Donnerstag, 27. Januar 2022

Ralf Dahrendorf und die Tugendlehre der Freiheit

Es ist von einer gewissen Tragik, dass es im 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Intellektuellen gegeben hat, die sich von den Versprechungen des National-sozialismus oder Kommunismus betören haben lassen. 

Die Frage nach den Gründen ist oft gestellt worden. Dahrendorf dagegen dreht die Frage um: Warum haben manche Intellektuelle den Versuchungen der Unfreiheit widerstanden? Was ist überhaupt das Geheimnis des unversuchbaren liberalen Geistes?

Karl Popper, Raymond Aaron und Isaiah Berlin beispielsweise gehören zu denen, die trotz aller Versuchungen stets dem Leitstern der unteilbaren Freiheit gefolgt sind. 

Ralf Dahrendorf (1929 - 2009)

Dazu aber sind innere Kräfte nötig, die Dahrendorf im Anschluss an die klassischen Kardinaltugenden fortitudo, iustitia, temperantia und prudentia als Tugendlehre der Freiheit zusammenfasst.

Intellektueller Mut ist der Mut des Einzelkämpfers um der Wahrheit willen. Mut beschreibt die Fähigkeit, seine geistige Unabhängigkeit in einer fremden und feindseligen Umwelt zu verteidigen, sich immun zu machen gegen Moden und Zeitgeist. 

Gerechtigkeit ist die Einsicht, dass es im Zusammenleben der Menschen Gegensätze und Widersprüche gibt, die sich nicht einfach durch Gleichschaltung oder durch Anbetung einer „höheren Wahrheit“ aus der Welt schaffen lassen. Weil es eben keine menschliche Gesellschaft ohne Konflikt geben kann, ist es vielmehr nötig, Institutionen zu schaffen, die es erlauben, Streit und Gegensätze friedlich, geregelt und ohne Unterdrückung der Grundfreiheiten auszutragen. 

Gerechtigkeit gibt es demnach nur, wenn die politische Verfassung auf den zwei Grundpfeilern des Liberalismus beruht, der Herrschaft des formalen Rechts und der politischen Demokratie. Nur so ist überhaupt Fortschritt möglich:

„Der Streit, allgemein der Konflikt aber findet in der liberalen Ordnung nicht nur seine Bändigung, sondern auch seine Verwandlung von einer zerstörerischen in eine produktive, eine schöpferische Kraft. Kant wusste das. Für ihn ist der gebändigte Konflikt die Quelle des Fortschritts.“ (76f)

Die Besonnenheit beschreibt das Verhalten des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt, in diesem Fall als engagierter Beobachter. Engagement heißt sowohl innere Anteilnahme an der beobachteten Sache als auch Verpflichtung für die Wahrheit. Dies ungebrochen durchzuhalten ist nicht immer leicht, denn inneres Engagement, das „vor dem Handeln zurückschreckt und im Beobachten eine Erfüllung sucht, kann es im Grunde nicht geben.“ (69)

Weisheit ist vor allem der richtige Gebrauch der Vernunft. Vernunft ist die Bereitschaft, kritische Argumente anzuhören und aus der Erfahrung zu lernen. So darf derjenige, der an die Vernunft glaubt, nicht aufhören, seine Stimme gegen irrationale Leidenschaften zu heben, die versuchen, das Feld der öffentlichen Debatte zu erobern.

„Das ist es also, was man braucht, um den Versuchungen der Unfreiheit zu widerstehen: die Fähigkeit, sich auch wenn man allein bleibt nicht vom eigenen Kurs abbringen zu lassen; die Bereitschaft, mit den Widersprüchen und Konflikten in der menschlichen Welt zu leben; die Disziplin des engagierten Beobachters, der sich nicht vereinnahmen lässt; die leidenschaftliche Hingabe an die Vernunft als Instrument der Erkenntnis und des Handelns. Das Sind Tugenden, Kardinaltugenden der Freiheit.“ (81)

Die Tugendlehre der Freiheit ist somit zugleich eine politische Ethik – nicht nur für Intellektuelle.


Zitate aus: Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2008 (C.H. Beck)


Donnerstag, 20. Januar 2022

Eamonn Butler und der klassische Liberalismus (Teil 2)


Fortsetzung vom 13. Januar 2022

„Klassisch Liberale sind überzeugt, dass jeder Mensch sein Leben so gestalten können sollte, wie er oder sie es selber wünscht, mit möglichst geringen Einschränkungen durch andere Individuen oder Autoritäten. Sie akzeptieren die Tatsache, dass Freiheit niemals absolut sein kann, da die Freiheit des einen mit der des anderen in Konflikt geraten kann, so wie wir alle Bewegungsfreiheit haben, uns jedoch nicht alle zur selben Zeit auf den gleichen Punkt zubewegen können. Niemand hat die Freiheit, andere zu berauben, zu bedrohen, zu etwas zu zwingen, anzugreifen oder umzubringen, weil dadurch deren Freiheit verletzt würde.“ 

Eamonn Butler, Mitbegründer und Direktor des Adam Smith Institute in London, zufolge lässt sich klassischer Liberalismus am ehesten darüber definieren, welchen Stellenwert er der individuellen Freiheit beimisst, denn mit Blick auf das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben streben klassische Liberale danach, die Freiheit des Individuums zu vergrößern.

Nach Butler lassen sich die Grenzen der individuellen Freiheit, oder die Grenzen für die Handlungen von Individuen oder Regierungen nicht eindeutig bestimmen. Auch die Vertreter des klassischen Liberalismus sind sich hier nicht immer einig. Aber sie stimmen im Großen und Ganzen überein, dass jede Antwort die individuelle Freiheit vergrößern sollte und dass jeder, der sie einschränken möchte, dafür sehr gute Gründe vorbringen muss. Buttler schlägt daher zehn Prinzipien vor, denen alle klassisch Liberalen zustimmen können.

Beschränkte und repräsentative Regierung  -  „Klassisch Liberale gestehen zu, dass ein gewisses Maß an Gewalt notwendig sein mag, um uns daran zu hindern, andere zu schädigen, und sie stimmen zu, dass nur die Autoritäten über diese Gewalt verfügen sollten. Dennoch ist ihnen natürlich klar, dass Gewalt nicht durch irgendeinen neutralen Staat ausgeübt wird, sondern durch Menschen, die genauso unvollkommen sind wie wir alle. Sie wissen, dass Macht die Tendenz hat zu korrumpieren und dass Politiker häufig das öffentliche Interesse anführen, um Maßnahmen durchzusetzen, die eigentlich ihren eigenen Interessen entsprechen.“

John Locke (1632–1704)

Schon die Vertreter der Gesellschaftsvertragstheorie wie der englische Philosoph John Locke (1632–1704) argumentieren, „dass die Regierungsgewalt von den Individuen kommt und nicht etwa umgekehrt. Menschen übertragen einen Teil ihrer Freiheit der Regierung, damit sich ihre Gesamtfreiheit vergrößert. Deshalb dürfen Regierungen rechtmäßig keine Gewalt besitzen jenseits der Gewalt, die Individuen selber haben; ja, der gesamte Zweck einer Regierung ist es, Freiheitsräume zu vergrößern, und nicht, sie einzuschränken.“

Dies brachte den amerikanischen Denker Thomas Paine (1737–1809) zu der These, dass es das gute Recht eines jeden Bürgers, eine Regierung zu stürzen, die dieses Vertrauen bricht. Doch Revolutionen sind nur die letzte Lösung. 

Klassisch Liberale glauben, „dass eine repräsentative Demokratie, gebunden durch eine Verfassung, das beste Mittel ist, das wir bisher kennen, um unsere Gesetzgeber dem Volk gegenüber zur Rechenschaft ziehen zu können. Bei Wahlen geht es nicht so sehr darum, gute Anführer auszuwählen, sondern darum, schlechte loszuwerden.“

Dennoch hat Demokratie Grenzen: „Sie mag ein gutes Mittel sein, um bestimmte Entscheidungen zu treffen, doch derer gibt es nicht viele; in der Regel ist es angemessener, Individuen eigene Entscheidungen fällen zu lassen.“

Die Herrschaft des Rechts  -  „Ein weiteres Prinzip, das Macht beschränkt und der Gesellschaft Sicherheit ermöglicht, ist die Herrschaft des Rechts. Es handelt sich dabei um die Idee, dass sich Herrschaft aufgrund bekannter Gesetze konstituiert und nicht aufgrund willkürlicher Entscheidungen von Regierungsbeamten.“ Der der amerikanische Politiker John Adams (1735–1826) sprach daher lieber von einer „Regierung des Rechts“ und nicht von einer „Regierung der Menschen».

"Herrschaft des Rechts" statt "Herrschaft der Menschen"

Klassisch Liberale bestehen darauf, „dass Recht für alle gleichermaßen Geltung haben muss, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Sprache, ihrer Familie oder einer anderen irrelevanten Eigenschaft. Es sollte für Regierungsbeamte ebenso gelten wie für einfache Bürger. Keiner darf über dem Gesetz stehen.“

Damit die Herrschaft des Rechts aufrechterhalten werden kann, bedarf es eines Justizsystems mit unabhängigen Gerichten, das nicht durch einzelne Individuen oder die Regierung manipuliert werden kann. „Es muss grundlegende Prinzipien der Rechtsprechung und -durchsetzung geben wie beispielsweise „Habeas-Corpus-Garantien“, Schöffengerichte und ordentliche Gerichtsverfahren, um die Machthaber daran zu hindern, das Recht für ihre eigenen Interessen zu nutzen.“

Die Herrschaft des Rechts sorgt zudem für Vorhersehbarkeit, weil sie den Bürgern ermöglicht, vorauszusehen, wie sich Menschen – insbesondere Regierungsbeamte - wohl verhalten oder nicht verhalten werden. Deshalb können wir langfristige Planungen vornehmen, ohne fürchten zu müssen, dass sie durch die Launen anderer zerstört werden.

Spontane Ordnung  -  „Man könnte meinen, dass eine große und komplexe Gesell-schaft eine große und mächtige Regierung brauche, um sie zu organisieren, doch klassisch Liberale bezweifeln das. Sie sind überzeugt, dass Regierungen nicht die Grundlage gesellschaftlichen Miteinanders sind. Die komplexen, gesellschaftlichen Institutionen, die wir um uns herum wahrnehmen, sind größtenteils ungeplant. Sie sind das Ergebnis menschlichen Handelns und nicht menschlichen Entwurfs.“

Es bedurfte bespielsweise keiner zentralen Autorität und keines bewussten Planens, „um Sprache hervorzubringen, unsere Gebräuche und Kultur oder den Markt für Güter und Dienstleistungen. Diese Institutionen wachsen und entwickeln sich aus unzähligen Beziehungen und dem Austausch zwischen freien Menschen. Wenn sie sich über die Jahrhunderte hinweg als nützlich und hilfreich erweisen, dann bleiben sie bestehen, wenn nicht, dann wandeln sie sich oder werden aufgegeben.“

Der österreichische Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek (1899–1992) nannte das Ergebnis „Spontane Ordnung“. „Spontane Ordnungen können außerordentlich komplex sein. Sie entstehen, indem einzelne Personen bestimmten Verhaltensregeln folgen, wie beispielweise den Regeln der Grammatik, wobei sie sich dessen oft gar nicht bewusst sind und die Regeln kaum beschreiben könnten. Es ist ein gewaltiger Irrtum, wenn Politiker und Beamte meinen, dass ein Einzelner solche komplexen Ordnungen verstehen, geschweige denn verbessern könne.

Eigentum, Handel und Märkte  -  „Klassisch Liberale glauben, dass Wohlstand nicht durch Regierungen erzeugt wird, sondern durch die wechselseitige Kooperation von Individuen in der Spontanen Ordnung des Marktes. Wohlstand entsteht dadurch, dass freie Individuen erfinden, erschaffen, sparen, investieren und schließlich Waren und Dienstleistungen freiwillig tauschen, wobei beide Seiten davon profitieren. Dies ist die Spontane Ordnung des freien Marktes. Diese wohlstandsfördernde, soziale Ordnung erwächst aus einer einfachen Regel: dem Respekt für Privateigentum und Verträge, was Spezialisierung und Handel ermöglicht.“

Für den klassischen Liberalismus sind Freiheit und Eigentum eng miteinander verbunden. Die Marktwirtschaft und der Wohlstand, den sie generieren, sind abhängig von der freien Bewegung von Menschen, Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Ideen. Und die Existenz von privatem Wohlstand macht es Menschen leichter, der Ausbeutung einer übergriffigen Regierung zu widerstehen.

Wohlstand für alle!

„Klassisch Liberale lassen es nicht zu, dass Eigentum durch Gewalt erworben wird. Ja, das meiste Eigentum ist erschaffen: Getreide wird angebaut, Häuser werden gebaut, Innovationen werden entwickelt. Eigentum nutzt ganz offensichtlich dem Besitzer, aber darüber hinaus profitiert jeder davon, weil es breiteren Wohlstand ermöglicht.

Zivilgesellschaft  -  „Klassisch Liberale sind überzeugt, dass freiwillige Zusammen-schlüsse für die Bedürfnisse von Individuen hilfreicher sind als Regierungen. Während sie den Vorrang des Individuums betonen, erkennen sie dennoch an, dass wir nicht isolierte, atomistische und selbstbezogene Lebewesen sind. 

Im Gegenteil, wir sind soziale Lebewesen, die in Familien, Gruppen und Gemeinschaften leben, die unsere Wertevorstellungen beeinflussen. Vereine, Zusammenschlüsse, Gewerkschaften, Religionen, Schulen, Online-Communities, Kampagnen, Selbsthilfegruppen, Wohltätigkeitsorganisationen und all diese anderen Einrichtungen nennen wir Zivilgesellschaft.“

All diese Institutionen sind Formen, wie Menschen miteinander in Beziehung treten. Ihre Sicht auf die Welt, ihre Werte und Handlungen werden in diesen Gemeinschaften geformt. Und sie statten die Individuen aus mit einer Basis von gegenseitigem Verständnis, auf der Zusammenarbeit entstehen kann. Kooperation könnte tatsächlich nicht entstehen ohne die Freiheit, sich auf diese Weise zusammenzuschließen.

Kooperation entsteht nicht ohne die Freiheit, sich freiwillig  zusammenzuschließen

„Die Zivilgesellschaft kann auch als Puffer zwischen Individuen und Regierungen dienen. Wären wir wirklich alle isolierte Individuen, könnte unsere Freiheit mit Leichtigkeit durch eine despotische Regierung unterdrückt werden. Doch die komplexen, ineinander verwobenen Teile der Zivilgesellschaft zeigen nicht nur auf, dass es Alternativen zum Regierungshandeln geben kann, wie beispielsweise private Wohltätigkeitsorganisationen statt eines Wohlfahrtsstaates, sondern sie statten uns auch aus mit dem gemeinsamen Interesse und der gemeinsamen Stärke, die uns hilft, uns zu widersetzen.“

Gemeinsame menschliche Werte  -  „Klassisch Liberale wollen, dass die Menschheit weltweit so ausgestattet ist, dass für das Wohlergehen aller gesorgt ist. Sie halten die grundlegenden Prinzipien des Lebens, der Freiheit und des Eigentums unter dem Recht hoch. Aus ihrer Sicht sind dies die Grundlagen einer prosperierenden, spontanen Gesellschaftsordnung, die sich auf gegenseitigem Respekt, Toleranz, Nichtaggressivität, Zusammenarbeit und freiwilligem Austausch zwischen freien Menschen gründet.“

Im politischen Bereich sind Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, die Herrschaft des Rechts und Grenzen für die Befugnisse und das Handeln von Regierungen von fundamentaler Bedeutung, um diejenigen, die im Amt sind, daran zu hindern, zu viel Schaden anzurichten. Schließlich sind Regierende kein Stück besser als wir alle.

Der klassische Liberalismus weiß, dass eine gute Gesellschaft nicht ausschließlich auf menschlichem Wohlwollen beruhen kann, sondern vielmehr auf der friedfertigen Zusammenarbeit von unterschiedlichen Individuen mit eigenen Interessen. Darum stehen klassisch Liberale „auf der Seite der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz mit einem vertrauenswürdigen Justizsystem, das uns daran hindert, anderen zu schaden, ohne dass es versuchen würde, unser Leben zu lenken. 

In Bezug auf die Wirtschaft bevorzugen klassisch Liberale Freiheit von Produktion und Handel und die freie Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital. Sie verteidigen das Privateigentum und versuchen, Besteuerung zu beschränken auf das, was nötig ist, damit der Staat Verteidigung und andere öffentliche Güter, die vom Markt nicht zur Verfügung gestellt werden, finanzieren kann.

Dies ist weit entfernt von dem populären Zerrbild eines klassischen Liberalismus als ein System des kleinen Laissez-faire-Nachtwächterstaats. Allein das Rechtswesen ist eine außerordentlich komplexe Institution, die großer und beständiger Bemühungen bedarf, um sie bewahren. Klassisch Liberale wissen, dass der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum keine kleine Aufgabe ist.“

Zitate aus: Eamonn Butler: Was ist klassischer Liberalismus?, in: Liberales Institut, LI-Paper, Zürich Januar 2022

Weitere Literatur: Eamonn Butler: Wie wir wurden, was wir sind: Einführung in den Klassischen Liberalismus, München 2017 (FinanzBuch Verlag)

Donnerstag, 13. Januar 2022

Eamonn Butler und der klassische Liberalismus (Teil 1)

„Klassisch Liberale sind überzeugt, dass jeder Mensch sein Leben so gestalten können sollte, wie er oder sie es selber wünscht, mit möglichst geringen Einschränkungen durch andere Individuen oder Autoritäten. Sie akzeptieren die Tatsache, dass Freiheit niemals absolut sein kann, da die Freiheit des einen mit der des anderen in Konflikt geraten kann, so wie wir alle Bewegungsfreiheit haben, uns jedoch nicht alle zur selben Zeit auf den gleichen Punkt zubewegen können. Niemand hat die Freiheit, andere zu berauben, zu bedrohen, zu etwas zu zwingen, anzugreifen oder umzubringen, weil dadurch deren Freiheit verletzt würde.“ 

Eamonn Butler (* 1953)

Eamonn Butler, Mitbegründer und Direktor des Adam Smith Institute in London, zufolge lässt sich klassischer Liberalismus am ehesten darüber definieren, welchen Stellenwert er der individuellen Freiheit beimisst, denn mit Blick auf das gesell-schaftliche, politische und wirtschaftliche Leben streben klassische Liberale danach, die Freiheit des Individuums zu vergrößern.

Nach Butler lassen sich die Grenzen der individuellen Freiheit, oder die Grenzen für die Handlungen von Individuen oder Regierungen nicht eindeutig bestimmen. Auch die Vertreter des klassischen Liberalismus sind sich hier nicht immer einig. Aber sie stimmen im Großen und Ganzen überein, dass jede Antwort die individuelle Freiheit vergrößern sollte und dass jeder, der sie einschränken möchte, dafür sehr gute Gründe vorbringen muss. Buttler schlägt daher zehn Prinzipien vor, denen alle klassisch Liberalen zustimmen können.

Im Zweifel für die Freiheit  -  "Klassisch Liberale stehen im Zweifel immer auf der Seite der individuellen Freiheit. Sie wollen Freiheit in unserem gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Leben vergrößern."

Dabei sind die Argumentationslinien im klassischen Liberalismus durchaus unterschiedlich: „Für viele ist Freiheit ein Wert an sich. Sie argumentieren auf Basis psychologischer Beobachtungen, dass, vor die Wahl gestellt, jeder Mensch für sich persönlich Freiheit gegenüber dem Zwang bevorzugen würde. Vertreter der Natur-rechtstheorie erklären, dass Freiheit etwas sei, das uns von Gott oder der Natur gegeben wurde. Einige begründen Freiheit auch mithilfe des Gesellschafts-vertrages, indem sie feststellen, dass Menschen im `Naturzustand´ sich für die Freiheit entscheiden müssten, wenn sie Chaos und Konflikte vermeiden wollten.“

Wiederum weisen andere darauf hin, dass Freiheit eine grundlegende Voraus-setzung für Fortschritt sei, oder stellen aus humanistischer Perspektive fest, dass Freiheit ein wesentlicher Teil des Mensch-sein bedeutet, denn wer von anderen kontrolliert werde, sei kein vollwertiger Mensch. Nicht zuletzt ist Freiheit für utilitaristische klassisch Liberale das beste Mittel, um die Wohlfahrt einer Gesellschaft als Ganzes zu maximieren.

Individuelle Freiheit

Vorrang des Individuums  -  „Klassisch Liberale räumen dem Individuum einen wesentlichen Vorrang vor dem Kollektiv ein. Sie würden die individuelle Freiheit nicht für das Wohl eines Kollektivs opfern – zumindest nicht ohne eine außerordentlich gute Rechtfertigung.“

Auch hier sind die Begründungen wiederum unterschiedlich: „Eine Sichtweise – der methodologische Individualismus – lautet, dass ein Kollektiv nicht existieren kann jenseits der Individuen, die es umfasst. Natürlich ist die Gesellschaft mehr als nur die Summe der Individuen, ebenso wie ein Haus mehr ist als die Summe der Steine, aus denen es erbaut ist. Doch die Gesellschaft hat keinen eigenständigen Willen; es sind die Individuen, die denken, wertschätzen, wählen und Entwicklungen beeinflussen. Es gibt kein kollektives „öffentliches Interesse“ jenseits der Interessen der Individuen, die diese Gemeinschaft umfasst.“

Es ist offensichtlich, dass diese Individuen selten einer einer Meinung sind: „Was im Interesse des einen ist, kann den Interessen des anderen entgegengesetzt sein. Wenn wir die individuelle Freiheit zugunsten des Kollektivs opfern, heißt das in Wahrheit, dass wir sie zugunsten bestimmter Sonderinteressen opfern, und nicht etwa den Interessen von jedermann.“

Eine andere Begründung geht aus von der historischen Erfahrung: „Wir finden in der Geschichte unzählige Beispiele der Schrecken, die über ganze Völker hereinbrechen, wenn ihre Freiheit geopfert wird zugunsten der falschen Vorstellung eines Anführers über das Gemeinwohl.“

Zuletzt: Gesellschaften sind außerordentlich komplex und im beständigen Wandel begriffen. „Keine einzelne Autorität könnte jemals wissen, was in dieser komplexen und dynamischen Welt das Beste für jeden ist. Individuen ist wesentlich mehr gedient, wenn sie Entscheidungen für sich treffen können, und diese Entschei-dungen sollten ihnen überlassen werden.

Zwang minimieren  -  „Klassisch Liberale wollen Zwang auf ein möglichst geringes Maß reduzieren. Sie erstreben eine Welt, in welcher wir in friedlicher Übereinstimmung mit unseren Mitmenschen leben, nicht eine, in welcher jeder Gewalt oder Drohungen nutzt, um andere auszubeuten oder ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Darum gewähren die meisten klassisch Liberalen der Regierung und den Justizbehörden das Gewaltmonopol.“

Doch das staatliche Gewaltmonopol muss aus ein notwendiges Minimum beschränkt werden, denn Macht missbraucht kann leicht missbraucht werden. Klassisch Liberale sind daher der Überzeugung, dass jegliche Gewaltanwendung, die die Handlungen von Menschen einschränken soll, gerechtfertigt sein muss. Die Beweislast liegt dabei bei dem, der die Freiheit einschränken möchte!

„Grundsätzlich sind klassisch Liberale der Überzeugung, dass Individuen ihr Leben so leben sollten, wie sie es möchten. Keiner sollte irgendjemanden für irgendetwas um Erlaubnis bitten müssen. Es mag gute Gründe geben, jemanden in seinem Handeln einzuschränken, jedoch liegt die Beweislast dafür bei denjenigen, die die Einschränkung wollen."

Toleranz  -  „Klassisch Liberale sind überzeugt, dass der wichtigste oder gar der einzige Grund für die Einschränkung der Freiheit anderer Menschen der sein kann, sie davon abzuhalten, anderen Menschen tatsächlich zu schaden oder ihnen mit einer Schädigung zu drohen.“

Toleranz

Der klassische Liberalismus glaubt eben nicht, dass wir das Handeln von Menschen einschränken sollten, nur, weil wir diese Handlungen ablehnen oder uns durch sie gestört fühlen. Deshalb verteidigen klassisch Liberale auch die Meinungsfreiheit – selbst dann, wenn manche Menschen diese Freiheit nutzen, um Dinge zu äußern, die andere oder gar jeder für abstoßend hält. Die Menschen sollten die Freiheit haben, jede Meinung zu vertreten, die ihnen gefällt, und jede Religion auszuüben, die sie wünschen.

„Ebenso sollten Individuen die Freiheit haben, sich in Gruppen zusammenzutun, wie beispielsweise Clubs, Gewerkschaften oder politischen Parteien – auch dann, wenn andere Menschen der Ansicht sind, dass deren Ziele und Aktivitäten abzulehnen sind. Sie sollten ungehindert Waren und Dienstleistungen austauschen dürfen – selbst dann, wenn andere dies missbilligen.“

„Klassisch Liberale verstehen diese Toleranz nicht nur als Wert an sich. Sie betrachten Toleranz und gegenseitigen Respekt auch als wesentliche Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben und für die Herausbildung einer für alle nützlichen und gut funktionierenden Gesellschaft. Die Unterschiede zwischen Menschen sind eine Tatsache unseres gesellschaftlichen Lebens und waren es schon immer. Klassisch Liberale glauben nicht, dass diese Unterschiede beseitigt werden könnten, und misstrauen zutiefst sämtlichen utopischen Versuchen, das zu tun. Darum wird Toleranz immer ein unverzichtbarer Teil eines funktionierenden gesellschaftlichen Miteinanders sein.“

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Eamonn Butler: Was ist klassischer Liberalismus?, in: Liberales Institut, LI-Paper, Zürich Januar 2022

Weitere Literatur: Eamonn Butler: Wie wir wurden, was wir sind: Einführung in den Klassischen Liberalismus, München 2017 (FinanzBuch Verlag)





Donnerstag, 6. Januar 2022

Tocqueville und die Demokratie in Amerika

Am 2. April 1831 machte sich Alexis de Tocqueville, ein französischer Adliger und Staatsbeamter, von Le Havre zu einer Reise in die Vereinigten Staaten auf. Offiziell bestand sein Auftrag darin, die amerikanischen Gefängnisse zu studieren, die damals in ganz Europa zum Vorbild für Justizreformen wurden. Der gerade einmal 26-jährige Tocqueville aber hatte noch etwas anderes im Sinn. Er wollte Demokratie und Gesellschaft in den USA umfassend studieren. So bereiste er neun Monate lang die Ostküste zwischen Boston und Washington, kam an die Grenzen der europäischen Besiedlung in Wisconsin und gelangte über den Mississippi bis nach New Orleans. Zurück in Frankreich, lieferte er pflichtgemäß seinen Gefängnisreport ab – und verarbeitete seine Eindrücke zu zwei Bänden «Über die Demokratie in Amerika», die 1835 und 1840 erschienen.

Alexis de Tocqueville (1805 - 1859)

„Wie viele andere europäische Besucher in dieser Zeit staunte Tocqueville über die Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Obwohl sein eigenes Heimatland, Frankreich, seit der Revolution von 1789 unverkennbar im Aufbruch, in rapidem politischen und sozialen Wandel begriffen war, wogen die Traditionen dort schwer: eine immer noch sehr hierarchische Gesellschaft, die den Menschen eine klare Position zuwies; eine katholische Kirche als konservative Verbündete der Monarchie. In der amerikanischen Republik, so Tocquevilles faszinierter Eindruck, waren die Menschen auf ganz andere Weise frei und begegneten sich zudem, bei allen sozialen Unterschieden, in fundamentaler Gleichheit, sozusagen auf Augen-höhe und ohne die europäischen Regeln und Rituale von Rang und Unterwürfigkeit. Auch für die Französische Revolution war Freiheit und Gleichheit ein Begriffspaar, aber in Amerika schien beides auch praktisch, im Lebensalltag, zu konvergieren.“

Damit hatte Tocqueville ein zentrales Prinzip der modernen Demokratie formuliert – nicht aus der Perspektive der politischen Theorie, sondern aus eigener Anschauung: die gegenseitige Bedingtheit von politischer Freiheit und Gleichheit. 

Über die politische Gleichheit hinaus erschienen ihm aber auch die Unterschiede von Besitz und Status geringer als in Europa. Er begegnete keinem Geburtsadel und weniger krasser Armut und beschrieb auf diese Weise das Ideal einer Mittelklassengesellschaft, mit der die Demokratie als Regierungsform geradezu eine Symbiose eingehen konnte. Während in Europa oft ein selbstsüchtiger „Egoismus“ herrsche, zumal in den oberen Schichten, habe sich in Nordamerika ein neuer „Individualismus“ gebildet, der die Freiheit des Einzelnen mit seiner Orientierung auf eine Gemeinschaft und das Gemeinwohl verbinde. 

„Tocqueville bewunderte also einerseits Freiheit und Individualismus – den die Amerikaner andererseits einhegten, indem sie sich auf Institutionen verpflichteten, `die jeden einzelnen Bürger daran erinnern, dass er in Gesellschaft lebt´. Besonders hob er die Vielfalt der Vereine und Assoziationen hervor: den freiwilligen Zusammenschluss in Vereinen, Parteien, Reformbewegungen; nicht zuletzt auch in religiösen Gemeinschaften, die nicht Teil einer quasi-staatlichen Hierarchie, sondern der horizontalen Verbindung untereinander waren.“

Wahlen in den USA im 19. Jahrhundert


Manches von dem, was Tocqueville sah, erschien ihm fremd oder allzu extrem. Er befürchtete beispielsweise, dass Gleichheit und Abstimmungsdemokratie könnten in eine „Tyrannei der Mehrheit“ führen. 

Dennoch hat Tocqueville die amerikanischen Verhältnisse idealisiert. Das lag einerseits daran, dass seine Gesprächspartner, darunter auch der Präsident Andrew Jackson, überwiegend den Führungsschichten entstammten. Vor allem aber bekräftigte Tocqueville, obwohl er beeindruckend scharf die Verhältnisse analysierte, den Mythos, die Amerikaner seien bereits gleich und demokratisch „geboren“ worden. 

Heute wissen wir, dass erst viel später - während der Revolution und frühen Republik - alte Ungleichheiten und Abhängigkeiten abgeschafft wurden, vom Wahlzensus bis zu quasifeudalen Einrichtungen in der Landwirtschaft. So mochte Tocqueville den paradoxen Zusammenhang der Freiheit der weißen Siedler einerseits, der Versklavung der Schwarzen sowie der Vertreibung der Indianer andererseits nicht erkennen.

Dennoch bleibt sein Buch lesenswert, weil die historische Forschung viele der Diagnosen Tocquevilles bestätigt und natürlich verfeinert hat. Auch wenn man alle soziale Idealisierung abzieht: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Europa keine freiere, gleichere und auch in einem fundamentalen Alltagssinne „modernere“ Gesellschaft als jedenfalls die Nordstaaten der USA. Das galt vor allem für die Rolle der Vereine und Zusammenschlüsse der Bürger in der amerikanischen Gesellschaft. 

„Vereine und Assoziationen erlebten tatsächlich zwischen 1830 und 1860 eine Blüte, häufig mit dem Ziel weiterer Liberalisierung, von politischen und sozialen Reformen. Religiöse Motive trieben die Mäßigungsbewegung gegen Alkoholkonsum an, aber auch die Abolitionisten, unter ihnen sehr viele Frauen, die vehement für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten kämpften und Fluchtwege organisierten.“

Tocqueville lag daher nicht falsch, wenn er dem Vereins- und Assoziationsleben eine besondere Bedeutung für die Demokratie beimaß. In Europa vollzog sich derselbe Trend, in mancher Hinsicht sogar noch schärfer, weil der Eintritt in das Zeitalter der liberalen „Assoziation“, also der freiwilligen Vereinigung, den Ausgang aus dem Zeitalter der „Korporation“ bedeutete, also aus jenen Bindungen, in die Menschen hineingeboren waren oder denen sie, ihrer sozialen Stellung nach, verpflichtend angehörten wie Handwerker einer Zunft. 

"Assoziation" statt "Korporation" - Deutsche Auswanderer in den USA


Heute werden diese Netzwerke der freiwilligen Organisation als unverzichtbaren „zivilgesellschaftlichen“ Teil der Demokratie beschrieben und die Abolitionisten würden wir eine „Advocacy“-Gruppe nennen.

Tocqueville verwendete bewusst den Begriff der «politischen Gesellschaft» und machte damit darauf aufmerksam, „dass sich Demokratie nicht nur in einer abgeschlossenen Sphäre der Politik vollzieht oder bloß eine Regierungsform, noch schärfer gesagt: eine Regierungstechnik darstellt. Sie lebt nicht nur `aus´ dem politischen Interesse einer Gesellschaft, sondern vollzieht sich in ihm.“

Gegen dieses Verständnis von Demokratie steht - in der Nachfolge Hegels – die Ansicht, „Staat“ und „Gesellschaft“ müssten voneinander getrennt werden, so dass der von der Bürokratie gelenkte Staat der bürgerlichen Gesellschaft - als ökono-mische, nicht als politische, geschweige denn demokratische Sphäre – gegenübergestellt werden könnte.

In Amerika sag Tocqueville, dass die Demokratie mit ihren Verästelungen sogar tiefer als nur in den Bereich der organisierten Gesellschaft mit ihren Vereinen, Kirchen, Reformgruppen reichte. Sie hatte angefangen, die „Sitten und Gebräuche“ zu prägen. „Wir würden heute sagen: Sie reichte über Politik in den Alltag hinein und prägte die Mentalitäten, die alltäglichen Umgangsformen, den Lebensstil. Die Ehrerbietung gegenüber Höherrangigen, beobachtete Tocqueville, zerbröselte. Auch ein Politiker, sogar der Präsident, konnte schonungslos und schärfstens kritisiert werden.“

Die politische Gleichheit strahlte auf andere Bereiche des Lebens aus, auf Erziehung und Bildung oder die Beziehungen der Geschlechter. Wenn bis heute Demokratie immer noch als ein „Lebensstil“ jenseits von Wahlen, Parlament und Regierung beschrieben werden kann, dann war Alexis de Tocqueville ein Urahn dieser Idee.

Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)