Donnerstag, 26. September 2013

Manfred Korfmann und die Suche nach Troia


„Wenn man nicht darauf wartet – 
das Un-Erwartete wird man nicht finden“ 
(Heraklit)

Homer
Seit über dreitausend Jahren ist Troia ein europäischer Mythos, der seine Bedeutung dem altgriechischen Dichter Homer verdankt. Im 8. Jahrhundert erschuf Homer das erste Literaturwerk Europas, die Ilias, die insgesamt 15693 Verse umfasst. Die Ilias erzählt die Geschichte des Troianischen Krieges, genauer den Konflikt zwischen den beiden herausragenden Führungspersönlichkeiten der griechischen Angreifer, Agamemnon und Achilleus.

Seit dem Beginn der Ausgrabungen unter Leitung des deutschen Großkaufmanns und Archäologen Heinrich Schliemann werden immer wieder zwei Fragen gestellt, die neben anderen Fragen bis heute den Kern der Troia-Homer-Forschung bilden:

Ist der Hügel an den Dardanellen im (heute türkischen) Hirsalık, an dem seit 130 Jahren gegraben wird, mit dem Troia aus Homer Ilias identisch? Wenn ja, wie sah dann das historische Troia aus, bevor es in Flammen aufging?
  
Im Jahre 1988 übernahm der Tübinger Professor für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, Manfred Korfmann (gest. 2005), die Leitung der Ausgrabungen in Hirsalık – nicht um Homer zu verifizieren, sondern um die Funktion der uralten Kulturregion rings um Troia zu ergründen. Und es war dieser Wechsel in der Perspektive, der zu aufsehenerregenden Forschungsergebnissen geführt hat.

Troia - Ausgrabungsschichten

Mittlerweile kann als gesichert gelten, dass Homers Handlungskulisse historisch und Troia also keine Erfindung eines Dichters ist. In seinem Buch „Troia und Homer“ gibt Joachim Latacz nicht nur einen hervorragenden Überblick über die inzwischen stark verästelte neue Troia-Forschung, sondern fasst auch in Form einer Zwischenbilanz den gegenwärtigen gesicherten Forschungsstand zusammen. Die Ergebnisse sind faszinierend:

Hirsalık hieß zur Bronzezeit bei den Hethitern Wilusa und bei den Griechen Wilios. Die Hethiter kannten im Bereich des „Landes Wilusa“ ein Gebiet mit Namen Tru(w)isa, das vom griechischen Troia wohl kaum zu trennen ist. „Die Stadt, um die es in Homers Ilias geht, ist also in jedem Fall historisch. Und sie lag zur Bronzezeit in eben dem Gebiet Nordwestkleinasiens, in dem sie in der Ilias Homers erscheint“ (154).

Die Stadt Wilusa, die dem Land seinen Namen gab, war eine ausgedehnte Siedlung von über 300 000 Quadratmetern ummauerter Fläche mit wohl über 5 000 Einwohnern.

Die Stadt bestand aus einer ummauerten Burg und einer dicht bebauten Unterstadt, die sich so stark ausdehnte, dass sogar ein zweiter Stadtgraben angelegt werden musste.

Wilusa / Wilios war Residenzstadt und Handelsplatz zugleich, regiert durch eine Burgherrschaft. Als Handelsplatz nahm die Stadt die Rolle „eines Wirtschaftsmittelpunkts und Organisationszentrums für die näheren und ferneren Regionen nicht nur in Asien, sondern auch im gegenüberliegenden Europa in natürlicher Ausnutzung der auf sie zulaufenden Wirtschaftsstrukturen mit Gewinn für alle Beteiligten an.“
 
Burgmauer in Troia

Es war nur allzu klar, dass ein Ort von dieser Bedeutung und Ausstrahlung auch politisch nicht unbeachtet bleiben konnte. Mittlerweile gilt als gesichert, dass es eine sehr alte und enge politische Bindung zwischen der Regierung des Hethiter-Reiches in Ḫattusa und der Burgherrschaft in Wilusa gab.

Ein kleines Siegel, das im Jahre 1995 innerhalb von Troias Burg nahe der Burgmauer gefunden wurde, aber auch Schriftfunde in den Dokumenten der hethitischen Reichskorrespondenz lassen zweifelsfrei diesen Schluss zu.

Die Hethiter und ihre Teilstämme der Luwier und Palaier waren eine indogermanisches Volk, das im 3. Jahrtausend v. Chr. aus dem Norden nach Anatolien eingewandert war und sich dort aus kleinen Anfängen durch Expansion allmählich zu einer Großmacht entwickelte. Auf dem Höhepunkt ihrer Ausdehnung beherrschten die Hethiter große Teile Kleinasiens.

Das Reich wurde niemals von einem einheitlichen Volksstamm getragen, sondern in das Gebilde waren zahlreiche Regionen und Kleinstaaten nichthethitischer Herkunft inkorporiert oder durch Verträge gebunden - darunter auch Wilusa / Wilios.

Die Hethiter besaßen eine „Hochschrift“ zur Verwendung im inneren Zirkel der Regierung und Verwaltung sowie im diplomatischen Verkehr: die Keilschrift des Hethitischen (entschlüsselt 1915 durch Friedrich Hrozný). „Für die Repräsentation dagegen und die Herrschaftsdemonstration gegenüber den Völkern im Binnenraum des Reiches wurde vornehmlich die verständlichere, schon rein visuell eindrucksvollere und auch von den einfachen Leuten wohl als amtlich verstandene Bilderschrift des Luwischen verwendet“ (117).

Die Auffindung des 1995 in Troia gefundenen Bronzesiegels war eine Sensation, denn es ist die erste gesicherte Inschrift, die in Troia gefunden wurde – und sie ist in der Sprache des Luwischen verfasst.
  
Luwisches Siegel aus Troia VI (ca. 1700-1250 v. Chr.), das Troia Homers, identisch mit der hethitischen Vasallenstadt "Wilusa"

Auch wenn der Text des Siegels noch nicht vollständig erschlossen wurde (der schlechte Erhaltungszustand trägt dazu bei), so kann allein durch die Verwendung des Luwischen als reguläre Diplomatensprache auch in Wilusa / Wilios gefolgert werden, dass Troia mit dem Hethiter-Reich verbunden war.

Unter den Dokumenten des Reichsarchivs in Ḫattusa war schon bald nach der Entzifferung des Keilschrifthethitischen ein Vertrag aufgefallen, der zwischen dem hethitischen König Muwatalli II. und einem gewissen Alaksandu von Wilusa abgeschlossen wurde.

Schon 1924 hatte der Indigermanist Paul Kretschmer den Landesnamen Wilusa mit dem griechischen Ortsnamen Ilios gleichgesetzt, der in Homers Ilias als zweiter Name neben Troia über einhundertmal den Schauplatz der Handlung bezeichnet.

„Aufgrund sprachwissenschaftlich aufgedeckter Gesetzmäßigkeiten war damals längst bekannt und unbestritten, dass die ursprüngliche Namensform dieses Ortes in einer bereits länger zurückliegenden Zeit vor Homer „Wilios“, also mit anlautendem /w/ gelautet hatte“ (126f), das jedoch zur Zeit Homers bereits allgemein geschwunden war.

So war klar: „Der gleiche Ort, der heute in türkischer Sprache Hirsalık heißt, hieß im 2. Jahrtausend in der hethischen Sprache Wilusa und in der griechischen Sprache Wilios.

So ist gesichert, dass Homer – zumindest, was den Namen seines Handlungsschauplatzes angeht, nicht phantasiert hat. Ilios / Wilios ist ein realer historischer Ort, der sich eben an der Stelle befand, an der er bei Homer erscheint.

Natürlich darf man aus der Geschichtlichkeit eines Ortes nicht zugleich den Schluss ziehen, dass auch die Geschichten, die Homer an diesem Ort geschehen lässt, geschichtlichen sein müssen. Allerdings wird die Möglichkeit, dass es so gewesen sein könnte, dadurch nicht kleiner.

Was jetzt beginnen kann, ist die Suche nach der Art des Zusammenhangs zwischen dem historischen Ilios / Troia und dem Ilios / Troia Homers.
   
Zitate aus: Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, 6. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Leipzig 2010 (Koehler und Amelang)

Donnerstag, 19. September 2013

Richard Herzinger, Hannes Stein und die liberale Demokratie

In ihrem 1995 veröffentlichten Buch „Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler“ weisen Richard Herzinger und Hannes Stein auf die verschiedenen Gefahren hin, die der westlichen Gesellschaft von den verschiedensten totalitären und fundamentalistischen Bewegungen weltweit drohen. Auch wenn seit dem erscheinen des Buches mittlerweile 18 Jahre vergangen sind, haben die Überlegungen der beiden Autoren zur liberalen Demokratie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Ausgangspunkt des modernen Liberalismus ist ein pessimistisches Menschenbild, d.h. er „glaubt nicht an das gute Volk und den guten Menschen.“ Aus der Fehlerhaftigkeit menschlichen Denkens wiederum resultiert ein Misstrauen gegenüber „allen Utopien von der idealen Demokratie, die das mühsame Geschäft der Austarierung von Interessen durch direkte Ansprache und rücksichtslos ehrliche Aussprache ersetzen wollen.“

Wenn die Gesellschaft in erster Linie der Zusammenschluss von unabhängigen und freien Individuen ist, dann „müssen alle Versuche eine symbiotische Gemeinschaft auf Einverständnis und gegenseitige Zuneigung zu gründen in Mord und Totschlag enden. Und dies nicht etwa aus Hass, sondern wegen der verzehrenden Sehnsucht nach Nähe.“

Weil der Liebe wie alle Leidenschaften eine Tendenz zum Absoluten – zum absolut Wahren – innewohnt, taugt sie gerade nicht zum Organisationsprinzip einer freien Gesellschaft.


Die Lösung von Interessenskonflikten kann nur durch neutrale Institutionen gelingen (Zeichnung: Ralf Brunner) 

So schalte die liberale Demokratie neutrale Institutionen zwischen die einzelnen Menschen mit ihren sehr unterschiedlichen und sehr widersprüchlichen Interessen. Diese Institutionen wiederum beruhen auf abstrakten, für alle Menschen gleichermaßen gültigen und akzeptablen Werten (wie beispielsweise der Fairness).

Natürlich darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass diese neutralen Institutionen „de facto neutrale oder objektive Entscheidungen treffen. Denn die Menschen innerhalb der Institutionen sind nicht `neutral´ und da alle institutionellen Entscheidungen letztlich von Menschen getroffen werden, können auch ihre Entscheidungen es niemals sein.“

Neutral dagegen müssen aber allein die Werte sein, „an denen ihre Entscheidungen gemessen und in Bezug auf die sie kritisiert werden.“ Allein die Existenz solcher Normen gewährleistet, „dass die institutionellen Entscheidungen zu keinem Zeitpunkt den Anspruch auf Endgültigkeit und Unveränderbarkeit erheben“, also stets als von Menschen gemachte und auch durch den Menschen veränderbare Normen verstanden werden müssen.

Gerade weil die Institutionen des liberalen Staates ihre Autorität nicht daraus ableiten, dass die eine metaphysische Instanz repräsentieren – etwa eine göttliche Autorität oder auch das vermeintliche Prinzip der Weltgeschichte – repräsentieren sie allein den jeweiligen Stand der Diskussion, „aus der niemand ausgeschlossen werden darf.“

Im liberalen Verständnis bedeutet daher „Demokratie“ zunächst nichts anderes, „als dass jedes Mitglied der Gesellschaft an dieser Diskussion mit gleichberechtigter Stimme teilhaben kann. Damit die Debatte transparent bleibt, muss es das Recht auf freie Artikulation in Wort, Schrift und Bild geben. Der Stand der Diskussion wird durch demokratische Abstimmung gemessen“ – also durch Wahlen.
 
Wahlen als Artikulation des `Volkswillen´ 

Die Summe der zu den Wahlen zugelassenen Individuen ist schließlich das „Volk“ - und „außerhalb dieser Willensbildung kann es keine Artikulation des `Volkswillen´ geben.“

In diesem Zusammenhang haben die politischen Parteien eine entscheidende Funktion, ohne die eine liberale Demokratie nicht auskommen kann, weil vor allem die Parteien die am besten geeignete Form sind, „in der alle politischen Interessen gebündelt und in einen fassbaren, definierten Meinungsstreit überführt werden können.“

So dienen gerade die Parteien dazu, „die Sphäre der politischen Diskussion vor der zerstörerischen Wirkung zu bewahren, die von dem bedingungslosen Streben nach dem Guten ausgeht.“ So könne man die liberale Demokratie auch als „ein Unternehmen zum Schutz der zivilen Gesellschaft vor dem direkten Zugriff des Volkes“ – oder damit die Menschen sich nicht „die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren“, wie Büchner seinen Danton sagen lässt.

Parteien im fassbaren öffentlichen Meinungsstreit
So schaffe die liberale Demokratie einen Raum, in dem die Einzelnen einander ungefährdet begegnen können, so wie alle liberalen Institutionen auf Trennungen beruhen: „Sie zielen auf Begrenzung von Macht und Zuständigkeiten.“ Nur auf diese Weise ist es möglich, , die Gesellschaft in einer prekären und stets gefährdeten Balance zu halten, in der die individuelle Freiheit bewahrt bleibt.

Genau dies können die Anhänger einer „direkten“ oder „organischen“ Demokratie nicht ertragen, wenn sie fordern, die Gesellschaft müsse wieder auf „festen“ Boden gegründet werden. Das sei aber – wie alle utopischen Versuche – eine schlichte Illusion.

Zitate aus: Richard Herzinger und Hannes Stein: Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler, Reinbeck 1995 (Rowohlt), hier: S. 207ff


Donnerstag, 12. September 2013

John Stuart Mill und die Freiheit des Einzelnen

John Stuart Mill war einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. In der Ethik war Mill Utilitarist. Als politischer Philosoph begründete er den modernen Liberalismus, der die Hauptaufgabe des Staates darin sah, die individuelle Freiheit zu schützen und zu verteidigen.

John Stuart Mill  (1806 - 1873)
John Stuart Mill studierte bereits in ganz jungen Jahren unter Anleitung seines Vaters klassisches Griechisch und Latein, Mathematik, Geschichte und später auch Nationalökonomie, Naturwissenschaften und Rechtswissenschaft. Mill war kein akademischer Philosoph, sondern eher ein produktiver politischer und wissenschaftlicher Publizist, der sich lange Zeit seinen Lebensunterhalt als Angestellter der Ostindischen Kompanie verdiente. Für kurze Zeit gehörte er als Abgeordneter auch dem Unterhaus an.

In seinem berühmten Essay „Über die Freiheit“ behandelt Mill gleich im ersten Kapitel das Verhältnis von staatlicher Macht und individueller Freiheit: „Der Gegenstand dieser Untersuchung ist nicht die sogenannte `Willensfreiheit´…, sondern es handelt es sich um die bürgerliche oder soziale Freiheit. Wir untersuchen die Natur und die Grenzen der Macht, die gesetzmäßig von der Gesellschaft über das Individuum ausgeübt werden darf“ (9).

Schon in der Antike verstand man unter Freiheit den Schutz gegen die Tyrannei der politischen Herrscher. Dabei ging es vorrangig darum, „der Gewalt, die der Herrscher über seine Untertanen ausüben durfte, Grenzen zu setzen, und diese Begrenzung nannte man `Freiheit´.“ Aber auch die antiken Staaten glaubten sich berechtigt – unterstützt von Philosophen wie Platon –, durch öffentliche Autorität jedes Gebiet des Privatlebens deshalb zu regeln, weil der Staat ein tief greifendes Interesse an der ganzen körperlichen und geistigen Disziplin jedes Einzelnen hatte.

Für Mill jedoch reicht es nicht, sich nur gegen die Tyrannei der Machthaber zu schützen, denn es besteht – abgesehen von den besonderen Leistungen einzelner Denker wie John Locke – "in der Welt schon immer eine zunehmende Neigung, die Macht der Gesellschaft über das einzelne Individuum ungebührlich zu vermehren durch den Einfluss der Meinung, wie durch den der Gesetzgebung“ (28).


John Locke - Für das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

So müsse man sich zunächst wehren „gegen die Bevormundung der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls. Man muss sich schützen gegen die Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihr eigenes Denken und Tun als Regel auch solchen aufzuerlegen, die davon abweichen. Man muss sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung zu hemmen und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eignen Muster zu richten. 

Es gibt eine Grenze für das berechtigte Eingreifen der allgemeinen Meinung in die persönliche Unabhängigkeit, und diese Grenze zu finden und sie gegen Übergriffe zu schützen, ist für eine gute Sicherung des menschlichen Lebens ebenso unentbehrlich, wie der Schutz gegen politischen Despotismus (14f).“ Diese Worte enthalten ein klares Plädoyer für ein an der Ausbildung von Kritikfähigkeit ausgerichtetes Bildungs- und Erziehungssystem.

Die Garantie individueller Unabhängigkeit und Freiheit angesichts der Beeinflussungs- und Kontrolltendenzen der Gesellschaft führt Mill nun direkt zu dem Zweck seiner Überlegungen, d.h. dem Grundsatz, nach dem der Staat in die Angelegenheiten des Einzelnen eingreifen darf: „Dieser Grundsatz lautet: das einzige Ziel, um dessentwillen es der Menschheit gestattet ist, einzeln oder vereint, die Freiheit eines ihrer Mitglieder zu beschränken, ist Selbstschutz. Und der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten“ (21).

On Liberty (4. Aufl.)
Seine Grenze findet die staatliche Macht jedoch in der individuellen Suche nach Sinn und Glück: „Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde, oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorstellungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, muss das Handeln, von dem man jemand abbringen will, für einen anderen einen Schaden bedeuten“ (21f).

So sei nach Mill jeder nur für den Teil seiner Handlungen der Gesellschaft gegenüber verantwortlich, der andere betrifft. Alle Bereiche seines Lebens, die nur ihn selbst angehen, „ist seine Unabhängigkeit absolut. Der Mensch ist Alleinherrscher über sich selbst, über seinen Körper und seinen Geist“ (ebd.).

Aus diesen Überlegungen leitet Mill nun direkt die verschiedenen Freiheitsrechte des Individuums ab: „Dies ist also der eigentliche Bereich der menschlichen Freiheit. Er betrifft zunächst die Domäne des Gewissens und er fordert die Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinn: Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und des Urteils, in allen Dingen, praktischen wie theoretischen, wissenschaftlichen, moralischen wie theologischen.

Die Freiheit, seine Meinung auszusprechen und zu veröffentlichen, scheint unter ein anderes Prinzip zu gehören, denn sie fällt unter das Gebiet der menschlichen Betätigungen, das sich an andere Menschen wendet. Aber sie ist doch ebenso wichtig, wie die Freiheit des Denkens selbst und beruht zum großen Teil auf denselben Prinzipien (...).

Sodann erfordert unser Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Betätigung, die Freiheit, den Plan unseres Lebens so zu entwerfen, wie es unserem Charakter angemessen ist, zu tun, was wir wollen und die Folgen unseres Handelns zu tragen; ungehindert von unseren Mitmenschen, solange wie ihnen kein Leid zufügen, - ungehindert auch dann, wenn jene unser Handeln unmoralisch, verkehrt oder ungerecht finden sollten.

Schließlich folgt aus der Freiheit jedes Einzelnen innerhalb derselben Grenzen die Freiheit des Zusammenschlusses der Einzelnen, sofern er anderen kein Leid zufügt. Wobei allerdings die Voraussetzung ist, dass die Personen, die sich zusammenschließen, volljährig sind und weder gezwungen, noch getäuscht werden“ (25).

Zitate aus: J. S. Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)


Donnerstag, 5. September 2013

Hölderlin und der Verstand


In dankbarer Erinnerung an Johannes Heldt 
(06.05.1936 - 12.03.2004)




Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) ist einer der bedeutendsten deutschen Lyriker der Romantik. Grundlegend für das Verständnis Hölderlins ist seine Sichtweise der altgriechischen Kultur, das sich gleichwohl von dem idealistischen Griechenlandbild vieler seiner Zeitgenossen unterscheidet, da Hölderlin die dem Geschmack der Zeit nicht genehmen Züge der griechischen Kultur nicht klassizistisch glätten wollte.

In seinem frühen Briefroman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (erschien in zwei Bänden 1797 und 1799) stellte Hölderlin seine Vorstellung der antiken griechischen Kultur dar.

Die Handlung ist schnell zusammengefasst, geht es doch in dem Werk vor allem um die inneren Erfahrungen des Protagonisten: Hyperion, der rückschauend seinem deutschen Freund Bellarmin von seinem Leben berichtet, wächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Südgriechenland im Frieden der Natur auf. Er ist ein Idealist reinster Prägung, der von seinem Lehrer Adamas in das Zauberland der griechischen Götter eingeführt wird und sich – begeistert für die griechische Vergangenheit – aufmacht, einen neuen goldenen Zustand heraufzuführen, in dem Gott, Natur und Mensch wieder eins sind.

Sein Freund Alabanda, ein Tatmensch, weiht ihn in die Pläne zur Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft ein. Dieser ist es auch, der Hyperoin schließlich zu einem übereilten Eingreifen in den griechischen Aufstand 1770 gegen die Türken verführt. Dort zeigt sich, dass seine Zeitgenossen noch nicht reif sind für seine hohen Ideale. Unterwegs lernt Hyperion Diotima kennen, die ihn – vergebens – lehrt, nicht zu schwärmen, sondern sich ernst zu bilden.

Diotima
Das Unternehmen endet in einer Katastrophe: Hyperion Er wird schwer verwundet, Alabanda muss fliehen und Diotima stirbt. Hyperion beginnt schließlich ein Leben als Eremit in Griechenland, wo er seine Trauer über die Armut und Starre der Gegenwart vor dem Abbild des antiken Griechenland ausleben kann.

Verzweifelt an den Menschen, an der Liebe und auch an der Philosophie, sucht Hyperion sein letztes Heil in resignierter Naturliebe. Die Natur wird für ihn die alleinige Geisteswirklichkeit: „O du mit deinen Göttern, Natur! Ich hab ausgeträumt, von Menschendingen den Traum, und sage: Nur du lebst …“

Aus dieser Perspektive wird auch verständlich, warum Hölderlin dem menschlichen Verstand und seinen Möglichkeiten eher skeptisch gegenüber steht. An entscheidender Stelle schreibt er im Hyperion:

„Aber aus bloßem Verstand ist nie Verständiges, aus bloßer Vernunft ist nie Vernünftiges gekommen.

Verstand ist ohne Geistesschönheit, wie ein dienstbarer Geselle, der den Zaun aus grobem Holze zimmert, wie ihm vorgezeichnet ist, und die gezimmerten Pfähle aneinander nagelt, für den Garten, den der Meister bauen will. Des Verstandes ganzes Geschäft ist Notwerk. Vor dem Unsinn, vor dem Unrecht schützt er uns, indem er ordnet; aber sicher zu sein vor Unsinn und vor Unrecht ist doch nicht die höchste Stufe menschlicher Vortrefflichkeit.

Vernunft ist ohne Geistes-, ohne Herzensschönheit, wie ein Treiber, den der Herr des Hauses über die Knechte gesetzt hat; der weiß, so wenig, als die Knechte, was aus all der unendlichen Arbeit werden soll, und ruft nur: tummelt euch, und siehet es fast ungern, wenn es vor sich geht, denn am Ende hätt er ja nichts mehr zu treiben, und seine Rolle wäre gespielt.

Aus bloßem Verstande kömmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn nur die beschränkte Erkenntnis des Vorhandnen.

Aus bloßer Vernunft kömmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn blinde Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines möglichen Stoffs.

Leuchtet aber das göttliche έν διαφερον έαυτω (das Eine in sich selber unterschiedene), das Ideal der Schönheit der strebenden Vernunft, so fordert sie nicht blind, und weiß, warum, wozu sie fordert.

Scheint, wie der Maitag in des Künstlers Werkstatt, dem Verstande die Sonne des Schönen zu seinem Geschäfte, so schwärmt er zwar nicht hinaus und läßt sein Notwerk stehn, doch denkt er gerne des Festtags, wo er wandeln wird im verjüngenden Frühlingslichte.“

Durch mythische Erfahrung, nicht durch Verstand und Vernunft entsteht ein Gespür für die tiefere Bedeutung der Dinge. Durch die Wut des Erklärens aber wird solche Bedeutsamkeit zerstört: „Man dringt in die Wirklichkeit ein, statt sich ihr zu öffnen und sie aufgehen zu lassen. Deshalb sieht man die Erde nicht mehr, hört nicht mehr den Vogellaut, und die Sprache zwischen den Menschen ist verdorrt“ (Safranski).

Göttlich können auch – das stellt Hyperion am Ende fest – Landschaften sein. In Griechenland „leben noch die Götter in den Hainen, im leichten Wind, der vom Meer her weht:

„Endlich … merkt´ ich auf, und mein ganzes Wesen öffnete sich der wunderbaren Gewalt, die auf einmal süß und still und unerklärlich mit mir spielte.“

Arkadische Landschaft mit Hirten (Claude Lorrain, 1600 - 1682)
Nicht nur in der ganzen Natur, sondern auch in bestimmten Landschaften und „Konfigurationen des Menschengeschlechts“ wohnt das Göttliche. „Das Unendliche im Endlichen, das Ewige im Augenblick.“

Zitate aus: Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: Ders.: Gesammelte Werke, Gütersloh 1955 (Bertelsmann), hier: S. 391 ff  -  Weitere Literatur: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt am Main 20010 (fischer), hier: S. 163ff.