde)