Donnerstag, 29. Oktober 2015

Kant und die Metaphysik - Teil 1: Über Geist und Geister

Träume eines Geistersehers
(Titel der Erstausgabe)
Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.

Das Motto dieses Werkes ist ein Zitat aus der Ars poetica des Horaz, „velut aegri somnia, vanae finguntur species“ (wie Träume eines Kranken werden Wahngebilde erdichtet). Natürlich war auch für Horaz das Wunderbare in und durch Poesie darstellbar, aber die Phantasie sollte nicht „zu widersinnigen Fabelwesen führen, zu Schimären aus Mensch und Tier, aus Lämmern und Tigern, wo sich Sanftmut und Grimm vermischen. Über Unvereinbares, das wie im Fieber wild zusammengeträumt wird, kann man nur spotten und lachen.“

Soll also auch die damals hochgeachtete Metaphysik zu dieser verwerflichen Gesellschaft aus wirren Räumen, Geisterseherei und erdichteten Wahngebilden gehören?

Schon länger hatte sich Kant mit verschiedenen „gestörten Köpfen“ beschäftigt, deren Erfahrungsbegriff verkehrt worden ist. Sie seien vor allem deshalb in eine „Verrückung“ geraten, weil sie die Vorstellungen ihrer Einbildungskraft für wirkliche Dinge in der Welt halten. „Sie sind Träumer im Wachen und werden zu „Phantasten“, wenn ihre Blendwerke vorherrschend werden.“

Aber Kant will zwischen Phantasie und Phantasterei, Einbildungskraft und Verrückung eine Grenze ziehen, um nicht durch jene Schimären verführt zu werden, vor denen bereits Horaz gewarnt hat.

An dieser Grenze entscheidet sich zugleich das Schicksal einer Metaphysik des Geistes, die seit ihren griechischen Anfängen ein Zentrum der Philosophie bildet.

Es geht Kant um Klärung und Erläuterung, um metaphysischen Unsinn überwinden und dann die Welt richtig sehen zu können: „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.“

Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) 
Anlass für Kants Schrift ist seine Beschäftigung mit dem nordischen Seher und Propheten Emanuel Swedenborg. Kant hatte viel Wunderliches von Swedenborg gehört. Man staunte und diskutierte über dessen Fähigkeit, vor allem mit Geistern oder den Seelen von Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können, auf Erden wie im Himmel.

Auch Kant ist überzeugt, dass der Geist existiert – und das es Geister gibt: „Jedenfalls wird seit Jahrtausenden von ihnen geredet (…) Jeder Blick in ein philosophisches Wörterbuch führt vor Augen, dass `Geist´´ ein Fundamentalbegriff der europäischen Philosophie ist.“

Doch dieser Geist, der im Geist Gottes seine theologische Krönung erfährt, hat schon früh seinen gespensterhaften Doppelgänger zur Seite. In den geheimen Mysterienreligionen wurde immer wieder eine andere Welt beschworen, ein Reich der Geister, in das nur die Initiierten Zugang gewinnen können.

Kinder hören Geistergeschichten. Sie glauben an hilfreiche Schutzengel oder fürchten sich vor den nächtlichen Geistern, die vor allem in ihren Träumen auftreten. Von den Geistern der Verstorbenen, die wiederkehren können, erzählen alte Mythen ebenso wie der Volksglaube. Poltergeister leben in den Dingen, die außer Rand und Band zu geraten scheinen.

So stellt Kant fest, das unser Wissen von Geist und Geistern dunklen Vorstellungen und verworrenen Begriffen lebt. Erst wenn also geklärt sei, was sinnvollerweise mit „Geist“ gemeint ist, kann man sich der weiter gehenden Frage zuwenden, ob mit diesem Namen etwas Wirkliches bedeutet oder nur ein Hirngespinst vorgespiegelt wird.

Nun wäre dieses Problem leicht zu beantworten, wenn „Geist“ von unseren Erfahrungsbegriffen abgeleitet wäre. Aber leider kann man sich, wenn man von der Natur des Geistes redet, ja gerade nicht unmittelbar auf sinnliche Erfahrungen körperlicher Dinge und Tatsachen beziehen. Der strittige Begriff ist nicht empirisch begründbar, denn die Sinne offenbaren uns keinen Geist.

Diese Erkenntnis ist der „verwickelte metaphysische Knoten“, der Kant in eine tiefe philosophische Verwirrung zu stürzen droht. Ohne Sinnesdaten scheint das klare und zielstrebige Nachdenken überfordert zu sein. „Es verknotet sich in widerstreitende Argumentationen, bei denen oft geistvolle Begründungen und phantastische Einbildungen unauflöslich verwoben sind. Die Metaphysik beginnt zu träumen.“

Immanuel Kant (1724 - 1804)
Der Metaphysiker neige daher zum Geheimnisvollen. „Er ist Initiat einer `geheimen Philosophie´ und gesteht, was ihm selbst sehr dunkel ist und wohl auch so bleiben wird. Er glaubt an die Seele, an immaterielle Naturen, geistige Wesen, innere Tätigkeiten und Zustände, die einer Welt angehören, die nicht den Bedingungen körperlicher Aktivitäten unterworfen sind.“

Kant vermutet, dass angesichts dieser Frage jede wissenschaftliche Erkenntnisanstrengung an ihre Grenzen stoßen muss.

Der Zusammenhang von Geist und Körper, Seele und Leib verwirrt ihn. Denn die Annahme einer menschlichen Seele als geistiger Substanz bringt den Metaphysiker in die scheinbar unlösbare Schwierigkeit, einerseits eine „wechselseitige Verknüpfung derselben mit körperlichen Wesen zu einem Ganzen (zu) denken, und die dennoch die einzig bekannte Art der Verbindung, welche unter materiellen Wesen statt findet, aufheben soll.“


So steht für Kant letztlich fest: „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten.“ Dieser Eröffnungssatz seiner Schrift ist zugleich eine Warnung: „Die Grenze zu diesem Reich darf nicht überschritten werden. Der Weltweise, der Deutlichkeit und Klarheit als methodische Richtlinien seiner philosophischen Tätigkeit schätzt, darf kein Phantast sein. Er will sich nicht verblenden lassen wie die Menschen, die nicht das sehen, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vorgaukelt.“

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)

Donnerstag, 22. Oktober 2015

Peter Bieri und die Selbstständigkeit im Denken

Peter Bieri
Die Würde ist das höchste Gut des Menschen. Das Buch von Peter Bieri, „Eine Art zu leben. Von der Vielfalt menschlicher Würde“, handelt von diesem zentralen Thema unseres Lebens. Mit einem einzigen Begriff sei die menschliche Würde nicht zu fassen. Die Würde hängt gleichermaßen von unserem Umgang mit anderen und mit uns selbst ab. Würde, so stellt Bieri heraus, ist keine abstrakte Eigenschaft, sondern eine bestimmte Art zu leben.

Selbstständigkeit ein wesentliches Element unserer Würde: „Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen selbst entscheiden können, was wir tun und lassen. Wir möchten nicht von der macht und dem Willen anderer abhängig sein. Wir möchten nicht auf andere angewiesen sein.“ Aber diesen Wunsch nach Selbstständigkeit gibt es nicht nur nach außen hin – als unabhängiges Handeln gegenüber anderen Menschen, sondern es gibt auch ein Bedürfnis nach innerer Selbstständigkeit, „nach der Möglichkeit, über unser Denken, Fühlen und Wollen selbst zu bestimmen und in diesem Sinne unabhängig zu sein und nicht angewiesen auf andere.“

Aber diese innere Selbstständigkeit darf nicht mit Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit gegenüber anderen Menschen missverstanden werden. Natürlich werden wir immer von anderen Menschen beeinflusst, denn schließlich leben wir nicht in einem Bunker oder auf einer einsamen Insel.

Was bedeutet das?
Woher eigentlich weiß ich das?
Für Bieri besteht der entscheidende Unterschied zwischen innerer Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit, ob wir in der Lage sind, unser inneres Leben zum Thema zu machen, es zu befragen und uns darum zu kümmern. Unselbstständig im Denken sind wir also dann, wenn wir unser inneres Leben einfach nur geschehen oder treiben lassen, ohne es aktiv zu gestalten.

Diese innere Selbstständigkeit zeigt sich insbesondere im Denken: „Eine gedankliche Selbstständigkeit, wie sie zur Lebensform der Würde gehört, zeigt sich in einer besonderen Wachheit gegenüber dem, was man denkt und sagt. `Was genau bedeutet das?´ und `Woher eigentlich weiß ich das?´, sind die beiden Fragen, in denen sich diese Wachheit ausdrückt.“

Zur Selbstständigkeit gehört demnach, dass diese Fragen und das Fragen überhaupt zu einer zweiten Natur werden. Selbstständig sein in diesem Sinne, bedeutet, skeptisch zu sein „gegenüber leeren Worten und glatten Sprüchen.“ Es bedeutet, unnachgiebig und leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht. Es bedeutet, zusammengefasst, eine eigene Meinung haben zu wollen.

Es steht gleichwohl außer Frage, dass vieles von dem was wir denken, meinen und sagen, zunächst durch Nachahmung und Gewohnheit entstanden ist. Gerade deshalb besteht die Selbstständigkeit im Denken darin, misstrauisch zu sein, wenn andere versuchen, einen durch Sprüche und leere Worthülsen zu verführen oder zu übertölpeln: „Er wird sich nichts vormachen lassen – nicht vom Stammtisch, von Politikern, von der Familie, vom Clan. Er wird dem eigenen Verstand trauen. Den eigenen Erfahrungen. Er wird selbst Regie führen über das, was er denkt.“

Das Gegenstück zum unabhängigen Denker ist der Mitläufer, „der servile Diener fremder Gedanken und fremder Sprüche.“ Der Mitläufer lebt von Meinungsgewohnheiten, Parolen und rhetorischen Brocken. Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen Geschwätz und einem Gedanken: „Er sagt, was man am Stammtisch, im Wahlkampf oder in der Talkshow von ihm erwartet. Er ist der ideale Parteigänger.“

Der totalitäre Machtanspruch zielt letztlich auf das selbstständige Denken!
Wenn man uns in der gedanklichen Selbstständigkeit behindert und einschränkt, dann ist das nicht nur ärgerlich, sondern es gefährdet unsere Würde. In besonders eindringlicher Weise hat George Orwell dies in seiner negativen Utopie „1984“ beschrieben:

„Erinnern Sie sich“, fuhr O´Brian fort, „in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben: ›Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei vier ist‹?“
„Ja“, sagte Winston.
O'Brien hob seine linke Hand hoch, den Handrücken Winston zugekehrt, den Daumen versteckt und die vier Finger ausgestreckt.
„Wie viele Finger halte ich empor, Winston?“
„Vier.“
„Und wenn die Partei sagt, es seien nicht vier, sondern fünf — wie viele sind es dann?“
„Vier.“
Das Wort endete mit einem Schmerzensschrei. (…)
„Wie viele Finger, Winston?“
„Vier, vier! Was kann ich denn anderes sagen? Vier!“ (…)
„Wie viele Finger, Winston?“
„Vier! Hören Sie auf, hören Sie auf! Nicht mehr weiter! Vier!“
„Wie viele Finger, Winston?“
„Fünf! Fünf! Fünf!“
„Nein, Winston, das hat keinen Zweck. Sie lügen. Sie glauben noch immer, es seien vier. Wie viele Finger, bitte?“
„Vier! Fünf! Vier! Was Sie wollen. Nur hören Sie auf, hören Sie auf mit der Quälerei!“ (…)
„Was kann ich dagegen machen?“ stieß er unter Schmerzen hervor. „Was kann ich dagegen machen, dass ich sehe, was ich vor Augen habe? Zwei und zwei macht vier.“
„Manchmal, Winston. Manchmal macht es fünf. Manchmal drei.
Manchmal alles zusammen. Sie müssen sich mehr Mühe geben. Es ist nicht leicht, vernünftig zu werden.“

"Wie viele Finger, Winston?"
Von welcher „Vernunft“ spricht O´Brian, der Folterknecht, hier? Und dann folgen Worte, die an Menschenverachtung und Grausamkeit kaum noch zu überbieten sind und die das Wesen totalitärer Herrschaft und absoluter gedanklicher Abhängigkeit verdeutlichen:

„Sie sind ein Fleck, der ausgemerzt werden muss. Habe ich Ihnen nicht soeben gesagt, dass wir anders sind als die Verfolger der Vergangenheit. Wir geben uns nicht zufrieden mit negativem Gehorsam, auch nicht mit der kriecherischsten Unterwerfung.

Wenn Sie sich uns am Schluss beugen, so muss es freiwillig geschehen.

Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, bemächtigen uns seiner geheimsten Gedanken, formen ihn um. Wir brennen alles Böse und allen Irrglauben aus ihm aus; wir ziehen ihn auf unsere Seite, nicht nur dem Anschein nach, sondern tatsächlich, mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem der Unsrigen, ehe wir ihn töten. (…)

Kein Mensch, den wir hierher bringen, hält je seinen Widerstand uns gegenüber aufrecht. Jeder wird reingewaschen.

Sogar diese drei elenden Verräter, an deren Unschuld Sie einmal glaubten — Jones, Aaronson und Rutherford — haben wir am Schluss eines Besseren belehrt. Als wir mit ihnen fertig waren, waren sie nur noch leere Hüllen von Menschen. In ihnen war nichts anderes mehr übrig geblieben als Reue über das, was sie getan hatten, und Liebe zum Großen Bruder.

Es war rührend anzusehen, wie sehr sie ihn liebten. Sie baten, rasch erschossen zu werden, um sterben zu können, solange ihr Denken noch sauber war.“

Viele Folteropfer, die in Schauprozessen zu falschen Geständnissen gezwungen wurden, die genau entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung aussagen mussten, haben – sofern sie es noch konnten – häufig gesagt, dass das Schlimmste an den Folterungen nicht die Schmerzen und Verstümmelungen waren, sondern „der Angriff auf ihre Würde als selbstständig denkende Wesen.“ Und genau das ist es, was O´Brian versucht bei Winston zu erreichen.

So ist die Würde der inneren Selbstständigkeit nicht immer mit dem Gelingen verknüpft. Aber: „Nicht dem mangelt die Würde, dem die Selbstständigkeit misslingt, weil ihm die gedankliche Übersicht fehlt und er sich verstolpert. Würdelos ist nicht der gescheiterte Versuch, sondern der fehlende Versuch.“


Zitate aus: Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München 2013 (Hanser), hier: S. 66ff 



Donnerstag, 15. Oktober 2015

Sparta und die Große Rhetra

Das 7. Jahrhundert war in Griechenland eine bedeutsame Phase des Übergangs von vorstaatlichen Verhältnissen zu staatlichen Strukturen in zahlreichen Gemeinwesen. In Sparta wird dieser folgenreiche Prozeß gesellschaftlicher und politischer Transformation durch die Bestimmungen der sogenannten Großen Rhetra markiert, dem wohl ältesten Dokument zur griechischen Verfassungsgeschichte.

Die Ruinen des antiken Sparta
(im Hintergrund das moderne Sparta und das Taygetos-Gebirge)

Die Große Rhetra entstand im Kontext der messenischen Kriege, durch die große Erweiterung des spartanischen Herrschaftsgebietes erfolgte. Damit ergaben sich neue Aufgaben vor allem in Bezug auf die Kontrolle des neu gewonnenen Landes sowie dessen Bevölkerung. Darüber hinaus stellte die Einführung fester politischer Strukturen eine Art Machtnivellierung dar, die der Konzentration von Macht in den Händen Weniger entgegenwirken sollte.

Generell wird als „Rhetra“ ein „feierlicher Spruch“ mit bindender Geltung für die Gemeinschaft bezeichnet, die damit verpflichtet wird, bestimmte Regeln einzuhalten und Verhaltensweisen zu befolgen.

Plutarch überliefert den Text der Großen Rhetra in seiner Lebensbeschreibung über den mythischen spartanischen Gesetzgeber Lykurgos, der sie wiederum als Spruch des Orakels zu Delphi empfängt, das dem legendären Gründer der spartanischen Ordnung auf diesem Weg Anweisungen für grundlegende Reformen im Gemeinschaftsleben gegeben haben soll.

Die Weisung des Delphischen Orakels lautete: „Nach Errichtung eines Heiligtums für Zeus Syllanios und (Athena) Syllania sowie nach Konstituierung von Phylen und Oben und eines Ältestenrates (Gerusia) mit dreißig Mitgliedern einschließlich der Könige“ soll man in regelmäßigen Abständen … eine Volksversammlung (Apella) einberufen und so dem Volk (Damos) der Spartaner Anträge zur Abstimmung vortragen und die Versammlung nach der Zustimmung wieder entlassen.

Lykourgos
Wenn aber die Volksversammlung der Spartaner einen schiefen Beschluss fasst (d.h. nach Meinung der beiden Könige und der Geronten eine falsche Entscheidung trifft), sollen die Ältesten und die beiden Könige die Entscheidung des Volkes nicht annehmen und die Volksversammlung abtreten lassen.“

Die eigentliche Leitung hatten in Sparte also die als Archagetai („Anführer“) bezeichneten Könige. Sie wurden von einem zahlenmäßig fixierten elitären Kreis von Getonten beraten, die zu dieser Zeit als ranghohe Personen wohl noch ausnahmslos aus den sogenannten „Großen Häusern“ Spartas stammten. Ob sie damals schon wie in klassischer Zeit mindestens 60 Jahre alt sein mussten und in einem eigentümlichen Verfahren, bei dem die Lautstarke der applaudierenden Zustimmung für einen „Kandidaten“ den Ausschlag gab, vom Damos „gewählt“ wurden, ist nicht bekannt.

Neben den öffentlichen Organe (Doppelkönigtum, Ältestenrat und Volksversammlung) und der Definition ihrer Kompetenzen und Funktionen spielte in der neuen Ordnung Spartas vor allem auch die genossenschaftliche Organisationsform der Phyle (Stamm) und der Oben (Unterabteilungen der Phylen) eine fundamentale Rolle für die neue, alle Bevölkerungsschichten der Spartaner verbindende Einheit.

Ursprünglich entstanden die Phylen wohl als Zusammenschlüsse auf nachbarschaftlicher Basis zu gemeinsamem Schutz und mit ordnungsstiftenden Funktionen im Rahmen von Kleingesellschaften. Im Zuge der Polisbildung in Griechenland entwickelten sie sich dann aber zu Gruppierungen innerhalb politischer Gemeinschaften, indem sie als Verbände und innerhalb ihrer Verbände Aufgaben für die größere Einheit der Polis übernahmen.

Die Bedeutung der Phyle in Sparta aber lag darin, das die erbliche Zugehörigkeit zu einer Phyle für die Anerkennung als Vollbürger bindend wurde. Diese Funktion bekamen die Phylen natürlich erst, als die Polis zu einer politischen Einheit zusammenwuchs und sich allmählich auch klare Kriterien für den Status des Bürgers herausbildeten.

Spartanischer Hoplit
Die Phylen wurden aber nicht nur für die politische Integration der jungen Spartaner in den Verband der Vollbürger relevant. Politische Organisationsform und Wehrordnung bildeten eine Einheit. Deshalb Übernahmen die Phylen auch wichtige Aufgaben im Rahmen der Rekrutierung und Mobilisierung des Aufgebots, und die Verbände ihrer Wehrfähigen wurden Unterabteilungen des spartanischen Heeres,

Unter diesen Voraussetzungen sollte die Große Rhetra die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für politisches und militärisches Handeln der Gemeinschaft der Spartaner schaffen. Die ursprünglichen Dörfer Spartas waren im 7. Jahrhundert allmählich gewachsene Siedlungseinheiten von unterschiedlicher Größe. Durch die Neugliederung des Damos in Phylen hatte nunmehr jeder erwachsene Spartaner seinen festen Platz im Aufgebot und damit zugleich auch in der Gesellschaftsordnung und in der politischen Organisation.

Seine Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft manifestierte sich in erster Linie in der erblichen Mitgliedschaft zu einer Phyle und berechtigte ihn zur Teilnahme an den Versammlungen des Damos, dessen Aktionsmöglichkeiten in der Großen Rhetra bereits als Kratos („Macht“) bezeichnet wird.

Zwar wurde im früharchaischen Sparta die Volksversammlung an der Entscheidungsfindung beteiligt, dennoch hatte der Damos - theoretisch die Gesamtheit der Teilnahmeberechtigten - nur eine nachgeordnete Funktion im Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die Festlegung der politischen Vorhaben, die entschieden werden mussten, blieb ebenso wie die Vorschläge zur Lösung oder Bewältigung der anstehenden Probleme dem Rat vorbehalten, der formal aus den Königen und den Geronten bestand.

Die als Apella bezeichnete Versammlung des Damos hatte somit kein Initiativrecht, d. h. sie konnte weder die Agenda bestimmen noch eigene Anträge stellen. Zudem konnte eine Entscheidung des Damos gegen eine Vorlage der Gerusia, in die im Rahmen der politischen Willensbildung die beiden Könige institutionell integriert waren, durch die Antragsteller - Könige und Geronten – annulliert werden. In diesem Fall konnten Könige und Geronten die Versammlung kurzerhand für beendet erklären.

So beschreibt der Dichter Tyrtaios (fr. 14 Gentili-Prato) den wesentlichen Inhalt der Aussagen der Großen Rhetra über den Ablauf der Entscheidungsfindung in Sparta mit folgenden Worten:

„Dem Rat (der Gerusia) stehen vor 
die von den Göttern geschätzten Könige, 
die für das liebliche Sparta Sorge tragen; 
und (beraten sollen) die Geronten, 
schon alt an Jahren, 
dann geben die Männer des Volkes 
den wohlerwogenen Worten (des Rates) 
ihre Bestätigung.“

Tyrtaios bringt also klar zum Ausdruck, das die Volksversammlung als Damos der Spartiaten faktisch nur den Vorschlagen der Führung der Gemeinschaft zustimmen und sie dadurch bestätigen kann, so das sie ohne die Gerusia überhaupt nicht in der Lage ist zu agieren. So war die Entscheidungsfindung in der Volksversammlung eher eine bloße Befragung des Damos und insofern auch gewissermaßen ein Stimmungstest, durch den die dominierenden Personen in Sparta erfahren konnten, ob oder inwieweit sie für ihre Plane und Konzepte in der breiten Masse der Spartaner Zustimmung finden wurden.

Trotz eher bescheidener Rechte konnte der Damos wiederum im politischen Bereich nun nicht mehr einfach übergangen werden. Seine Einbindung in die Regelung öffentlicher Angelegenheiten war in einer Zeit des Übergangs von einer vorstaatlichen Gesellschaft zur „Staatlichkeit“ der Gemeinschaft der Spartaner eine Maßnahme, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.

Die Akropolis von Sparta

Das Ephorat, das in klassischer Zeit zentrale Bedeutung für das politische Leben in Sparta gewinnen sollte und schon in spätarchaischer Zeit die Leitung der Volksversammlung übernahm, wird übrigens weder in der Großen Rhetra noch von Tyrtaios erwähnt.

So markiert die Große Rhetra eine wichtige Etappe im Prozess der Institutionalisierung der öffentlichen Organe in Sparta. Zumindest war jetzt der Anfang einer geregelten Interaktion dieser Organe gemacht, die verschiedene Personengruppen innerhalb der Gemeinschaft der Spartaner repräsentierten. Weiterhin stellte sie Kriterien für die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft auf, so zum Beispiel durch die Einrichtung von Phylen und Oben. Jeder Bürger, sofern er als solcher gelten wollte, musste hier Mitglied sein. Somit wurde durch die Große Rhetra eine gemeinsame Identität der Spartiaten als Angehörige einer Kulturgemeinschaft geschaffen.


Literatur: Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht, Stuttgart 2004 (Klett – Cotta)

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Boissy d’Anglas und die Gleichheit

Nach dem Sturz der Schreckensherrschaft der Jakobiner unter Robespierre ging die Herrschaft des Nationalkonvents auf das Direktorium über. Hier war man der festen Überzeugung, dass es nur durch die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gelingen könne, den einstigen Idealen der Revolution von 1789 einen stabilen und dauerhaften Ausdruck zu geben.

Am 6. Mai 1795 hatte die zu diesem Zweck einberufene Commission des Onze ihre Arbeit begonnen, in der ehemalige Girondins wie Daunou, Louvet, Lanjuinais, Creuzé-Latouche, Boissy d’Anglas oder Thibaudeau die Mehrheit hatten.

François-Antoine Boissy d’Anglas
(1756 - 1826)
Knapp zwei Monate später, am 23. Juni, wurde der Entwurf von Boissy d’Anglas dem Konvent mit einer Rede vorgestellt, in der er die mit der Revolution gemachten Erfahrungen in dem berühmten Satz zusammenfasste:

„Wir haben sechs Jahrhunderte in sechs Jahren durchlebt. (…) Wir haben Jahrhunderte voller Irrtümer hinter uns gebracht und können uns damit heute endlich, indem wir die Lehren aus unseren Fehlern, aus dem Unglück des Volkes und aus den Verbrechen unserer Tyrannen ziehen, den wahren Prinzipien anschließen und daraus alle Folgerungen ziehen.“

Die Quintessenz aus diesen Lehren besteht darin, so Boissy d’Anglas, der Revolution ihre utopische Spitze zu nehmen – vor allem im Hinblick auf die Gleichheit der menschen:

„Die bürgerliche Gleichheit ist in der Tat alles, was ein vernunftbegabter Mensch verlangen kann. Absolute Gleichheit ist eine Chimäre. Ihre Bedingung der Möglichkeit müsste eine vollständige Gleichheit der Intelligenz, der Tugend, der Körperkraft, der Erziehung und des Besitzes aller Menschen sein. (…)

Wir müssen von den Besten regiert werden; die Besten sind diejenigen, die am besten ausgebildet sind und die am meisten an der Aufrechterhaltung der Gesetze interessiert sind; allein, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, findet man solche Menschen unter denen, die Eigentum haben, die dem Land, in dem dieser Besitz liegt, oder den Gesetzen, die es schützen, wie der Ruhe, die die Garantie dafür ist, verpflichtet sind und die diesem Eigentum und der wirtschaftlichen Sicherheit, die es gewährleistet, die Erziehung verdanken, die sie dazu befähigt, mit Weisheit und Genauigkeit die Vor- und Nachteile der Gesetze abzuwägen, die für das Geschick ihrer Heimat von Belang sind. (…)

Ein Land, das von Eigentümern verwaltet wird, ist innerhalb der sozialen Ordnung; ein Land, über das die Besitzlosen herrschen, befindet sich im Naturzustand.“

Exakt diesen Prinzipien entsprach der Verfassungstext, der vom Konvent am 22. August verabschiedet wurde und am 26. Oktober 1795 in Kraft trat. Sie sah erstmals die Einführung eines Parlamentes mit zwei Kammern vor, bestehend aus dem Rat der Fünfhundert und dem Rat der Alten. Die Exekutive lag nun in der Hand des fünfköpfigen Direktoriums, dessen Mitglieder vom Ältestenrat aus einer Liste gewählt wurden, die ihm vom Rat der Fünfhundert vorgelegt wurde.

Die Direktorialverfassung von 1795

Gegen diesen bürgerlich-liberalen Geist der neuen Verfassung richtete sich die „Verschwörung der Gleichen“, die unmittelbar nach Amtsantritt des 1. Direktoriums von dem für seine blutrünstige Radikalität bekannten Revolutionär François Noël Babeuf (auch Gracchus Babeuf) initiiert wurde.

An dieser Verschwörung war auch Sylvain Maréchal (1750 – 1803) beteiligt, der die Französische Revolution seit ihren Anfängen enthusiastisch unterstützt hatte. Für die Verschwörung schrieb Maréchal das „Manifest der Gleichen“, das als revolutionäre Proklamation an das Volk gedacht war, aber letztlich unveröffentlicht blieb. In diesem Manifest fordert Maréchal die Verwirklichung völliger sozialer Gleichheit durch Abschaffung des Privateigentums. Er ist damit zugleich ein Vordenker des Anarchismus.

Sylvain Maréchal (1750-1803)
„Gleichheit“ ist für Maréchal die „erste Sehnsucht der Natur, erstes Bedürfnis des Menschen, wichtigstes Band einer jeden rechtmäßigen Verbindung.“ Und dennoch muss er beobachten, dass man die Menschen schon  immer „mit schönen Worten eingelullt“ hat und daher laste „seit urvordenklichen Zeiten schamlos die erniedrigendste wie ungeheuerlichste Ungleichheit auf dem Menschengeschlecht.“

In Maréchals Augen liegt der Grund für die Ungleichheit darin, dass man sich bisher immer mit der „bedingten Gleichheit - vor dem Gesetz seid ihr alle gleich - “ begnügt hat, aber diese Gleichheit eben „nichts anderes als eine schöne und fruchtlose Rechtsfiktion“ sei.

Maréchal fordert daher die „wirkliche Gleichheit oder aber den Tod; das ist es, was wir brauchen. Und wir werden sie haben, diese wirkliche Gleichheit, koste es, was es wolle. Wehe denen, auf die wir zwischen ihr und uns stoßen!“

So klingt es hochtönend aus dem Manifest: „Verschwindet endlich, ihr empörenden Unterscheidungen von Reich und Arm, von Hoch und Niedrig, von Herr und Knecht, von Regierenden und Regierten!

Das Mittel, das Maréchal vorschlägt um seine Gleichheitsutopie zu erreichen, ist die Abschaffung des Privateigentums. Deutlicher kann der Gegensatz zu den Gedanken von Boissy d’Anglas kaum sein.

Was Maréchal hier entwickelt, ist nichts anderes als die Utopie eines agrarischen Sozialismus mit kollektivem Eigentum an Gütern: „Kein Privateigentum mehr an Grund und Boden, die Erde gehört niemandem. Wir verlangen, wir willen die gemeinschaftliche Nutznießung alles dessen, was die Erde hervorbringt: Ihre Früchte gehören jedermann.“

Erst dann werde es „keine Unterschiede mehr geben zwischen den Menschen als jene des Alters und des Geschlechts. Da alle die gleichen Bedürfnisse haben und die gleichen Anlagen, so mag es denn für sie nur mehr eine gleiche Erziehung, eine gleiche Nahrung geben.“

Maréchal gehört in die bedauernswerte Kategorie der wohlmeinenden Utopisten, die die Forderung einer gerechten Gesellschaft, in der die Menschen „als Gleiche unter Gleichen“ leben können, durch die Forderung ersetzen, diese Menschen so „gleichzumachen“, also so umzuformen, dass sie in die neue Gesellschaft passen – im Zweifelsfall mit Hilfe der Guillotine …

 - Die Waffen der Radikalen -
Karikatur von George Cruikshank
(1792–1878)


Zitate aus: Johannes Willms, Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution, München 2014 (C.H.Beck)   -    Weitere Literatur: Sylvain Maréchal: Manifest der Gleichen, in: Fritz Kool und Werner. Krause (Hgg): Die frühen Sozialisten, Bd. 1, München 1984 (dtv)

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Poggio Bracciolini und die Scheinheiligkeit

Giovanni Francesco Poggio Bracciolini (1380 -1459), war einer der wichtigsten Humanisten der italienischen Renaissance. Nach seinem Studium der Notarkunst in Florenz, wozu auch Unterricht in Latein und Rhetorik gehörte, kam er in Kontakt mit dem florentinischen Kanzler Coluccio Salutati, der sein Talent erkannte und ihn förderte. So erhielt Poggio Zugang zu dem Kreis von Humanisten, der sich in Florenz um Coluccio scharte.

Im Herbst 1403 ging er nach Rom, wo er zunächst als Privatsekretär des Bischofs von Bari Landolfo Maramoldo arbeitete, bald jedoch auf einen gutbezahlten Posten eines Schreibers der apostolischen Kurie wechselte, eine Position, die er bis 1415 ausübte.

Nach der Absetzung seines Dienstherrn, des Papstes Johannes XIII., nutzte Poggio die Zeit, um in Bibliotheken und Klöstern Deutschlands und Frankreichs nach antiken Texten zu suchen, deren Existenz den frühen Humanisten zwar bekannt war, die aber in Italien nicht mehr auffindbar waren. So entdeckte er lange verschollene Texte von Cicero, Tacitus, Quintilian, Vegetius, Marcus Manilius, Ammianus Marcellinus, Vitruv, Statius, Lukrez und Petronius. Zudem spezialisierte sich Poggio darauf, einzelne Fragmente anhand des Schreibstils einem bestimmt Autor zuzuordnen und verlorene Werke so zu rekonstruieren.

Überaus bedeutend ist Poggios Beitrag zur Geschichte der lateinischen Schrift, namentlich der humanistischen Schrift, als deren eigentlicher Erfinder er gilt.

Von Poggio geschriebener Text 

Schließlich schrieb Poggio auch eigene Werke, wie viele Humanisten seiner Zeit ausschließlich auf Latein. Eines dieser Werke trägt den Titel „Contra hypocrites“ (Gegen die Scheinheiligkeit). Poggio, dem es in dieser Hinsicht nicht an praktischen Erfahrungen fehlte, entwirft hier ein Gespräch über die Frage, warum Kirchenmänner und insbesondere Mönche zur Scheinheiligkeit neigen. Gibt es, fragt Poggio, eine Beziehung zwischen religiöser Berufung und Schwindelei? Warum sammeln sich an Orten wie der Kurie Scheinheilige in ganzen Schwärmen? Warum streben vor allem Mönche, die eigentlich bekannt sein sollten ostentative Frömmigkeit und für asketische Blässe, so fieberhaft nach Pfründen, Immunitäten, Gefälligkeiten, Privilegien und Machtstellungen.

Scheinheiligkeit: Bruder Fettwanst
„Poggio lässt sie alle aufmarschieren: die charismatischen Prediger, die es verstehen, aus fürchterlichen, mit sonorer Stimme ausgestoßenen Drohungen mit Höllenfeuer und Verdammnis klingende Münze zu schlagen; die Franziskanerobservanten, die der Ordensregel der Franziskaner strengstens zu folgen vorgeben, sich aber, was ihre Moral angeht, kaum von Räuberbanden unterscheiden lassen; die Bettelbrüder mit ihren kleinen Beuteln, langem Haar und noch längeren Bärten und ihrer betrügerischen Prätention, in heiliger Armut zu leben; die Beichtväter, die in den Geheimnissen aller Männer und Frauen herumstöbern.“

Warum also kann man Scheinheiligkeit bei diesen „Musterbildern übertriebener Religiosität“ so vortrefflich antreffen? „Die Antwort: Weil ihre augenfällig bekundete Frömmigkeit, Demut und Weltverachtung tatsächlich nur Masken sind für Gier, Faulheit und Ehrgeiz.“ Natürlich gebe es, so Poggio, gute und ernsthafte Mönche, doch das seien nur wenige, sehr, sehr wenige, und man könne zuschauen, wie auch sie in die fatale Verderbnis gezogen würden, die in ihre Berufung geradezu eingebaut sei.

Scheinheiligkeit: Abt und Nonne
Wie nun könne man Scheinheilige entlarven? Je geschickter sie sich anstellen bei ihrer Heuchelei, desto schwieriger lassen sich Betrüger von wirklich heiligen Gestalten unterscheiden. „Misstrauisch müsse man dem begegnen, der eine übertriebene Reinheit des Lebens zeige; barfuss durch die Straßen ziehe, mit schmutzigem Gesicht und schäbigen Kleidern; seine Geringschätzung des Geldes vor allen demonstriere; Frauen an sich binde, damit sie seine Wünsche erfüllten; außerhalb seines Klosters auf der Suche nach Ruhm und Ehre hin und her renne; viel Aufhebens mache von seinem Fasten und anderen asketischen Praktiken; andere dazu bringt, ihm Dinge für den eigenen Nutzen zu besorgen; sich weigere, anzuerkennen oder zurückzugeben, was man ihm im Vertrauen gab.“

Baldassare Cossa, der sich später
Papst Johannes XXIII. nannte
- ein Meister der Intrige.
„Contra hypocrites“ stammt nicht von einem Polemiker der Reformationszeit, sondern ist ein Jahrhundert früher geschrieben worden, von einem Beamten, der in der Kurie, dem Zentrum der katholischen Kirchenhierarchie, gelebt und gearbeitet hat. „Die Kirche, die so heftig auf alles reagieren konnte, was sie als Herausforderung von Lehre und Institution betrachtete – und dies auch tat –, hat, wie das Schicksal dieses Textes zeigt, äußerst scharf formulierte Kritik aus den eigenen Reihen toleriert, selbst wenn sie von weltlichen Gestalten wie Poggio kam.“

Ein Argument allerdings hätte Poggio äußerst gefährlich werden können. An einer Stelle des Gespräches stellt er nämlich einen Zusammenhang her zwischen der theatralischen Prätention von Heiligkeit in der katholischen Kirche und der betrügerischen Nutzung von Orakeln in der heidnischen Religion, „beides, so lässt sich dem Text entnehmen, sind Mittel, das gemeine Volk einzuschüchtern und zu manipulieren.“

Doch dieser subversive Hinweis – den Machiavelli ein Jahrhundert später zur nüchternen Analyse des politischen Gebrauchs jeglichen religiösen Glaubens weitertreiben sollte – wird bei Poggio nie explizit formuliert, sein Text endet schließlich nur in einer Phantasie darüber, wie sich die Scheinheiligen ihrer schützenden Mäntelchen entkleiden ließen. Zwar werden die Scheinheiligen alle bloßgestellt, auch definitiv bestraft, doch erst im nächsten Leben; erst dann wird ans Licht kommen, wer sie wirklich sind. Man spürt die Wut, die unter der Oberfläche seiner Schwänke und Possen brodelt, aber dahinter steht Verzweiflung – und sie entspringt der Unmöglichkeit, Missstände durch Reformen zu beheben, dem beständigen Verlust all dessen, das zu bewahren wert wäre; sie gilt der Verdorbenheit der conditio humana.


Zitate aus: Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012 (Siedler)