Donnerstag, 27. August 2020

Carl Schmitt und das Politische (Teil 1)


Carl Schmitt
Carl Schmitt (1888 – 1985) gilt gemeinhin als „Kritiker des Parlamentarismus“, als „Theoretiker des Ausnahmezustands“, schlicht als „Kronjurist des Dritten Reiches“, so Michael Reitz in seinem Beitrag für die Sendereihe SWR-Wissen.
   
Ende Juni, Anfang Juli 1934 lässt Adolf Hitler die gesamte Führungsspitze der sogenannten Sturmabteilungen inklusive ihrem Befehlshaber Ernst Röhm ermorden, um seine Machtposition abzusichern. Am 1. August 1934 erscheint in der „Deutschen Juristen-Zeitung“unter dem Titel „Der Führer schützt das Recht“ die rechtliche Legitimierung eines Massakers:

„Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick kraft seines Führertums als Oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. (...) Der wahre Führer ist immer auch der Richter (...) Die Tat des Führers (...) war echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz.“

Autor dieser Huldigung des Führerprinzips ist der Staatsrechtsprofessor Carl Schmitt. Er gilt heute als „Kronjurist des Dritten Reiches“. Aber Schmitt ist zugleich auch einer der faszinierendsten politischen Denker des 20. Jahrhunderts.

Der ebenso hochbegabte wie ehrgeizige Schmitt studiert in Berlin, München und Straßburg Rechtswissenschaft und macht bereits im Alter von 22 Jahren seinen Doktor. Doch er liest nicht nur juristische Fachbücher, sondern auch Unmengen klassischer Literatur und Texte der politischen Philosophie. Ihn interessieren vor allem ihre normativen Fragen: „Was kann, muss und darf ein Staat tun, wenn er sich bedroht fühlt? Wie wägt man Meinungsfreiheit, den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen gegen das Sicherheitsbedürfnis des Gemeinwesens ab? Wie definiert man einen Staatsfeind, was ist das überhaupt – das Politische?“

1922 wird er ordentlicher Jura-Professor in Bonn. Im gleichen Jahr erscheint sein Buch „Politische Theologie“. Dessen erster Satz ist bis heute berühmt-berüchtigt:

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

Politische Theologie (1922)
Berüchtigt ist dieser Satz vor allem deshalb, weil der Ausnahmezustand ein Zustand ist, in dem das Recht nichts mehr zu sagen hat. Souverän ist also, wer über einen rechtlosen Zustand entscheidet. Man könnte dies in der Weise übersetzen, dass derjenige souverän ist, der sich durchsetzt. Dann wäre dieser Satz letztlich der Ausgangspunkt einer Theorie der gelungenen Revolution oder des gelungenen Staatsstreichs.

Seit der Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts waren mit Souverän das Volk und seine Interessenvertretungen in den Parlamenten gemeint. Carl Schmitt bricht also mit dieser Tradition des demokratischen Machtverständnisses und behauptet, dass auch Demokratien die Möglichkeit haben müssen, ohne Zustimmung der Volksvertretungen Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen einleiten zu dürfen, mit dem Ziel Chaos zu beseitigen und Recht und Ordnung wiederherzustellen -– eine reichlich paradoxe Argumentation.

Hinter Carl Schmitts Konzeption des Ausnahmezustands steckt zu allererst eine tiefe Abneigung gegen den Parlamentarismus. Carl Schmitts Ansatz und seine Führsprache für das Instrument des Ausnahmestandes ist also für sich genommen politisch „neutral“ – was sich daran ablesen lässt, dass in der COVID19-Krise nahezu alle Regierungen – unabhängig von ihrem politischen Bekenntnis – auf das Ausnahmezustand als Mittel zurückgegriffen haben.

Wenn in einem Staat das absolute Chaos herrscht, muss jemand da sein, der dieses Durcheinander und den rechtsfreien Zustand wieder in den Griff bekommt. In seiner Arbeit „Der Begriff des Politischen“ (1927) schreibt Carl Schmitt:

„Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, `Ruhe, Sicherheit und Ordnung´ herzustellen und dadurch die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, dass Rechtsnormen überhaupt gelten können.“

Carl Schmitts Denken ist ursprünglich rechtsstaatlich und demokratisch geprägt. Öffentliche Diskurse und intensive Kommunikation zu staatlichen Problemstellungen lehnt er allerdings kategorisch ab und spricht mit Verachtung von der „kompromissbereiten, diskutierenden Klasse“. In seinem Buch „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ heißt es 1923:

„Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein government by discussion, gehört in die Gedankenwelt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demokratie. Beides, Liberalismus und Demokratie, muss voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht.“

Der Bundestag - Wirkungsstätte des Parlamentarismus

Vernünftiges Regieren und Diskutieren sind für Carl Schmitt also wie Feuer und Wasser. Um seine Gedankengänge zu verstehen, muss man den Enstehungskontext und die konkreten Bedingungen der Weimarer Republik berücksichtigen. Das Weimarer System funktionierte über weite Strecken mehr schlecht als recht. Radikale Gruppen stellten ein großes Problem dar, zeitweise waren im Parlament mehr als dreißig Parteien vertreten, was eine funktionierende Regierungsarbeit schwierig machte. Zwischen März 1920 und November 1923 gaben sich insgesamt sieben Reichskanzler die Klinke in die Hand. Hinzu kamen die Bestimmungen des Versailler Vertrages, der dem Deutschen Reich enorme Entschädigungszahlungen an die Sieger des Ersten Weltkrieges aufbrummte.

In diesem Gemenge sieht Carl Schmitt die Notwendigkeit, überhaupt erst einmal zu definieren, was das Politische ausmacht und wie sich ein Staat am Leben erhalten kann. Was Carl Schmitt für die unterschiedlichsten politischen Lager bis heute attraktiv macht, ist eine Definition, die in die Ideengeschichte einging. Carl Schmitt schreibt in seiner 1927 veröffentlichten Arbeit „Der Begriff des Politischen“:

„Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. (...) Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erkannt wird.“

Mit der Freund-Feind-Theorie hatte Carl Schmitt die hauptsächliche Funktion und das Überlebensrezept des modernen Staates formuliert. Denn nur, wenn er bereit und willens ist sich zu wehren, kann er existieren:

„Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muss es, wenn auch nur für den extremsten Fall (...) die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz.“

Carl Schmitts Schrift „Der Begriff des Politischen“ ist eine Kampfschrift. Er hat darin zwar auch sehr starke nationalistische Töne gegen Versailles angeschlagen, aber als Jurist zugleich immer betont, dass die Weimarer Republik ein legitimes und legales Verfassungssystem war.

Freund-Feind - Kategorien des Politischen

Mit „Feind“ ist bei Carl Schmitt nicht nur eine fremde Macht gemeint, die die Existenz des Staates und seines Territoriums bedroht. Es geht dabei auch um den inneren Feind, den Umstürzler und Putschisten. Dieser Gedanke wurde ab 1948, bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, wieder aktuell.

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Michael Reitz: Carl Schmitt. Ein umstrittener Denker, SWR-Wissen, Sendung vom 29. März 2019

Donnerstag, 20. August 2020

Phillipp Melanchthon und die Bildung (Teil 2)



„Melanchthon brannte für Wissen und Wissenschaft. Der Humanist und Reformator kämpfte für eine solide Allgemeinbildung aller Menschen. Zeitgenossen nannten ihn deshalb auch respektvoll Praeceptor Germaniae – den Lehrer Deutschlands. So lautet die zentrale These von Marianne Thoms in ihrem Beitrag über Phillip Melanchthon in der Reihe Wissen des SWR 2.

Als junger Reformator ist Melanchthon als Augenzeuge dabei, als Luther dem katholischen Theologen Johannes Eck gegenüber bestreitet, dass der Papst die höchste Autorität der Christen sei. Nach dieser unerhörten Kritik droht der Papst, Luther aus der Kirche zu verstoßen. Melanchthon ruft empört alle reformatorisch Gesinnten der Wittenberger Universität für den 20. Dezember 1520 zum Protest auf:

„Alle, die sich zur evangelischen Wahrheit bekennen, werden hiermit aufgefordert, sich um 9 Uhr an der Heilig Kreuz Kapelle außerhalb der Stadtmauer einzufinden.“

Im Beisein Luthers verbrennen die Protestierenden die päpstliche Banndrohung. Sogar das römisch-katholische Kirchengesetzbuch werfen sie in die Flammen. Schließlich eskaliert der Glaubenskonflikt: Papst Leo X. verstößt Luther tatsächlich aus der Römisch-Katholischen Kirche. Er erwartet vom Kaiser Karl V., dass nun auch der weltliche Arm den Ketzer bestrafe. Melanchthon bestärkt Luther, sich während seiner Anhörung auf dem Reichstag zu Worms 1521, auf die Heilige Schrift zu berufen, als „unwiderlegbarer Quelle religiöser Wahrheit“.

Martin Luther verbrennt am 10. Dezember 1520 die Bannandrohungsbulle

Das berühmte reformatorische Schriftprinzip, also die Auffassung, dass allein die Heilige Schrift verbindliche Geltung für den christlichen Glauben hat, das ist ein Prinzip, das Melanchthon in das reformatorische Denken eingebracht hat. Luther nimmt es sofort begeistert auf, nutzt es als argumentative Grundlage bei seinem großen Auftritt 1521 auf dem Reichstag in Worms.

Der unbeugsame Reformator wird vom Kaiser unter Reichsacht gestellt und darf straflos getötet werden. Erst als Melanchthon durch eine Geheimbotschaft erfährt, dass Luther mit Unterstützung des sächsischen Kurfürsten auf der Wartburg bei Eisenach untergetaucht ist, atmet er auf.

Melanchthon ist es auch, der Luther davon überzeugt, die die Bibel aus ihren griechischen und hebräischen Quellen ins Deutsche zu übersetzen. Dabei erweist sich Melanchthons Sprachgenie als unverzichtbare Hilfe für Luther. Im Herbst 1522 ist das Neue Testament druckreif, 1534 folgt das Alte Testament. Auch einfache Menschen können die Bibel von nun an in kraftvoller deutscher Sprache lesen, und ohne Vermittlung von Geistlichen verstehen.

Während Luther die Bibel übersetzt, bringt Melanchthon Luthers in bis dahin 81 Einzelschriften verstreute Lehre in eine übersichtliche, allgemein verständliche Form. Als erster Reformator legt er damit ein Lehrbuch der neuen Theologie vor – die Loci communes, die erste systematische Theologie des Luthertums. Luther selbst sagte einmal, er wisse außer der Heiligen Schrift kein besseres Buch als die Loci communes.

Die Loci in der Ausgabe von 1521

Als Melanchthon erfährt, dass übereifrige Lutheraner Kursachsens Katholiken mit Steinen bewerfen, Kirchen plündern und Priester aus Gottesdiensten vertreiben, dass radikale Professorenkollegen wie Andreas Karlstadt sich darüber beklagen, dass die reformatorischen Veränderungen zu langsam vorankämen, ist er bestürzt:

„Die Unruhen der Unsrigen haben mir viel Arbeit gemacht. Mir ist bange um das Licht der Reformation, das der Welt vor kurzem aufgegangen ist.“

Aber es kommt schlimmer: Mit der ins Deutsche übersetzten Bibel in der Hand durchziehen Heere aufgebrachter Bauern Süd- und Mitteldeutschland. Sie fordern soziale Gerechtigkeit und Befreiung vom Elend ihrer Leibeigenschaft. Sie deuten Luthers Lehre politisch und stellen sich ebenso entschlossen wie schlecht bewaffnet gepanzerten Fürstenheeren.

Melanchthon sieht durch die Aufständischen alles bedroht: Die weltliche Ordnung, die Kirche und nicht zuletzt sich selbst. Im - aus heutiger Sicht gerechten - Krieg der Bauern stellt er sich, wie Luther, auf die Seite der Obrigkeit. Als er hört, dass fürstliche Landsknechte im Mai 1525 Tausende thüringische Bauern bei Frankenhausen niedermetzeln, dass der Kopf des evangelischen Pfarrers Thomas Müntzer zur Abschreckung aufgespießt wird, lautet sein Urteil:

„Es ist eine Lektion darüber, wie hart Gott Ungehorsam und Aufruhr gegen die Obrigkeit bestraft. Die Fürsten sollen gegen alle, die weiter den Aufstand üben, alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um diese als Mörder zu bestrafen und dabei wissen, dass sie Gott damit dienen.“

So wird nach dem Ende der Bauernkriege die Reformation schließlich von einer Volksbewegung zum machtpolitischen Werkzeug von Landesfürsten. Territorial-herren wie dem Landgrafen Philipp von Hessen erscheint der neue Glaube als Chance, dem streng katholischen Kaiser die Stirn zu bieten. Auf dem 1529 einberufenen Reichstag zu Speyer, wo Melanchthon als Verhandlungsführer der evangelischen Seite agiert, protestieren bereits sechs Fürsten und 14 Freie Reichsstädte gegen das kaiserliche Verbot reformatorischer Bestrebungen. Die Bezeichnung „Protestanten“ hat beim Reichstag zu Speyer ihren Ursprung.

Die protestierenden Fürsten auf dem Reichtag zu Speyer (1529)

Obwohl streng verboten, sucht Melanchthon Wege, die Reformation durch gut ausgebildete Pfarrer in den Gemeinden zu verankern. Melanchthon ist derjenige, der kämpft, dass die Reformation zu einer Bildungsbewegung wird, indem er die Pfarrer ausbildet. Melanchthon zeigt dabei großes Geschick als Pädagoge der Reformation und als Bildungsreformer.

Melanchthon ist zugleich der Außenpolitiker der Reformation. Während der geächtete Luther an der Grenze Kursachsens zurückbleiben muss, reitet er weiter zu Reichstagen und Religionsgesprächen, um für Reformen der römisch-katholischen Kirche zu werben und so ihre Spaltung zu verhindern. Anders als andere Reformatoren verhandelt Melanchthon mit der katholischen Seite stets friedfertig, diplomatisch und geduldig. Er setzt auf Argumente. Luther sagt über ihn:

„Ich bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss. Aber Magister Philippus fährt säuberlich und stille daher, bauet und pflanzet und säet, nachdem Gott ihm hat gegeben seine Gaben reichlich.“

Beim Augsburger Reichstag 1530 wird eine Schrift Melanchthons verlesen, in der er den neuen evangelischen Glauben umfassend darlegt. Diese sogenannte „Confessio Augustana“ wird zum wichtigsten Bekenntnis des Luthertums. Während des Reichstages aber prallt das Ringen um seine Anerkennung auf eisige Ablehnung des Kaisers und der katholischen Stände. Deprimiert erkennt Melanchthon, dass der Glaubensstreit in Gewalt umzuschlagen droht. Kaiser Karl V. lässt bereits Truppen zusammenziehen. Zur Verteidigung gründen acht evangelische Reichsfürsten und elf Freie Reichsstädte 1531 den Schmalkaldischen Bund. Melanchthon begrüßt dieses militärische Bündnis und so siegt schließlich die Sorge um die Reformation über seinen Obrigkeitsgehorsam.

Melanchthon argumentiert, dass die Obrigkeit ihr Recht hat, solange sie für die öffentliche Ordnung sorgt, aber sie verwirkt ihr Recht, wenn sie den Glauben angreift, wenn sie die Menschen daran hindert, das Evangelium zu verkünden und das Evangelium zu leben, also ihre Religion auszuüben.

Der sächsische Kurfürst beschenkt Melanchthon 1537 mit einem repräsentativen Wohnhaus gleich neben der Universität. Damit ist der in ganz Europa geachtete Wissenschaftler nun standesgemäß untergebracht. Nach heutigen Maßstäben ist Melanchthon ein workaholic. Schon morgens um vier Uhr saß er am Schreibtisch und hat geschrieben. Melanchthon hat alles selbst geschrieben. Luther beschäftigte einen Sekretär, Melanchthon wohl nicht. Melanchthon war gerne Gastgeber. Einmal sagte er, er wäre stolz darauf, dass 11 verschiedene Sprachen an seinem Abendbrottisch gesprochen worden sind. Regelmäßig ließ sich ein Fässchen Wein aus heimatlichen süddeutschen Landen schicken.

Am 18. Februar 1546 stirbt Martin Luther. Als Vormund kümmert sich Melanchthon fürsorglich um Luthers Kinder und die finanziellen Belange seiner Witwe.

Kaiser Karl V. nach der Schlacht bei Mühlberg
(Tizian, 1548)
Der lange befürchtete Religions-krieg beginnt im Februar 1546. In Süddeutschland und Sachsen bekämpfen 60.000 kaiserliche Soldaten die Truppen des Schmalkaldischen Bundes. Sie erobern auch Wittenberg, und die Universität, der verhasste Ausgangsort der Reformation, wird sofort geschlossen. In Lebensgefahr flieht Melanchthon mit seiner Familie nach Magdeburg. Im Frühjahr 1547 bezwingt das katholische Lager den Schmalkaldischen Bund. 

Darauf folgt das sogenannte Interim, in dem nahezu alle evangelischen Neuerungen zugunsten katholischer Praktiken verboten werden. In einem Schreiben des Kaisers an den neuen sächsischen Kurfürsten Moritz heißt es:

„Dieser Mann ist einer der vornehmsten Lärmbläser, welche Empörung und Aufruhr mit ihren giftigen, aufrührerischen Reden und Schriften erheblich gegen uns erregen und stärken!“

Melanchthon aber ignoriert Angebote der Universitäten Heidelberg und Kopenhagen und kehrt nach Wittenberg zurück. Er will wieder unterrichten – und vor allem will er die Reformation nicht verloren geben. Er ist gezwungen zu taktieren, schafft es aber dafür zu sorgen, dass an der Wittenberger Universität erneut evangelische Theologie gelehrt wird.

1555 wird der Augsburger Religionsfrieden geschlossen – ein Sieg der Reformation: Auf der Grundlage von Melanchthons Confessio Augustana, wird der evangelische Glaube anerkannt: Die deutschen Territorialfürsten erhalten das Recht, sich frei für die eine oder andere Religion zu entscheiden - cuius regio, eius religio, die Untertanen haben dem Bekenntnis ihrer Fürsten zu folgen und kein Reichsstand darf wegen seiner Zugehörigkeit zur katholischen Kirche oder zur Confessio Augustana bekriegt werden. Dankbar notiert Melanchthon:

Es ist ganz sicher, dass die evangelische Lehre auch unter äußerlichen Wirren in all den Jahren gnädig bewahrt wurde und der Konflikt auf so erfreuliche Weise geendet ist.

Bis eine Woche vor seinem Tod unterrichtet der leidenschaftliche Lehrer seine Studenten. Am 19. April 1560 stirbt Melanchthon mit 63 Jahren im Studierzimmer seines Hauses an einer fiebrigen Erkältung. In der Wittenberger Schlosskirche wird sein Leichnam neben Luther bestattet.
 
Confessio Augustana (1530)

Während Luther für den Anstoß der Reformation entscheidend war, und auch die wichtigen inhaltlichen Impulse gesetzt hat, ist Melanchthon unschätzbar wichtig für den endgültigen Erfolg der Reformation gewesen. Ohne Melanchthons diplomatisches Geschick, ohne sein unermüdliches Bemühen, auch ohne seine systematischen Gedanken und Veröffentlichungen für ein protestantisches Lehrgebäude, ohne seine Bildungsreform wäre die Reformation stecken-geblieben. 

Zitate aus: Marianne Thoms: Der Reformator Philipp Melanchthon. Klein von Gestalt, groß im Geist, SRW2-Wissen, Sendung vom 19.04.2018

Donnerstag, 13. August 2020

Phillipp Melanchthon und die Bildung (Teil 1)


„Melanchthon brannte für Wissen und Wissenschaft. Der Humanist und Reformator kämpfte für eine solide Allgemeinbildung aller Menschen. Zeitgenossen nannten ihn deshalb auch respektvoll Praeceptor Germaniae – den Lehrer Deutschlands. So lautet die zentrale These von Marianne Thoms in ihrem Beitrag über Phillip Melanchthon in der Reihe Wissen des SWR 2.

Phillip Melanchthon (1497 - 1560)

Am 16. Februar 1497 wird Melanchthon als Philipp Schwarzerdt in Bretten geboren. Die Stadt gehört damals zur Kurpfalz. Es ist die Zeit machtbewusster Territorialfürsten, früher Bauernaufstände und bürgerlichen Freiheitsstrebens, die Zeit der Entdeckung Amerikas und der Erfindung verbesserter Feuerwaffen. Philipps Vater Georg ist Rüstmeister des pfälzischen Kurfürsten und ein gefragter Waffenschmied. Er sei geachtet gewesen und gütig:

„Oft hat mein Vater von den Käufern nicht so viel genommen, als diese ihm geben wollten. Manchen hat er das Geld gar wieder aufgezwungen, wenn er hörte, dass sie arm wären.“

Philipps Mutter Barbara ist Tochter des wohlhabenden Tuchhändlers und Bürgermeisters von Bretten, Hans Reuter. In dessen geräumigem Haus am Marktplatz wächst Philipp mit vier Geschwistern, den Eltern und Großeltern auf.

Um ihn schon früh mit der lateinischen Sprache vertraut zu machen, ohne die in der Bildung damals kein Weiterkommen ist, stellt der Großvater einen Hauslehrer ein. Der lässt seinen wissbegierigen Schüler auch Gedichte des italienischen Humanisten Baptista Mantuanus übersetzen. So kommt Philipp schon als Kind in Berührung mit der humanistischen Geisteswelt. Sein Großonkel, der Württemberger Sprachgelehrte Johannes Reuchlin, führt ihn später noch tiefer in die Welt des Humanismus ein. Die besondere Nähe zwischen beiden beginnt, als Philipps behütete Kindheit im Herbst 1508 durch den Tod des Vaters und Großvaters jäh endet. Reuchlins Schwester Elisabeth holt ihn zu sich nach Pforzheim.

Johannes Reuchlin (1455 - 1522)
An der dortigen Lateinschule beginnt der Elfjährige zusätzlich zum täglichen Pensum Altgriechisch zu lernen, was seinen Großonkel besonders freut, denn Reuchlin hat Griechisch als Unterrichtsfach erst jüngst in Deutschland durchgesetzt. Er schenkt Philipp ein Buch – mit folgenreicher Widmung:

„Diese griechische Grammatik hat zum Geschenk gemacht Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Doktor der Rechte, dem Philipp Melanchthon aus Bretten im Jahr 1509.“

Diese Widmung gilt als der Ursprung von Melanchthons neuem Namen. Sein Onkel Reuchlin war so begeistert vom jungen Philipp, dass er ihm einen Humanistennamen gegeben hat. Er hat den Namen Schwarzerdt einfach ins Griechische übersetzt und aus Schwarzerdt wird Melanchthon. Reuchlin steht auch als prägende Figur für das Interesse Melanchthons für die antiken Sprachen.

Sprachkenntnis heißt auch eine Schule des Denkens. Präzise Sprache heißt präzises Denken. Das prägt Melanchthons Bildungsverständnis tief.

Reuchlin empfiehlt seinen begabten Ziehsohn an die Universität Heidelberg und an die erst vor wenigen Jahrzehnten gegründete Universität Tübingen, wo er Rhetorik, Dialektik, Grammatik und Geometrie, Musik, Astronomie, Rechtswissenschaften, Medizin und Geschichte studiert. Daneben perfektioniert Philipp seine Griechisch- Kenntnisse und lernt Hebräisch. Mit kaum achtzehn Jahren erlangt er die Magisterwürde und darf nun auch an Universitäten unterrichten. Aber schon bald fühlt er sich unterfordert:

„Ich bin hier zwar sehr beschäftigt, tue aber trotzdem nichts. Unter Knaben werde ich wieder zum Knaben.“

Reuchlin bewirkt, dass der sächsische Kurfürst, Friedrich der Weise, Melanchthon 1518 auf den neu geschaffenen Griechisch-Lehrstuhl der Universität Wittenberg beruft. Diese Ehre verheißt Begegnungen mit Martin Luther, der dort Theologie lehrt und von dessen mutigen Thesen gegen den Ablasshandel Melanchthon gehört hat.

Als Melanchthon am 29. August 1518 in der Wittenberger Schlosskirche zu seiner Antrittsvorlesung ans Rednerpult tritt, wird Melanchthons schmächtige Gestalt, seine leise, leicht lispelnde Stimme zunächst belächelt. Doch dann breitet sich Staunen im Kirchenschiff aus. Mitreißend wirbt Melanchthon für eine durchgreifende humanistische Studienreform. Martin Luther, der unter den Zuhörern gesessen hat, greift zur Feder und schreibt an den kurfürstlichen Sekretär Georg Spalatin:

„Melanchthon hat eine so gelehrte Rede gehalten, die einen solchen Beifall fand, dass wir schnell die vorgefasste Meinung aufgegeben haben. Sehet deshalb zu, dass ihr nicht seine Person und seine Jugend geringschätzt. Er ist jeder Auszeichnung würdig.“

Die Schlosskirche von Wittenberg

In die Vorlesungen Melanchthons drängen bald in- und ausländische Studenten. Konsequent treibt er die Reform der Wittenberger Universität voran.

Sein Bildungsideal war der umfassend gebildete Mensch. Er hatte ein Verständnis von Bildung als Allgemeinbildung. Er war erfüllt von pädagogischem Eros. Er war der erste Dozent in Wittenberg, der auch Studenten bei sich zu Hause aufnahm, er wollte sie wirklich bilden, prägen. Also der Alltag war von Bildung erfüllt.

Melanchthon erkennt sehr früh die Defizite des damaligen „Bildungssystems“. Es fehlt überall an Schulen, viele Lehrer sind miserabel ausgebildet, Lehrbücher gibt es kaum. Im Anschluss an seine Reisen durch Kursachsen entwickelt er eine neue Schulstruktur mit Grund-, Mittel und Oberstufe, die für alle zugänglich sein soll. Er verfasst Schulordnungen, Lehrpläne, Lehrbücher und Grammatiken. Mit klugen Gutachten fördert er Reformen der Universitäten Heidelberg, Tübingen, Frankfurt an der Oder, Leipzig und Rostock. Und Melanchthon sorgt für eine neue Generation gutausgebildeter und motivierter Lehrer.

Dabei konnte Melanchthon natürlich auf sein eigenes Netzwerk an Studenten zurückgreifen, denn die, die bei ihm studiert hatten, hatten natürlich die besten Chancen als Lehrer, als Universitätsdozent, als Kantor unterzukommen.

Melanchthons Ruf reicht über die Grenzen von Fürstentümern hinaus. Die von ihm verfassten Lehrbücher sind bald auch in Schweden, Frankreich, England, Italien, Spanien, Ungarn und Polen gefragt. Vergeblich versuchen europäische Universitäten, den „Lehrer Deutschlands“, wie man ihn jetzt respektvoll nennt, aus Wittenberg abzuwerben. Der Bildungsreformer und Vorkämpfer solider Allgemeinbildung bleibt in dem ihm anfangs so fremden Städtchen an der Mittleren Elbe und entwickelt sich hier zu einem der einflussreichsten Reformatoren, gleichberechtigt neben Luther.

Melanchthon kritisiert schon früh die geldgierige Papstkirche mit ihrem Allmachtanspruch und lehnt Ablasshandel, Ämterschacher und die oft verschwenderische Hofhaltung hoher geistlicher Herren ab. Er fordert, zur Heiligen Schrift „als der alleinigen Quelle christlicher Werte“ zurückzukehren. Besonders tief bewegt ihn Luthers reformatorischer Kerngedanke, die sogenannte Rechtfertigungsbotschaft. Sie besagt, dass der sündige Mensch sich vor Gott nicht durch Ablass und andere Werke rechtfertigen müsse, dafür habe sich Christus geopfert. Diese Botschaft greift tief in das Lebensgefühl der Menschen ein, sie nimmt ihnen die quälende Angst vor einem strafenden Gott, vor Tod, Hölle und Fegefeuer.

Sola scriptura - Die Heilige Schrift als einzig gültige Quelle christlicher Werte

Das ist eine Befreiungsbotschaft aus einem verengten Gottesbild. Die Menschen damals bekommen einen strengen Gott gepredigt, einen Richter, der die Taten der Menschen unerbittlich beurteilt. Und Luther befreit die Menschen aus dieser Verengung, indem er ihnen zeigt, dass Gott ist nicht nur der strenge Richter, sondern vor allem der liebende Vater. Damit befreit er die Menschen von ihrer Angst vor der Hölle, eine Botschaft, die Melanchthon teilt.



Zitate aus: Marianne Thoms: Der Reformator Philipp Melanchthon. Klein von Gestalt, groß im Geist, SRW2-Wissen, Sendung vom 19.04.2018

Donnerstag, 6. August 2020

Konrad Liessmann und die Veränderung des Menschen durch Bildung (Teil 2)


Fortsetzung vom 30. Juli 2020

Es ist eine zentrale These moderner Bildungstheorien, dass sich Menschen und Gesellschaften durch Bildung verändern lassen. Mit dieser Ansicht setzt sich Konrad Liessmann in seinem Beitrag für die Reihe Wissen des SWR 2 kritisch auseinander, denn vielen gilt Bildung immer noch als jenes Instrumentarium, mit dem nicht nur die Menschen einen hochwertigen Arbeitsplatz und ihr individuelles Glück finden, sondern mit dem auch die drängenden sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gelöst werden können.

Liessmann differenziert die Idee der "Selbstveränderung durch Bildung" nach den drei Bedeutungsebenen des Begriffes „Selbstveränderung“. Nach den ersten beiden Ebenen - Selbstveränderung als Selbstbildungsautonomie und Selbstveränderung als Selbstverwirklichung - geht es abschließend um das Verständnis von Selbstveränderung als eine bestimmte Form der Lebens-veränderung:

Drittens: Ich muss nicht nur mich oder mein Selbst, ich muss mein ganzes Leben ändern. Bildung als radikaler Einschnitt, Bildung als Zäsur in einer Biografie.“

Geht es allerdings darum, nicht nur sein Selbst, sondern sein Leben überhaupt zu ändern, setzt dies einerseits Kriterien voraus, an denen man das Ungenügen des Lebens messen oder erfahren kann, andererseits kann es aber nur eine bestimmte Form der Lebensveränderung sein, die ausgerechnet durch Bildung ermöglicht werden soll.

Sehr oft werden Lebensveränderungen ja durch andere Umstände bewirkt, etwa durch einen Orts-, Partner- oder Berufswechsel. Redewendungen wie „Es ist Zeit, sich zu verändern“ oder „Man sollte sich man wieder neu erfinden“ markieren weniger die Sehnsucht danach, sein Leben radikal gerade durch Bildung umzustellen, als vielmehr den Wunsch, einmal ein anderes Lebenskonzept auszuprobieren. Liessmann nennt dies das Rilke-Sloterdijksche Anforderungsprofil.

In Rainer Maria Rilkes berühmten Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ hat der Betrachter einer kopflosen antiken Statue plötzlich das Gefühl, von diesem Kunstwerk selbst betrachtet zu werden: "... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht". Der Betrachter fühlt sich plötzlich des Ungenügens seiner Existenz schlagartig überführt und weiß nun: „Du musst dein Leben ändern.“

"Du musst Dein Leben ändern!"

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat diesen Vers – Du musst dein Leben ändern – zu Titel und Programm eines umfangreichen Buches gemacht. Dieses rilke-sloterdijksche Modell der radikalen Lebensänderung geht also von einer markanten ästhetischen Bildungserfahrung aus: Das Kunstwerk hilft uns, uns zu erkennen und zu verändern.

Solche Bildungserfahrungen sind gleichwohl nicht planbar oder gar in eine Didaktik zu überführen: Die Lektüre dieses Rilke-Gedichts in der Sekundarstufe eines Gymnasiums wird wahrscheinlich weniger zu eminenten Ansprüchen an Selbstveränderung als vielmehr zu Klagen über die vermeintliche ökonomische Nutzlosigkeit und Lebensferne von Gedichten führen.

Aber immerhin: Es ist dieses Konzept, das noch am ehesten einen Widerspruch zwischen individueller Bildung und gesellschaftlicher oder politischer Macht aufbrechen lassen könnte. Denn es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Mensch durch die Lektüre eines Gedichts oder durch den Besuch eines Museums beschließt, mit den Normen und Vorgaben zum Beispiel einer effizienzorientierten Wettbewerbsgesellschaft oder einer medial inszenierten Spaßkultur zu brechen.

Dass es ein Gedicht ist und zwar von Rainer Maria Rilke, das diesen Impuls zur Veränderung setzt, ist aber alles andere als zufällig. Darin drückt sich jener Bildungsanspruch aus, der eben keine beliebigen Gegenstände, an denen sich vielleicht Kompetenzen erwerben und erproben ließen, kennt, sondern ein ästhetisches Ereignis ersten Ranges postuliert, das allein diesen Veränderungsimperativ „Du musst dein Leben ändern“ aussprechen darf.

Existentielle Bildungserfahrungen lassen sich nicht an beliebigen, sondern nur an exzeptionellen Objekten machen. An misslungenen oder drittklassigen Kunstwerken kann wohl die Urteilskraft geschult werden, aber die tiefe Berührung, aus der die Kraft zu einer Lebensveränderung entspringen kann, bleibt wohl jenen Werken vorbehalten, deren ästhetische Qualität uns eine Ahnung von den tiefen Dimensionen des Menschseins zu geben vermag. Sofern Bildung ästhetische Bildung ist, werden die vielzitierten Bildungserlebnisse um solche Begegnungen und Konfrontationen kreisen, so Liessmann.

Nur ästhetische Qualität vermag uns eine Ahnung von den
tiefen Dimensionen des Menschseins zu geben.

Diese durchaus umstrittene Form einer krisenhaften Bildungserfahrung, die als reflexive Kritik an bestehenden Lebenskonfigurationen in Erscheinung tritt, gehorcht letztlich der Einsicht, dass Bildung etwas Kompliziertes und nur für wenige Erreichbares sei, und dass Bildung letztlich einsam mache: Nur ich ändere mein Leben, auch wenn Rilke zu all seinen Lesern spricht. Solche ästhetischen Bildungserfahrungen lassen sich weder verallgemeinern noch in einen engen Kompetenzraster zwängen, schon gar nicht standardisieren oder curricular regeln. Sie bleiben jenen vielleicht sogar schicksalhaften Zufälligkeiten überantwortet, die sich jeder Form von Bildungsplanung, Überprüfung, Kontrolle und Evaluation entziehen.

Sein Leben zu ändern ist kein Output, den Bildungsprogramme, wie wohl-meinend gedacht auch immer, versprechen könnten. Dass solches trotzdem immer wieder versucht wird, gehört zu den unfreiwillig komischen Seiten institutionalisierter Bildungsanstrengungen.

Liessmann geht allerdings noch einen Schritt weiter in seinem Gedankengang: Es gehört zu den Topoi der Selbstbeschreibung der Moderne, dass moderne Gesellschaften ohnehin nur im Modus der Veränderung existieren können. Lässt sich also nicht nur der Einzelne, sondern sogar ganze Gesellschaften durch Bildung verändern?

Die These, dass die Menschheit im Zeitalter der Beschleunigung lebt, ist eine Selbstverständlichkeit geworden, dass die Welt in wenigen Jahren eine ganz andere sein wird als heute, scheint vielen gewiss zu sein. Die Dynamik dieser Veränderung resultiert aber schon lange nicht mehr aus sozialen Spannungen und daraus abgeleiteten politischen und sozialen Revolutionen, die auch durch Bildung verstanden als Aufklärung initiiert oder motiviert sein können, sondern diese Veränderungen entstehen aus technologischen Innovationen und den damit verbundenen technischen Revolutionen. Der vielzitierte Prozess der Digitalisierung aller Lebensbereiche ist dafür nur das aktuellste Beispiel. Ob damit allerdings der Bildung gedient ist, ist ziemlich fraglich.

Digitalisierung aller Lebensbereiche - Das Ende der Bildung?

Die Frage, ob Bildung etwas zur Veränderung von Gesellschaften beitragen kann, geht allerdings in einem weiteren Sinn von der Vorstellung aus, dass gebildete Menschen weniger anfällig für jene Vorurteile, Stereotype, Ängste und Aggressionen sind, die unserer gegenwärtig Gesellschaft so zu schaffen machen. So ist etwa der Gedanke, dass demokratische Gesellschaften nur mit gebildeten Bürgern funktionieren können, weit verbreitet. Gegen Fremden-feindlichkeit, Rechtspopulismus und totalitäre Versuchungen aller Art soll Bildung wie eine Schutzimpfung wirken, die nicht früh genug verabreicht werden kann. Auch wenn dies der historischen Erfahrung widerspricht, gehört der Glaube an Bildung als eine gesellschaftspolitische Hygienemaßnahme zum Arsenal unserer aufklärerischen Bildungslegitimationen.

In elaborierter Form hat dies etwa die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum vorgeführt und vor allem in der musischen Bildung, in der Auseinandersetzung und Produktion mit und von Literatur und Musik jene Voraus-setzungen gesehen, die zu toleranten, verständnisvollen und partizipierenden Akteuren einer demokratischen Gesellschaft führen sollen.

Hinter diesem Konzept verbirgt sich ein bildungspolitischer Imperativ, der gegen alle Formen der Anpassung, Qualifikation und bloßen Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat und von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen kann. Bildung erscheint hier als Anspruch, der die Herrschaftsverhältnisse, denen sie gleichwohl unterliegt, konterkariert. Das Postulat, Gesellschaften durch diese Form von Bildung zu verändern, unterstellt, dass diese Gesellschaften durch inhumane oder ungerechte Verhältnisse charakterisiert sind, die dennoch in ihrer Mitte, das heißt an ihren Schulen und Universitäten, die Möglichkeiten zu ihrer eigenen Kritik, vielleicht sogar Beseitigung bereitstellen sollten.

Liessmann fordert daher, dass Augenmerk auf jenen Diskurs zu legen, der die verändernde Kraft von Bildung weniger in einer sozialen und politischen Veränderung des Gemeinwesens, als vielmehr in der Auseinandersetzung mit den neuen gesellschaftsverändernden Technologien sieht. Diese Technologien und die damit verbundenen Versprechungen haben ja mittlerweile das mutige soziale Denken mehr oder weniger aufgezehrt. 

Gegenüber den modernen Verheißungen der Technik hinkt Bildung entweder nach – wenn etwa davon die Rede ist, dass die Umwandlung der Arbeitswelt in Richtung "Industrie 4.0", Digitalisierung und Automatisierung zu einer permanenten Selbstschulung in Sachen digitaler Kompetenz zwingen werde; oder die Bildung soll als kritisches Korrektiv fungieren – wenn etwa Sensibilisierungsprogramme für den Umgang mit sozialen Medien, Fake-News, Big Data, Suchalgorithmen und Selbstoptimierungstechnologien als neue Bildungsziele formuliert werden.

Wirklich gesellschaftsverändernde Potenziale schreibt diesen Bildungs-programmen allerdings kaum noch jemand zu, auch wenn manchmal der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, dass bestimmte Formen von Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexivität zu einem geänderten Verhalten führen könnten, das imstande sein konnte, die Macht der Internet-Konzerne in die Schranken zu weisen.

Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexivität

Ob also Bildung ein Selbstveränderungspotenzial in Hinblick auf Individuen oder Gesellschaft zugesprochen werden kann, hängt also letztlich vom Mut ab, Bildung inhaltlich und normativ zu bestimmen. Solange Bildung nur formal als Durchlaufen von Zertifizierungsstellen oder Sammeln von Leistungspunkten definiert oder auf den Erwerb von Kompetenzen und zeitgemäßen Kultur-techniken reduziert wird, erwächst aus diesen Bestimmungen weder eine notwendige noch eine mögliche Kraft zur Veränderung.

Allenfalls, so Liessmann, kann höchstens der Zufall dafür sorgen, dass jemand, der an beliebigen Texten eine veritable Lesekompetenz erworben hat, auch ein Buch entdeckt, das sein Leben verändert. In der Idee der Kompetenz steckt dieses Veränderungspotenzial nicht; wohl aber in der Idee, dass Menschen mit dem Anspruch auf Bildung bestimmte Bücher lesen können sollten, weil diese aufgrund ihrer Qualität, Bedeutung, Schönheit oder Widerständigkeit die Möglichkeit in sich tragen, einem Leben ganz andere Perspektiven zu eröffnen.

Zitate aus: Konrad Liessmann: Veränderung durch Bildung? Über eine rhetorische Figur, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 10. Februar 2019