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Donnerstag, 28. Dezember 2023

Marlon Grohn und das freie Denken

"Glückliche Zeiten. Man verstand noch zu lesen. Man konnte noch laut nach-denken. All das scheint endgültig vorbei zu sein." 

Dieser Satz stammt aus dem Buch „Humanismus und Terror“ des französischen Denkers Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1947. Die glücklichen Zeiten, von denen Merleau-Ponty sprach, beziehen sich gleichwohl auf die 1930er Jahre!

Maurice Merleau-Ponty (1908 - 1961)

Dass ein Philosoph in der Mitte des 20. Jahrhunderts davon ausging, es hätte in den 30er Jahren bessere Bedingungen fürs laute Nachdenken bestanden, mag heute verwundern. Das Buch, in dem Merleau-Ponty die Sätze schrieb, und in dem er nebenbei einige alberne linke Meinungen zum Sowjet-Sozialismus korrigierte, hieß "Humanismus und Terror" und muss heute selbst als Paradebeispiel dieses lauten Nachdenkens gelten. Diese These zumindest vertritt Marlon Grohn in seinem Artikel “`Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet!´” 

Was das freie Denken angeht, so dürfte sich die Situation mittlerweile deutlich verschlechtert haben. Nicht zuletzt, weil die Kernfrage des Buches von Merleau-Ponty, “nämlich die des Verhältnisses von humanistischer Verbesserung des Staatswesens und der dafür eventuell erforderlichen Gewalt, (…) schließlich inzwischen von allen politischen Parteien und Richtungen lieber unreflektiert gelassen und auf ein Übermorgen verschoben [wird]."

Der Philosoph Jacob Taubes schlug in die gleiche Kerbe, als er 1967 in einer Rede vor deutschen Studenten erklärte, “`Mündig sein´ heiße, dass `jeder von uns den Mund aufmachen darf, ohne dass ihm gedroht wird´.” 200 Jahre nach der Aufklärung ließen sich überall Tendenzen zur Entmündigung einer mündigen Gesellschaft ablesen, auch wenn die mündig gewordene Jugend sich in “verzweifelten, manchmal grotesken Formen” dagegen wehren würde.

Und heute? Grohn behauptet, dass das “Nachdenken (…) zu einem bloß stillen geworden [ist], das höchstens noch in den Nischen geschlossener Chat-Gruppen oder Privatgesprächen vor sich hindümpelt. Man könnte sich damit zufriedengeben und die Philosophie eben als abgeschafft, das Ende der Geschichte der Vernunft als eingeläutet betrachten und Ruhe geben.” Nur: Kann das jemand wirklich wollen?

 

Interessant sei es in jedem Fall, dass sich zwei Philosophen in den Jahren 1947 und 1967 ganz ähnliche Gedanken äußern wie heutzutage Akademiker, die die Cancel Culture vehement kritisieren.

 

Für Grohn steht fest, dass in unserer Zeit das Nachdenken folgerichtig längst als Unsitte in Verruf geraten sei: “Wer laut nachdenken will, begibt sich damit auf eine Ebene mit Drogendealern, Bankräubern und Bankmanagern – und zwar über alle politischen Sphären und Parteien hinweg.

 

Denn lautes Nachdenken, eben weil es vernünftig und logisch ist, widerspricht dem Prinzip demokratisch ausgewogener Politik und zieht folgerichtig deren Zorn auf sich: `Die Logik lässt keinen Kompromiss zu. Das Wesen der Politik ist Kompromiss.´ (John Locke).”

 

Auch wenn lautes Nachdenken in den meisten gesellschaftlichen Bereichen noch nie sonderlich beliebt war, “ist doch beachtlich, dass es heute gerade in den intellektuellen Berufen und den Geisteswissenschaften, wo das Nachdenken doch Selbstverständlichkeit sein sollte, nur noch das Relikt einer vergangenen Zeit darstellt.

 

Wobei sich hier die grundsätzliche Frage stellt, ob das laute Nachdenken deshalb verschwunden ist, weil sich das Denken generell nicht mehr allzu großer Beliebtheit erfreut. Die Intellektuellen kämpfen sich heute philologisch betrachtend durch die Schriften der Denker anderer Zeiten, während sie selbst all ihre Kraft dafür aufbringen, bloß nichts Ähnliches mehr zustande zu bringen.”

 

Die bittere Wahrheit Grohn zufolge ist, dass das “Denken nicht nur in politisch interessierten Kreisen, sondern selbst von Leuten, denen eigentlich an einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und im Zuge dessen an Aufklärung qua lautem Nachdenken gelegen sein müsste, begafft [wird] wie ein Verkehrsunfall, dessen protokollierte Daten dann in den Hochschulen forensisch untersucht werden.”

 

Auf diese Weise aber würde “das Denken, der Diskurs, die Öffentlichkeit zunehmend notwendig auf ein Minimum von Floskeln und Nettigkeiten reduziert werden, damit sich bloß nichts ändert.”

 

Gegen die Kunst des sich entfaltenden Gedanken, gegen das laute Nachdenken manifestiert sich eine mediale Öffentlichkeit als globales Spektakel, “der das Verweilen bei Schein-Ereignissen wichtiger ist als begriffliche Einsicht in die Verhältnisse (…) In solchen Gesellschaften wird tatsächliche denkerische wie politische Aktivität durch Aktivismus ersetzt, indem mittels (…) fragmen-tarischem Gebrauch das Denken aus der großen Öffentlichkeit verschwindet.”

 

Leben im Empörium: Wenn das Verweilen bei Schein-Ereignissen wichtiger ist als begriffliche Einsicht in die Verhältnisse

Wenn man nur noch redet, "um sich gegenseitig Ohnmacht, Schmiegsamkeit und Harmlosigkeit zu bescheinigen ("Ich mein ja bloß, bin gleich wieder still"), wird das Schreiben schnell zum Akt bewusster Abwendung von der mit diesen Gräueln zugerichteten Öffentlichkeit.”

 

Grohn fragt, woher die nicht nur die Scheu vor dem lauten Nachdenken kommt, sondern auch die Angst der Verantwortungsträger, den Diskurs zu öffnen? “Es ist doch klar, dass jemand, der denken kann und denken will, dies gerne laut tun würde (…) Wer bloß `innerlich´ denkt, kreist nur im eigenen Hirn, denkt nicht in der Wirklichkeit.”

 

Nur “im Austausch mit anderen Denkenden, kann aus einem ungenauen Gedanken oder einer bloßen Ahnung ein fundierter Standpunkt werden (…) kann eine unüberlegte Äußerung korrigiert und zum vernünftigen Gedanken werden. Gerade aber das wird verhindert, wenn das laute Nachdenken eingestellt wird.”

 

Grohn zitiert den Schriftsteller und Journalisten Dietmar Dath, der sagt: "Schuld ist niemand an irgendetwas; jeder ist sich selbst das Nichts. Lebt und schreibt man in einer Gesellschaft, die sich so sieht, gibt es eigentlich kaum etwas zu sagen. Würde man aber in einer Gesellschaft leben, die nicht naturwüchsig, blind für sich selbst bleiben will, sondern geplant sein soll, ausgefochten, in der alles alle angeht, dann käme es sehr wohl darauf an, was die Leute denken, reden und schreiben."

 

Der erste Schritt hin zu einer solchen Gesellschaft wäre nach Grohn daher das “Erlernen des lauten Nachdenkens als einer selbstverständlichen Gewohnheit.”

 

Sapere aude!, oder: Das laute Nachdenken lernen!


Zitate aus: Marlon Grohn: "Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet", in: Telepolis vom 26. Dezember 2023, im Netz unter: https://www.telepolis.de/features/Vom-Denken-zum-Schweigen-Wie-die-Cancel-Culture-die-Philosophie-toetet-9582799.html?view=print – zuletzt aufgerufen am 28.12.2023.

 

 

Donnerstag, 3. März 2022

Frank Furedi und die verborgene Geschichte der Identitätspolitik (Teil 2)


Fortsetzung vom 24.02.2022

Auf den ersten Blick erscheint Identitätspolitik (engl. identity politics) sympathisch. Laut gängiger Definition hilft sie marginalisierten Gruppen, negative Fremdzu-schreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und ihnen eine positive Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Die Anliegen von Gruppen, z.B. Farbige, Homosexuelle oder Frauen, die sich diskriminiert fühlen, sollen für den Rest der Gesellschaft hörbar und sichtbar gemacht werden. Es geht darum, Anerkennung und Respekt für ihr spezifisches Anderssein einzufordern. 

Die in dem von Johannes Richardt herausgegebenen Sammelband „Die sortierte Gesellschaft“ versammelten Autoren sind jedoch skeptisch gegenüber dieser Auffassung. Der Sammelband ruckt die Schwächen des Konzepts in den Fokus, übt Kritik und bezieht klar Position gegen Identitätspolitik. 

Denn unabhängig von der persönlichen politischen Orientierung gibt es gute Gründe, ein Denken abzulehnen, „das kulturelle Fragen politisiert und gleichzeitig politische Fragen kulturalisiert. Ein Denken, das Menschen anhand gruppen-spezifischer Merkmale in Schubladen einsortiert und so nicht nur zwischen-menschliche Solidarität, sondern auch substanzielle politische Debatten erschwert.“

Frank Furedi gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die „verborgene Geschichte der Identitätspolitik“, deren Verlauf er in vier Phasen einteilt. 

Eine der folgenreichsten Entwicklungen in der Geschichte der Identitätspolitik, so Furedi, war ihr Verschmelzen mit der Strategie der Viktimisierung der eigenen Gruppe. So veränderte sich in den 1970er Jahren das Verständnis davon, wie man zum „Opfer“ wird (Viktimisierung). 

Die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo behauptet: Wer nicht Schwarz/PoC ist, ist unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt!"

Wurden anfänglich Menschen als Opfer beschrieben, wenn sie eine spezifische Erfahrung – zum Beispiel als Opfer von Gewalttaten - gemacht hatten, weitete sich in den 1970er Jahren das Verständnis der Viktimisierung auf kollektive Gruppenerfahrungen aus. Nun ging es nicht mehr um eine individuell erlittene Schädigung als Voraussetzung dafür, als Opfer angesehen zu werden. „Stattdessen wurde der Opfer-Status als integraler Bestandteil einer ungerechten Gesellschaft angesehen. Durch die Neudefinition und Ausweitung der Opfererfahrung erklärten verschiedene Gruppen den Status als Opfer der Gesellschaft zu einem Kern-bestandteil ihrer Identität.“

Die Auffassung, dass nahezu jeder außerhalb der herrschenden Elite ein potentielles Opfer ist, suggeriert, dass Viktimisierung nicht eine Ausnahme, sondern die Regel in der existentiellen Realität unserer Gesellschaften darstellt. „Ein alles durchdringendes Gefühl von Viktimisierung bildet wohl die bedeutendste kulturelle Hinterlassenschaft dieser Ära.“ 

Interessanterweise wurde die „Autorität des Opfers“ und der „Legitimität des Opferstatus“ gleichermaßen von Aktivisten des rechten und des linken Spektrums verteidigt. "Die Opferrolle wurde so zur wichtigen kulturelle Quelle für Identitätskonstruktion. Zeitweise schien es, als wolle jeder das Opfer-Label für sich beanspruchen. Konkurrierende Opferrollen führten schnell zu Versuchen, Opfer zu hierarchisieren.“

Die Darstellung des Opfers als schuldlos – der Beginn der letzten Phase der Geschichte der Identitätspolitik - war die Schlüsselinnovation bei der Konstruktion der Opferrolle ab den 70er Jahren. „Die Wahrnehmung des `schuldlosen Opfers´ stattete selbsternannte Opfer mit moralischer Autorität aus. In der Folge wurde die Opferidentität beinahe zur heiligen Kuh.“

„Opfer“ wurde zunehmend als moralischer Begriff verwendet. „Ein Opfer zu sein impliziert einen gewissen Grad an Unschuld und Schuldlosigkeit, wodurch das Opfer nicht für sein Schicksal verantwortlich gemacht werden kann“ und „Fürsprecher der Opferkultur behaupteten nicht nur, dass Opfer keine Verantwortung trügen, sondern auch, dass ihnen geglaubt werden müsse.“

Die Wahrnehmung des `schuldlosen Opfers´
stattete selbsternannte Opfer mit moralischer Autorität aus.

„In den letzten Jahrzehnten wurde das Dogma „Glaubt dem Opfer“ derart institutionalisiert, dass - gegen jede liberale und aufklärerische Rechtstradition – die eines Verbrechens Beschuldigten solange als schuldig gelten, bis sie ihre Unschuld bewiesen haben. So gehe es heutzutage eher darum, vor Gericht festzustellen, ob das „Opfer“ sich viktimisiert fühlt und nicht darum, ob eine tatsächliche Handlungsabsicht des Beschuldigten vorliegt.

All dies führt zu einer bis heute wirkmächtigen psychologischen Wende in der Identitätspolitik. „Opferschaft hat die Identitätspolitik mit moralischer Autorität versehen. (…) Die Behauptung von der Schuldlosigkeit der Opfer sollte nun verhindern, dass die Realitätssicht einer bestimmten Identitätsgruppe hinterfragt oder diskutiert wird.“

In dieser Sichtweise verleiht Identität das Patent darauf, sich exklusiv zu Angelegenheiten äußern zu dürfen, die eine bestimmte – meist die eigene - Kultur betreffen. So können auch nur diejenigen, die sich einer Kultur zugehörig fühlen, diese überhaupt verstehen. 

So haben sich mittlerweile auf Kultur und Identität bezogene Grenzen verfestigt und „werden nun intensiv kontrolliert. Wer das Monopol der kulturellen Ingenieure über das Verständnis ihrer Identität in Frage zu stellen droht, stößt oft auf ein „Zutritt verboten“-Schild. Wer es trotzdem wagt, in einen abgegrenzten kulturellen Raum einzudringen, wird der ausbeuterischen kulturellen Aneignung (cultural appropiation) bezichtigt.“

Und vor allem: „Das Dem-Opfer-glauben-Dogma wurde zum Argument recycelt, um Diskussionen zu jeglichen Themen zu unterbinden, die Identitätsbewegte als anstößig empfinden. Von deren Standpunkt aus ist jede Kritik an identitäts-politischen Anliegen ein Kulturverbrechen (…) Das Ergebnis ist Zensur und Illiberalität. Deshalb ist es in der Gesellschaft, und vor allem an Universitäten, oft unmöglich, bestimmte Themen zu debattieren.“

Die zeitgenössischen Formen der Identitätspolitik verwenden Furedi zufolge viel Energie darauf, Anerkennung und Respekt einzufordern. Die Tendenz zur Fragmentierung und Individualisierung ist zugleich eines der wichtigsten Merkmale der aktuellen Identitätspolitik. „Ein deutlicher Trend geht dahin, dass Identitätsgruppen ausufern und sich separieren. Überdies will jeder ein Stück vom Kuchen abhaben. Seit die Kontroverse über Cultural Appropriation hochkochte, beanspruchen alle möglichen Akteure ein Patent auf ihre Kultur. Gruppen, die bisher am Rande der Kulturpolitisierung gestanden haben, über- nehmen aktuell Sprache und Praktiken der Identitätspolitik.“

"Ein deutlicher Trend geht dahin,
dass Identitätsgruppen ausufern und sich separieren"

Die Forderung nach „Safe Spaces“ breitet sich aus und erfasst auch solche Bereiche, die früher als Hort kritischen Denkens galten. Eine allgemeine zwischen-menschliche Solidarität wird damit zum Opfer der heutigen Identitätspolitik. „Sobald sich verschiedene Gruppen in ihre `Safe Spaces´ zurückgezogen haben, bleibt kaum noch Platz für diejenigen, die sich der Politik der Solidarität und dem Ideal des Universalismus verschrieben haben.


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018

Donnerstag, 24. Februar 2022

Frank Furedi und die verborgene Geschichte der Identitätspolitik (Teil 1)


Auf den ersten Blick erscheint Identitätspolitik (engl. identity politics) sympathisch. Laut gängiger Definition hilft sie marginalisierten Gruppen, negative Fremdzu-schreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und ihnen eine positive Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Die Anliegen von Gruppen, z.B. Farbige, Homosexuelle oder Frauen, die sich diskriminiert fühlen, sollen für den Rest der Gesellschaft hörbar und sichtbar gemacht werden. Es geht darum, Anerkennung und Respekt für ihr spezifisches Anderssein einzufordern. 

Die in dem von Johannes Richardt herausgegebenen Sammelband „Die sortierte Gesellschaft“ versammelten Autoren sind jedoch skeptisch gegenüber dieser Auffassung. Der Sammelband ruckt die Schwächen des Konzepts in den Fokus, übt Kritik und bezieht klar Position gegen Identitätspolitik. 

"Die sortierte Gesellschaft" (2018)

Denn unabhängig von der persönlichen politischen Orientierung gibt es gute Gründe, ein Denken abzulehnen, „das kulturelle Fragen politisiert und gleichzeitig politische Fragen kulturalisiert. Ein Denken, das Menschen anhand gruppen-spezifischer Merkmale in Schubladen einsortiert und so nicht nur zwischen-menschliche Solidarität, sondern auch substanzielle politische Debatten erschwert.“

Frank Furedi gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die „verborgene Geschichte der Identitätspolitik“, deren Verlauf er in vier Phasen einteilt. 

Im späten 18. Jahrhundert beginnt die erste Phase der Identitätspolitik. „In dieser Zeit bezog die Politisierung der Identität ihre Kraft aus der konservativen Reaktion gegen den Universalismus der Aufklärung. Diese Gegenaufklärung verdammte die Idee menschlicher Universalität und behauptete, nur die Identität bestimmter Völker oder Gruppen sei von Bedeutung.“

In Deutschland, allen voran der Philosoph Johann Gottfried Herder (1744–1803), sprach die konservative Bewegung der Romantik den kulturellen Unterschieden eine wesentlich größere Authentizität zu als den abstrakten Bindungen des Universalismus. Herder fing den partikularistischen Geist der neuen romantischen Verehrung kultureller Identität ein, denn ihm zufolge würde jedes Volk durch seine Kultur definiert. So habe auch jedes Volk folglich seine individuelle Identität und einen „eigenen Geist“.

In Frankreich bezeichnete Joseph de Maistre, ein reaktionärer Politikphilosoph, die Ideale der Menschenrechte als „abstrakten Unsinn“, denn „den Menschen an sich“, so behauptete er, gebe es schlicht nicht: „Ich habe Franzosen, Italiener und Russen kennengelernt, aber was den Menschen betrifft, dem bin ich nie begegnet.“

Während die Romantik auf besonders erhabene Verschiedenheiten von Identität rekurriert und die identitären Merkmale feierte, die mit dem vermeintlich einzigartigen Geist der unterschiedlichen Völker verbunden wurden, inspirierte die diese Auffassung im 19. Jahrhundert den Nationalismus. In seiner berühmten Rede „Was ist eine Nation?“ beschrieb Ernest Renan „Nation“ als „eine Seele, ein spirituelles Prinzip“.

"Man schließt sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein, man begrenzt sich. Man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts ist schlimmer für die Zivilisation." (E. Renan)

Die Menschen, die sich der Tradition der Aufklärung und dem kritischen Denken verpflichtet fühlten, widersprachen den Ideen, nach denen, „durch Biologie und die natürliche Ordnung von Geburt an bestimmt ist, wer man ist.“ Vielmehr würden sich die Menschen selbst zu dem machen, was sie sind. Auf diese Weise aber entwickelte die Aufklärung ein universelles Bewusstsein, das das Erleben einzelner Individuen, aber auch einzelner Gruppe überstieg. 

Im Nationalsozialismus nahm die Vergötterung der Identitätspolitik in der Verbindung aus Nationalismus und Rassismus eine der extremsten Formen an. Nach dem 2. Weltkrieg war die Indentitätspolitik daher zunächst diskreditiert und es dauerte einige Jahrzehnte, bis sie allmählich wiederbelebt wurde.

Nach Meinung Furedis beginnt die zweite Phase der Geschichte der Identitäts-politik, als in den 60er Jahren in den USA Teile der Bürgerrechtsbewegung zu dem Schluss kamen, „dass der richtige Weg in der Politisierung einer schwarzen Identität läge. Andere Gruppen und Minderheiten wählten ähnliche Vorgehensweisen, um neue Rechte zu gewinnen. Um die Rechte und Freiheiten zu erlangen, die ihnen bislang verwehrt blieben, konzentrierten sich Bewegungen (…) deshalb auf spezifische Alleinstellungsmerkmale“ der eigenen Gruppe.

Nicht zuletzt die kulturellen Konflikte über Lebensstile und Werte, die in den 1960er Jahren losbrachen und in den 1970er Jahren an Fahrt gewannen, förderten die „Logik einer Gegenkultur, wonach alles Persönliche politisch sei. (…) Obwohl sich radikaler Befreiungsrhetorik bedient wurde, war die Hinwendung zur Identitätspolitik im Kern konservativer Natur. Eine Empfindsamkeit, die das Besondere zelebrierte und dem Streben nach universellen Werten mit Misstrauen begegnete. Die Politik der Identität konzentrierte sich auf das Bewusstsein des Selbst und seine Wahrnehmung. 

"Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“

Identitätspolitik war und ist die Politik des `Alles dreht sich um mich´.“ Diese neue Sensibilität fand unübersehbaren Ausdruck in dem Begriff des „Cultural Turn“. „Das augenfälligste Merkmal des Cultural Turn war die Sakralisierung der Identität. Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität.“

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018

Dienstag, 14. Juli 2020

Winckelmann und die Nachahmung der Alten

Im Jahre 1764, also ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, legte Johann Joachim Winckelmann seine zweibändige Geschichte der Kunst des Alterthums vor, mit der Winckelmann einen geradezu revolutionären Anspruch erhob, indem er die Epochen der Kunstgeschichte auf eine Weise darstellte, die wissenschaftlich, literarisch und künstlerisch wiederum Epoche machte.


Johann Joachim Winckelmann (1717 - 1768)

Alberico Archinto, der päpstliche Botschafter in Sachsen und Polen, hatte Winckelmanns Fähigkeiten erkannt und ihm um 1750 eine Karriere in Rom in Aussicht gestellt. Im Juni 1754 konvertierte der Gelehrte zum Katholizismus, um seine Chancen am päpstlichen Hof zu erhöhen. Für Unterstützung in Dresden widmete er 1755 seine schnell berühmt gewordenen Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst dem sächsischen Kurprinzen. Im selben Jahr reiste Winckelmann mit einem Stipendium in den Süden. Am 19. November traf er in Rom ein und fasste dort im Spätsommer des folgenden Jahres den Plan zu seiner Kunstgeschichte. 

Ab 1759 arbeitete Winckelmann – als Antiquar und Bibliothekar im Dienst des Kardinals Alessandro Albani – an seinem Werk, das die antike Kunst in völlig neuem Licht erscheinen ließ. 1761 lag der Text bei der Dresdener Hofbuchhandlung; die Wirren des Siebenjährigen Kriegs verzögerten das Erscheinen. Im Frühjahr 1763 wurde Winckelmann zum Oberaufseher aller Altertümer in und um Rom  sowie zum Scriptor linguae teutonicaeernannt, der die deutschsprachigen Manuskripte der vatikanischen Bibliothek betreute. 


Kurz vor Weihnachten 1763 kam die Geschichte der Kunst des Alterthums dann in zwei Bänden auf den Markt. Der Erfolg war spektakulär. Winckelmann nutzt in seinem Werk „Kunst“ als Seismograph für die Entwicklung von Zivilisationen. Winckelmann konzentrierte sich in seiner Darstellung auf bildende Kunst, indem er ein bis in seine Zeit ein striktes Gefälle konstruierte, in denen Zyklen der Dekadenz aufeinanderfolgen. 

Bei Winckelmann allerdings spielen einzelne Künstler allenfalls eine untergeordnete Rolle als Befehlsempfänger ihres Zeitalters oder als Diener des Schönen. Seine Geschichte erzählte von abstrakten überpersönlichen Größen wie „der Kunst“ und „ihrer Zeit“ und von der Evolution der Plastik und der Malerei sowie ihrer Stile, die sich nach eigenen Gesetzen konstituierten und keine Rücksicht auf die Intentionen von Menschen nahmen.

Winckelmann interessierte sich also nicht für die Lebensgeschichten von Künstlern, sondern er untersuchte, wie die Kunst ihr „Wesen“ historisch zum Ausdruck brachte. Er konzentrierte sich auf Epochenkräfte und erhob damit einen radikalen wissenschaftlichen Innovationsanspruch, der eigentümlich quer stand zu der ebenso radikalen Idealisierung der Vergangenheit, die er in seinen "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke der Malerei und Bildhauerkunst (1755) in eine berühmte Formulierung gefasst hatte: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […].“


Apollo von Belvedere

 „Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.“ 


Warum aber suchte sich Winckelmann ausgerechnet eine Region heraus, die er nie angeschaut hat, um Anschauung als wissenschaftliche Notwendigkeit zu verkünden? Steffen Martus zufolge folgte Winckelmanns Gräkomanie dem aufklärerischen Faible für Anfänge. Er konnte der griechischen Kultur eine bestimmte Form der Ursprünglichkeit unterstellen. Obwohl Winckelmann in vielen Aspekten Vorgänger hatte, frönte er auch wissenschaftstheoretisch der Lust am Anfang, weil die griechischen Studien um 1740 in Deutschland nicht besonders hoch im Kurs standen, wenig Widerstand boten, relativ exklusiv waren und damit Raum für akademische Innovationen boten.

Winckelmann spiegelte den Stil einer Kunst im Gesamtstil einer Zeit und ihrer natürlichen Umgebung. Bei ihm korrespondierte die „Lage der Länder“ mit der „Witterung“, der „Nahrung“, der Flora und Fauna eines Landstrichs, mit der körperlichen „Bildung der Einwohner“, ihrer „Denkungs-Art“, ihrem „Character“, ihrer „Sprache“ und ihren „Mundarten“, mit „Erziehung“, „Gottesdienst, Regierungsform und Lebensart“. In dieses komplexe Ensemble bettete Winckelmann die Kunst ein.

Damit zeigte er, wie verhältnismäßig menschliche Kreativität war und dass schöpferische Ideen in Lebensbezügen und -vollzügen entstanden. Dies galt für die Antike genauso wie für die Gegenwart Winckelmanns: „Die äußeren Umstände wirken nicht weniger in uns, als die Luft, die uns umgibt, und die Gewohnheit hat so viel Macht über uns, daß sie so gar den Körper und die Sinne selbst, von der Natur in uns geschaffen, auf eine besondere Art bildet; wie unter andern ein an Französische Music gewöhnte Ohr beweiset, welches durch die zärtlichste Italienische Music nicht gerühret wird.“ Unter diesen Vorzeichen gab Winckelmann der Faszinationsgeschichte der Antike eine neue Wendung und begründete den deutschen Klassizismus.

Eine besondere Rolle spielte für Winckelmann das Klima. Umweltbedingungen wirken auf jedes Ding und jedes Lebewesen, beeinflussen jede Pflanze, jedes Tier und jeden Menschen, gleich welchen Standes. Winckelmann entzifferte die Züge, die das Klima in den Gestalten eines Landstrichs hinterlässt: In „wärmern Ländern“ sehen diese demnach anders aus als in „kalten“, weil die Haut sanfter und ihre Farbe blühender ist, weil die Züge des Gesichts besser proportioniert sind. 

Diese physiologischen Effekte betreffen sogar die Sprachklänge beziehungsweise die „Nerven der Zunge“, die sich unter milden Bedingungen vokalreicher, sanfter und musikalischer ausbilden. Sonnenschein und angenehme Temperaturen beeinflussen auch die Art des Denkens, machen es „feiner und schlauer“, malerischer und bildreicher, weil die Sinne „durch schnelle und empfindliche Nerven in ein feingewebtes Gehirn wirken“. Bei den Griechen handelte es sich um „zum Denken gewöhnte Menschen“, „die den Geist in seinem größten Feuer, von der Munterkeit des Körpers unterstützet, beschäftigten“.

Unter dem Einfluss des griechischen „Himmels“ entwickelte sich also eine ideale Kultur. Jene „edle Einfalt“ und „stille Größe“, die Winckelmann schon in seinen Gedancken über die Nachahmung als Leitparole des Klassizismus ausgegeben hatte, ging auf das „sanfte Gefühl der reinen Schönheit“ zurück, wie es sich allein unter den harmonischen Bedingungen dieser Region einstellen konnte.

Auf der einen Seite entstand so Kunst, die sich ganz auf ihr „Wesen“ besann; auf der anderen Seite zeigte Winckelmann auf, wie gerade diese in sich ruhende Kunst aus spezifischen Umweltbedingungen hervorging und sich damit in die Verhältnisse ihrer historischen Epoche verwickelte.


Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
in der Malerei und Bildhauerkunst (2. Auflage)

Winckelmann folgt auch in diesem Punkt der Aufklärung, die den Menschen als Gewohnheitstier kennengelernt hat. Die besondere Qualität der griechischen Lebensweise resultierte bei ihm aus der Vertrautheit mit bestimmten Formen des Sozialen, des Umgangs, der Sprache, des Denkens oder der Kunst, die durch natürliche Bedingungen, politische Umstände und erbliche Anlagen einfach da sind.

Winckelmann behauptete das gleich- und mittelmäßige Klima Griechenlands als zentrale Steuerungsinstanz. Daraus ergaben sich soziale und politische Konsequenzen: Der Blüte griechischer Kultur in Athen korrespondierte ein „Democratisches Regiment“, weil dort das „ganze Volk“ an der Politik partizipierte – man könnte sagen: weil dort ein bestimmtes politisches Klima herrschte, das die öffentlichen Belange zur Angelegenheit von jedermann machte und Politik und Kunst als zwei Seiten einer Epoche koppelte. Die Kräfte des Zeitalters wirkten auf die gesamte Kultur und Gesellschaft gleichmäßig ein.

Die „Freyheit“, so Winckelmann, sei die „vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst“. Er meinte damit, dass Anerkennung und Ehre nicht per Geburt vorsortiert wurden, sondern dass allen die Möglichkeit offenstand, „groß“ zu werden. Daher gab es auch für die Kunst sehr viel mehr Gelegenheiten, sich an politischer Größe zu bewähren und engagierte Bürger etwa durch Statuen zu „verewigen“.

Für diese Freiheit wurden die Griechen durch das herrschende Klima und die daraus resultierenden Vorlieben und Neigungen determiniert. Deswegen, so Winckelmann, erhielt sich die griechische Freiheit auch unabhängig von wechselnden Regierungsformen. Winckelmann verband „Freyheit“ also mit keinem bestimmten politischen System, etwa mit der Demokratie, auch wenn er die Blütephasen der Kunstgeschichte meist in Situationen politischer Liberalität platzierte, sondern er entwickelte am Leitfaden dieses Ideals vielmehr eine allgemeinere Form der politischen Anteilnahme, bei der die Zuständigkeiten nicht – wie in einer ständischen Gesellschaft – von vornherein relativ strikt verteilt waren, sondern die dazu führte, dass sich stets alle mitgemeint fühlten und sich politisch oder künstlerisch für relevant hielten.

Literatur: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Hamburg 2015

Donnerstag, 16. April 2020

Die Aufklärung und der Feder-Krieg


Hätte man früher bei dem Begriff „Soziales Netzwerk“ an die gute Hausgemeinschaft, die Nachbarn, Verwandte oder Freunde aus dem Sportverein gedacht, so denkt man heute ebenso selbstverständlich an Facebook, Twitter und Co.

Und während früher so manchem Mitglied eines sozialen Netzes die „üble Nachrede“ oder die „Gerüchteküche“ mitunter schwer zugesetzt hat, so gehört heutzutage der Shitstorm zu den unfreundlichen Begleiterscheinungen moderner Kommunikation. Hier lassen Menschen lautstark ihren Unmut über eine Person, Organisation oder eine Marke aus. Dabei werden die Grenzen des „guten Tons“ munter überschritten.

Ein Vorläufer dieser sich im öffentlichen Raum abspielenden und auf Häme und Hass beruhenden „Streitkultur“ waren die Flugschriften, die sich vor allem in der Epoche der Aufklärung großer Beliebtheit erfreuten.

Ein Beispiel aus Hamburg ist die Häme und Hetze um die  Satire Lob der Geldsucht des (1704) des zu Unrecht vergessenen Dichters Barthold Feind, für die die Bürgerschaft Hamburgs in Flugschriften die öffentliche Verbrennung forderte. Drei Jahre später, am 19. März 1707, wurde schließlich die Schandglocke geläutet, man hatte eine Schüssel mit glühenden Kohlen bereitgestellt, in die die Werke von Feind geworfen wurden. Am 18. August baumelte ein Porträt des Dichters in effigi am Galgen. Feind selbst kam ungeschoren davon, denn er stand im Dienst Schwedens und konnte daher nicht einfach belangt werden.

Hamburger Feder-Krieg um die Satire 
Lob der Geldsucht (1704) des Dichters Barthold Feind 

Flugschriften waren ein Reflex des kontroversen Meinungsklimas und der Verdichtung von Konflikten in den Städten der Frühen Neuzeit. Ihr „Einsatzgebiet“ war ursprünglich der Konfessionsstreit im Zuge der Reformation. Diese nahm bekanntlich mit dem Thesenanschlag ihren Ausgang, wobei die 95 Thesen Luthers - als Flugschriften gedruckt – sich mit bis dahin unbekannter  Geschwindigkeit über ganz Europa verbreiteten.

In den Städten kannte man dieses Medium zur Genüge. Wie auch immer sich die Parteien im Disput zwischen Rat und Bürgerschaft oder zwischen den verschiedenen Konfessionen oder manchmal auch zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb der eigenen Glaubensrichtung – man denke nur an das Gezeter zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus - gegeneinander positionierten, es gab eine Gemeinsamkeit: Alle Positionen wurden in unzähligen Schriften öffentlich thematisiert, diskutiert, verhandelt. 

Die Intensität der Konflikte bildete sich gleichsam im Gestöber der Flugschriften ab – einem Zeitgenossen erschien es, als flögen sie „wie Schneeflocken“ umher, ein anderer verglich sie mit Käfern und Schmeißfliegen.

Der „Feder-Krieg“ verlief unübersichtlich und mit unklaren Frontverläufen. Wer sich in bestimmter Weise positionierte, durfte gewiss nicht darauf rechnen, Recht zu behalten. Sicher war nur eins, nämlich dass eine Flugschrift eine oder auch mehrere kritische Antworten erhielt.

Der Germanist und Historiker Dirk Rose spricht – mit Blick auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Reichsstadt Hamburg in den Jahren 1680 bis 1720 – treffend  von einer „skandalösen Öffentlichkeit“.

Die Verfasser der Flugschriften stammten in der Regel aus dem gelehrten Milieu. Ihre Komödien, Satiren und Polemiken wurden jedoch nicht nur an eine erlauchte Leserschaft verkauft, sondern vielfach vorgelesen, abgeschrieben, auf den Straßen zitiert und referiert; ebenso wurden Lieder gedruckt und gesungen, Streitschriften in Kaffeehäusern und Gaststätten vorgetragen und diskutiert und natürlich wurden die Streitthemen auch in Predigten aufgegriffen. Und wer es ganz eilig hatte, konnte an bestimmten öffentlichen Orten Hamburgs wie der Börse eine handschriftliche Notiz hinterlassen. Hier standen „zwei Buden“ mit Tintenfass und Feder zur Verfügung.

In den Hamburger Kaffeehäusern wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf dem Tisch Kaffee und Tee ausgeschenkt und unter dem Tisch Flugschriften verteilt.

Aber nicht nur die Einwohner Hamburgs, sondern letztlich alle Menschen in größeren Städten kamen geradezu zwangsläufig mit dem Meinungsbetrieb in Kontakt. Flugschriften wurden in den gängigen Verkaufsstellen, etwa in Buchhandlungen, und von mobilen Händlern vertrieben, selbst in Kirchen wurden sie angeboten.

So war die städtische Bevölkerung insgesamt „Teilhaber eines Räsonnement-feldes“, in dem Schriftlichkeit und Mündlichkeit einander variantenreich befeuerten. Es war schier unmöglich zu ignorieren, dass um einen herum heftig gestritten wurde, trotz der Undurchsichtigkeit, Komplexität und Omnipräsenz der Konflikte. Die Flugschriften beförderten ein ziemlich „unruhiges“ Meinungsklima.

Der politischen Führung gelang es häufig nicht, den Flugschriftenverkehr zu kontrollieren. Verbote von Schriften beispielsweise in Hamburg waren zum Scheitern verurteilt, solange andernorts, etwa im damals dänischen Altona, fleißig gedruckt und nachgedruckt wurde.

Mehr noch: Durch die Zensur erhielt die inkriminierte Schrift oftmals erst recht Auftrieb. Es gelang jedoch der Obrigkeit ebenso wenig, sich einfach aus dem Schriftverkehr herauszuhalten. Das Vorgehen der „Behörden“ gegen die Flugschriften und ihre Verfasser wurden publik gemacht und an die Straßenwände geklebt. Gelegentlich sah sich die Obrigkeit sogar gezwungen, in den Flugschriftenaustausch einzusteigen oder über Dritte die eigene Position im Flugschriftenaustausch zu lancieren.

So entbrannte im ganzen Reich eine heiße Kontroverse um die Zeitschrift „Der Patriot“, vor allem aber in Hamburg, wo sie erschien. Manche befürchteten, dass die Flugschriften für und gegen die Zeitschrift „alle Civil-Ordnungen über den Hauffen werfen" würden. Allerdings wussten die meisten nicht, dass hinter dem geheimen Herausgebergremium die städtische Führungsspitze Hamburgs stand.

Die Zeitschrift „Der Patriot“

Man konnte nicht nicht kommunizieren. Zuweilen beklagte sich das Publikum über den publizistischen Krawall – so wie viele  heutzutage auch über die Art der Kommunikation in sozialen Netzwerken stöhnen.

Wenn man doch nur das Motto von Erasmus von Rotterdam beachten würde, der eine andere Form der Streitkultur anmahnte: „Mein Zweck ist, zu erinnern, und nicht zu schmähen: zu nützen, und nicht zu beleidigen: den Sitten der Menschen beiräthig [ein guter Ratgeber], und nicht nachtheilig zu sein.“



Literatur: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Hamburg 2015


Donnerstag, 11. Mai 2017

Martin Luther und die Gewissensfreiheit - Teil 2



Luther war durchaus ein Wegweiser der Aufklärung und der Bildung, insofern als er an der Mündigkeit des Menschen weit vor der Aufklärung interessiert war. Selbstverständlich war das souveräne „Subjekt“, das sich entschließt, sich seine Welt selbst zu erfinden, in der frühen Neuzeit überhaupt noch nicht denkbar. Das galt übrigens auch für alle anderen Humanisten und auch für die Renaissance-Philosophen.

So entstand Luthers Freiheitsforderung nicht aus unserer heutigen Vorstellung des „autonomen Individuums“ heraus, sondern aus der Idee, dass jeder Einzelne unmittelbar und unvertretbar vor Gott und seinem Gewissen stehe.

Martin Luther
Das ist rückblickend für die Geschichte der Aufklärung und der Erfindung des Bürgertums nicht unerheblich, dass Luther nicht in Ständen dachte, sondern den Gedanken vertrat, dass Gott alle an ihren spezifischen Ort beruft, auch in die Berufen. Die entscheidende Frage ist dann „Wo stellt Gott mich hin?“ und eben nicht „In welchem Stand bin ich geboren?“ Und das ist wiederum eine Idee, die später dann von den großen Aufklärern im 18.Jahrhundert aufgenommen werden, die dann sowas wie eine frühbürgerliche Ordnung vorprägen.

Das würde bedeuten: Auf dem Weg zum gebildeten, mündigen Bürger haben der katholische Mönch Martin Luther und der evangelische Philosoph Immanuel Kant dasselbe Ziel. Sie kommen nur von unterschiedlichen Ausgangspunkten: Auf der einen Seite steht Martin Luthers unvertretbare Gewissensverantwortung – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – auf der anderen Seite Immanuel Kants kategorischer Imperativ – „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Die Behauptung, Luther habe eine herausgehobene Position in der Bildungs- und in der Aufklärungsgeschichte, ist also durchaus zutreffend.

Ausgesprochen glücklich war der Umstand, dass Luther mit Melanchthon einen kongenialen Partner hatte, mit dem er sich hervorragend verstand. Es war Melanchthon, der dafür sorgte, dass humanistische Bildungsauffassungen mit in die Reformation Eingang gefunden haben.

Phillip Melanchthon
Aber was das Eigen-ständige Luthers war: Dass das alles auch das Volk erreichen sollte, das Evangelium fürs Volk, und dass das Volk gebildet sein soll! Was er mit hineingebracht hat in diese ganze Bildungsbewegung war etwas Nicht-Elitäres, etwas Emanzipatives. Man könnte sagen: Was die politische Freiheit für die Französische Revolution war, das ist die religiöse Freiheit für die Reformation.

Nicht unterschätzten darf man gleichwohl das Interesse der deutschen Fürsten, die sich nicht nur einfach „von Rom“ lossagen wollten – nicht zuletzt, um das Eigentum der Kirchen und Klöster an sich zu ziehen. Daher genoss Luther deren Schutz. Die Kritik an Luther wendet ein, dass er im Gegenzug die Religion an die Fürsten verpfändet. Aus dem mittelalterlichen Gegensatz von Staat und Kirche wird bei Luther nun die Staatskirche der Neuzeit. Luther ruft im Interesse der Fürsten zum Kreuzzug gegen die Bauern auf. Mit Demokratie hat Luther offensichtlich nichts am Hut.

Man muss allerdings unterscheiden zwischen der frühen Phase Luthers, wo er offen war gegenüber Widerstand und Widerspruch und dem späten Luther, der sehr desillusioniert und frustriert war. Am Anfang war die Reformation ja eine kirchliche Erneuerungsbewegung zurück zum „ursprünglichen Christentum“. Daraus entwickelte sich dann sowas wie eine Fürstenreformation, d.h. plötzlich ist die Obrigkeit im Spiel. Nun geht es um Ordnungsgefüge, um Macht und um innere Sicherheit.

Vielleicht darf man einfach nicht vergessen, dass Luther natürlich von seinem Weltbild her noch im Mittelalter verhaftet war.

Heute gibt es das Grundrecht auf Gewissensfreiheit. Sucht man bei Martin Luther und der Reformation nach Samenkörnern für die später heranreifende Aufklärung, dann kommt unweigerlich der Vorwurf, dass die politische Verwirklichung der Gewissensfreiheit und die daraus abgeleiteten Menschenrechte jahrhundertelang oft genug gegen die Kirchen durchgeboxt werden mussten! Gegen die katholische bis tief ins 20.Jahrhundert hinein; aber 1789 auch gegen die evangelisch-calvinistische und 1848 gegen die evangelisch-lutherische.

Die Idee der Menschenrechte
verdankt sich auch Impulsen der Reformation
Und dennoch verdankt sich die Idee der Menschenrechte Impulsen der Reformation. Oft kamen die Impulse von Minderheitenkirchen, von Vertriebenenkirchen, die dann in den Vereinigten Staaten oder sonst wo neu anfangen mussten, z.B. die Mennoniten und Waldenser. Die haben schon sehr früh verstanden, dass das eine Überlebensfrage wird, dass sie als Minderheiten anerkannt sind.

Hier liegt die Verbindung zu Luther und seiner besonderen Sicht des Menschen: Es gibt keinen Menschen, der vom Menschsein ausgeschlossen ist! Es gibt keine Eigenschaft, die den Menschen in besonderer Weise zu seinem Menschsein in voller Würde befähigt, sondern diese Würde trifft auf alle Menschen zu, in allen Formen, zu Beginn des Lebens, am Ende des Lebens.

Luther hatte ein sehr realistisches Verhältnis zum Menschen, weder will er etwas schönreden, noch etwas schlechtreden. Luther versteht den Menschen ganz realistisch als jemanden, der hin und her gerissen ist zwischen Gefühlen und seinem klugen Verstand, überwältigt von negativen Energien und der Bereitschaft, „ein netter Nachbar zu sein.“ Als Menschen haben wir ganz ambivalente Möglichkeiten: Zerstörerische und großartig schöpferische Möglichkeiten.

Luther als Wegbereiter der Gewissensfreiheit und bürgerlicher Freiheiten? Die ganze Reformation, „geht uns voraus“, meint Joachim Gauck.

Zitate aus: Andreas Malessa: Luther - Wegbereiter der Gewissensfreiheit?, SRW2 Wissen, Sendung  vom 16. März 2017