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Donnerstag, 11. April 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 7

Fortsetzung vom 04.04.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

"Die Identitätspolitik ist dabei das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.

In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.

Diese Dynamik lässt sich Lüders zufolge vor allem bei den Grünen beobachten. „Die Grünen mögen sich als `postmaterialistisch´ verstehen, tatsächlich aber gehören sie zu den Bessergestellten und Privilegierten. Ihren Wohlstand missverstehen sie offenbar als quasi gottgegeben, als Lohn des eigenen, im Grundsatz richtig geführten Lebens, auf den man fast schon einen Rechtsanspruch zu haben glaubt. Doch über Geld zu verfügen, beantwortet nicht die Sinnfrage, die sich dem Einzelnen wie auch jeder Gruppe stellt. (…)

Die Grünen - Von friedensbewegten Idealisten zu Panzer-Fans (Der Spiegel)

Das Bekenntnis zur »Ökologie« reicht dafür nicht aus. Auf gesellschaftlicher Ebene gehen der digitale Wandel, die Globalisierung, die fortschreitende Individualisierung der Arbeitswelt (Homeoffice) einher mit dem Bedeutungs-verlust traditioneller identitätsstiftender Bezugsrahmen, darunter etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine. Begriffe wie `Nation´ oder `Religion´ erzielen in höhergestellten sozialen Milieus kaum noch Bindungswirkung. Auch die klassische Familie aus Vater, Mutter, Kind ist nur noch bedingt Refugium; sie konkurriert mit gender- und queerorientierten Lebensformen.

Gehen aber Gewissheiten verloren, ist das Tattoo am Ende identitätsprägender als jede überlieferte Bindung, offenbart sich darin ebenso ein Höchstmaß an Freiheit wie auch ein Krisensymptom. Eine Gesellschaft ohne kollektives Ich, ohne verlässliche Erzählungen, ohne Mythen, läuft Gefahr sich zu verlieren. Konsumismus und Hedonismus sind lediglich Ersatzhandlungen, Lückenfüller.

Hier nun kommt die Moral ins Spiel, wenn auch keine ethisch fundierte, sondern eine subjektiv begründete. Die berühmte Liedzeile `Erst kommt das Fressen, dann die Moral´ aus Brechts Dreigroschenoper könnte richtiger kaum sein. Das Wissen darum ist lediglich in den Hintergrund gerückt im (noch) reichen Deutschland. Wer im Schatten des Wohlstands lebt, erst recht in ärmeren Teilen der Welt, wird dagegen lauthals mitsingen.

Den Grünen ist das bemerkenswerte Kunststück gelungen, den emotional ansprechenden Begriff `Moral´ politisch umfassend zu besetzen und damit ein Angebot zur Identifikation in einer postmodernen Gesellschaft anzubieten, die sich ihrer selbst längst nicht mehr sicher ist. Praktischerweise gibt es hier kein Copyright – jeder kann unter `Moral´ verstehen, was er mag, wie es gerade gefällt oder nützlich erscheint.

Moral ist massentauglich. Wird sie dann noch in einen größeren Zusammenhang überführt, jenen der `Werte´, wird aus dem von Race & Gender inspirierten Gutmenschen leichtfüßig ein Ideologe, der sich eingebettet weiß in einen größeren, ebenfalls heiligen Gral aus Freiheit und Demokratie. (…)

Wir sind die Guten! Das ist das Angebot der Grünen an die Gesellschaft wie auch an sich selbst, darin überflügeln sie jede Konkurrenz. (…)

Die emotionale Selbstvergewisserung, die mit der Absage an das Böse einhergeht, ist nicht zu unterschätzen. Auch ich bin ein Guter! Mit diesem Kick stelle ich mich nach außen dar, gelingt mir der Brückenschlag zu Gleich-gesinnten, erfahre ich Anerkennung und Wohlwollen. Im Beruf, im Alltag, in den sozialen Medien.

Leider kann das süchtig machen: die Jagd nach solchen Glücksmomenten, nach Bestätigung. Die meisten Moralisten, einmal auf den Geschmack gekommen, suchen unbewusst den fortwährenden Applaus und landen früher oder später in einer narzisstisch umrandeten `Selbstbestätigungsfalle´.” (…)

Leider interessieren sich grüne Moralisten nur wenig für diejenigen, die den Preis für ihre Weltenrettung zu bezahlen haben. Grün zu sein, sich grün zu verorten bedeutet (noch), zu den Privilegierten zu gehören. In dem Maß, wie die gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland zunehmen, dürften Kulturfragen mehr und mehr zum Gradmesser von `links´ oder `rechts´, von `oben´ oder `unten´ werden – wie in den USA seit langem schon zu beobachten. Plakativ gesagt: Der urbane Mittelstand wird auch weiterhin Lastenfahrrad fahren, sich gesund ernähren und auf seine Work-Life-Balance achten. Und gleichzeitig herabsehen auf die Malocher, die zu viel duschen, mehr Fleisch statt Gemüse essen, zu dick sind, sich zu wenig bewegen, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird.”

“In letzter Konsequenz läuft das hinaus auf einen Klassenkampf der Besitzenden gegen die Habenichtse, die wirtschaftlich immer größere Mühe haben, sich über Wasser zu halten. Hier das privilegierte, autoritär-ökologisch gestimmte Oben, dort ein (Sub-)Proletariat, dem die `Stoppt das Russenzeugs´-Regierungslinie als Erstes um die Ohren fliegt. Je mehr Menschen arbeitslos werden und sich um ihre Zukunft betrogen sehen, nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, umso größer die Wut, umso stärker die Gegenbewegung. Menschen, die ihre Lebensweise brutal abgewertet sehen oder sich zu Recht als Verlierer einer Entwicklung begreifen, auf die sie keinen Einfluss haben, orientieren sich erfahrungsgemäß in Richtung Rechtspopulismus.

In den USA und einer Vielzahl europäischer Länder ist das längst geschehen, treten rechtspopulistische Volksparteien auf den Plan oder sind bereits an der Macht. In Deutschland vor allem wohl deswegen (noch) nicht, weil es diesem Land bislang, alles in allem, gut ergangen ist. Doch diese Zeiten sind vorbei, unwiderruflich wohl.

Nutznießer dieser Entwicklung muss nicht zwangsläufig die AfD sein. Gut vorstellbar, dass neue, ganz andere Bewegungen entstehen, auch ultra-nationalistische oder gewaltbereite im Stil der `Proud Boys´, die bei der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar 2021 eine führende Rolle spielten. Noch fehlt den `Patrioten´ hierzulande eine charismatische Führungspersönlichkeit à la Jörg Haider. Sobald ein solcher Anti-Habeck die Bühne betritt, wird die Zweiteilung der Gesellschaft zügig voranschreiten. Daran zu zweifeln besteht wenig Anlass. Entzünden dürfte sich die Auseinandersetzung auch und vor allem entlang kultureller Symbole, an den `unten´ zutiefst verhassten identitätspolitischen Glaubensgewissheiten, allen voran die Gendersprache.

Die herrschende Moralpolitik ist eine gefährliche Ideologie, weil die “Zweifel weder kennt noch zulässt – stehen die eigenen Gewissheiten doch für `42´, bekanntlich die Antwort auf alle großen Fragen der Menschheit in Douglas Adams’ Kultbuch Per Anhalter durch die Galaxis.

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

Donnerstag, 28. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 5

Fortsetzung vom 21.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der unsere Kultur eher früher als später vor die Wahl stellen dürfte, falls nicht bereits geschehen: entweder Aufklärung und universalistische Menschenrechte oder aber eine Rück-kehr der Stämme in neuem Gewand.

Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums. Der Begriff `Identitäts-politik´ bezeichnet zunächst ein ideologisiertes Handeln, bei dem die Bedürfnisse einzelner gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, in Deutschland vornehmlich von Frauen und sexuellen Minderheiten, in den Vordergrund rücken. Mit der Absicht, ihren jeweiligen Einfluss zu stärken und einen privilegierten Zugang bei der Verteilung von Macht und Ressourcen zu gewährleisten.

 

Die Anfänge der Identitätspolitik reichen zurück in die USA der 1960er und 1970er Jahre und haben ihre Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung. Insbesondere der Aktivismus von Frauen, Schwarzen, Indigenen und Homo-sexuellen wurde zu deren Motor und erzielte große Resonanz in der Öffentlichkeit.

 

In Europa begann der Siegeszug der Identitätspolitik im gesellschaftlichen Kontext der Postmoderne. Zu dieser ideengeschichtlichen Strömung gehören Skepsis gegenüber äußeren Formen von Realität, die Infragestellung von Vernunft, die Wahrnehmung von Sprache als ein Instrument, das Wissen und Herrschaft konstruiere, der Verlust von Weltanschauungen und Gewissheiten, die Suche nach Identität. 

 

Kulturelle Apartheid - "Immer schön auf die anderen zeigen ...!"
 

Die Postmoderne (…) entfaltete sich parallel zum Übergang von einer mehr oder weniger gemeinwohlorientierten Marktwirtschaft in Richtung auf einen weitgehend deregulierten Finanz-Kapitalismus. Die Privatisierung staatlicher Daseinsfürsorge unter US -Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher bereitete in den 1980er Jahren wiederum dem globalisierten Neoliberalismus den Weg. So gut wie alles stand in der Folgezeit zum Verkauf, auch das Bildungssystem oder das Gesundheitswesen. Die Folge waren und sind prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse für viele. Gewerkschaften gerieten zunehmend in die Defensive, die letzten Reste einer klassenbewussten Arbeiterschaft haben sich in Luft aufgelöst.”

 

Die Folge war ein gestig-spirituelles Vakuum bei vielen Menschen, begleitet von der wachsenden Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Postmoderne und Identitätspolitik füllten dieses Vakuum und wurden im europäischen Kontext eins – auf Kosten der Postmoderne, von der heute kaum noch jemand spricht. Seit den 1990er Jahren entstand unter dem gemeinsamen Dach gruppen-bezogener Identitäten eine breite Palette hochgradig ideologisierter neuer Theorien. Darunter etwa die postkoloniale Theorie, die Queer-Theorie, die Critical-Race-Theorie.

 

Sie alle versuchen, Geschichte, Identität oder gesellschaftliche Wirklichkeit aus der Perspektive der jeweiligen Gruppe zu `dekonstruieren´. Auf der der Grundlage subjektiver Befindlichkeiten und Moralismen. Mit dem Ziel, die jeweils eigene, hochgradig fokussierte Wahrnehmung von Realität für allgemeingültig zu erklären. Sie allein sei die Wahrheit. Gesichertes Wissen dagegen gilt als verdächtig, steht im Ruf elitärer Aneignung.

 

Die Aussage »die Erde ist eine Kugel« ist demzufolge erst einmal dahingehend zu überprüfen, ob der alte weiße Mann, der diese Behauptung erstmals aufgestellt hat, nicht möglicherweise queer- oder frauenfeindlich eingestellt war. Sollte dem `gefühlt´ so sein, wäre der Wahrheitsgehalt seiner Aussage insgesamt infrage zu stellen, wenn nicht hinfällig. Käme hingegen der Angehörige einer bislang benachteiligten oder diskriminierten Gruppe zu dem Ergebnis, die Erde sei eine Scheibe, wäre dessen Aussage mindestens so valide wie die des alten weißen Mannes. Denn nicht die Faktenlage ist im Zweifel entscheidend, sondern die Authentizität der eigenen Empfindung, der moralisierende Impuls. Warum finden Fake News eine so große Resonanz? Hier liegt eine der Antworten.”

 

Damit kein Missverständnis aufkommt. Nach Lüders gibt es Identitätspolitik im linken wie im rechten politischen Lager, unter Trump-Anhängern beispielsweise. “Meist ältere heterosexuelle Männer fordern für sich denselben `Milieuschutz´, dieselben Privilegien, die auch Frauen, Latinos, Schwarze oder Schwule für sich in Anspruch nehmen. 

 

Was letztendlich das ursprüngliche Anliegen von Identitätspolitik ad absurdum führt, da diese Bevölkerungsgruppe der »White Old Men« ein Hauptadressat ihrer Kritik war und ist. Das Pendant in Deutschland ist die »identitäre Bewegung«, ein Sammelbegriff für mehrere aktionistische, völkisch gesinnte Gruppierungen. Sie sehen in der `Islamisierung´ Europas eine Gefahr für die `Identität´ einer als ethnisch homogen wahrgenommenen europäischen Kultur.” Dabei ist “Kultur” niemals homogen, insbesondere wenn sie absurderweise auch noch in engen nationalen bzw. nationalstaatlichen Grenzen definiert wird.

Fortsetzung folgt

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

Donnerstag, 14. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 3

Fortsetzung vom 07.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt.

Der entscheidende Impulsgeber für den Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527). 

Nun hat sich der „Fürstenstaat“ vor allem seit dem Ende des 2. Weltkrieges zunehmend in einen Fürsorgestaat verwandelt, „der den Menschen vor sich selbst und den Unwägbarkeiten des Lebens zu schützen sucht. Aus dem Krieger im Dienst der Staatsräson wurde ein Homunculus, ein Staatsdiener im Räderwerk des Absurden, der Bürokratie wie von Franz Kafka beschrieben. (…) Der technisch-rationale Staat erschafft eine verwaltete Welt ohne Jenseitsbezug, vermag jedoch die Sinnfrage nicht zu beantworten – jenseits eines bloßen Verfassungspatriotismus. Der Nationalismus füllt teilweise diese Lücke, ist aber ein schwer zu bändigendes Tier.“

 

In diesem Kontext sieht Lüders nun die Rückkehr der Moral in die Politik. „Sie bietet Halt in unsicheren Zeiten. Der Philosoph und Medienwissenschaftler Norbert Bolz datiert diese Rückkehr auf den Ersten Weltkrieg: Mit dessen Ende `setzt ein politischer Moralismus ein, der … radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Nun gibt es wieder gerechte Kriege und ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das impliziert auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Das gilt bis zur Gegenwart.´

 

Norbert Bolz (* 1953)

Unter der Maßgabe von Vernunft gebietet die `Staatsräson´, keine entfesselten (Welt-)Kriege zu führen. Sieht sich eine imperiale Macht veranlasst, es dennoch zu tun, geht es nicht länger, wie in früheren Zeiten, um Beutezüge oder regional begrenze Scharmützel, auch nicht um die Geburt einer Nation. Sondern um Vorherrschaft oder wenigstens doch einen bevorzugten Platz im globalen Machtgefüge. Die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung hinter einem Banner zu versammeln und zu einen, verlangt nach einer klaren Unterteilung der Welt in Gut und Böse.“

 

Dies wiederum ebnet der Moral den Weg in die Politik: “Sie dient der Legitimation staatlichen Handelns. Auf Kosten von Realpolitik und Pragmatismus, zu Lasten nationaler Interessen. Die (vermeintliche) Moral gebietet den Cut mit Russland. Der allerdings führt in eine politische Sackgasse.” Die Staatsräson dagegen schreie förmlich nach Diplomatie. “Die aber gilt geradezu als anrüchig, unter Berufung auf `Werte´: Denn mit den Bösen reden die Guten nicht. Diese, der eigenen Seligsprechung dienenden Werte allerdings sind wenig mehr als Camouflage. Vor allem geht es um Macht und Einfluss in der Weltpolitik.” Nach außen aber gehe es um eine Wehrhaftigkeit von Demokraten im Kampf gegen den Totalitarismus!

 

“Was aber die Politik als Tatsache oder moralisches Gebot behandelt, sind immer Konstruktionen von interessierter Seite. Deswegen hat Max Weber Augenmaß und Verantwortung gefordert. Fehlen sie auf Führungsebene, ist es um deren Urteilskraft schlecht bestellt. Ein guter Politiker handelt demzufolge sachorientiert und problemlösend, nicht moralisch. In Deutschland ist das mittlerweile die Ausnahme: `Die Geschichte der Bundesrepublik war bis zur Jahrtausendwende von einem verantwortungsbewussten Reformismus geprägt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Nicht nur die Protestbewegungen, sondern auch öffentlich-rechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich´, so Norbert Bolz. Mehr noch: `Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.´”

Fortsetzung folgt

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023 

Donnerstag, 7. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 2

Fortsetzung vom 29.02.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders.

“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”

In einem ethischen Kontext bezeichnen Werte oder Wertvorstellungen moralische Qualitäten, sittliche Ideale, die dem eigenen Handeln idealerweise zugrunde liegen und Ausdruck von Charaktereigenschaften sind. “Ein glaubhaft werteorientiertes Handeln ist nicht allein verhaftet im Hier und Jetzt, sondern strebt nach Transzendenz und stellt das Gemeinwohl über die Interessen Einzelner. Obwohl Werte und Wertvorstellungen seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten rhetorisch und propagandistisch missbraucht werden, sind sie doch ein hohes Gut und keineswegs geringzuschätzen. Im Gegenteil: Wer die Frage nach Moral und Ethik stellt, fragt gleichzeitig nach dem richtigen Leben.”

Damit eng verbunden ist – vor allem seit Platon – die Frage nach gerechter Herrschaft. “Wie kann das Gute, ursprünglich das Göttliche, Eingang finden in politisches Handeln, in die Regierungsführung? Hier die richtigen Antworten zu finden, waren ganze Generationen von Staatsphilosophen, Kirchenvertretern und Denkern bemüht, seit der griechischen Antike, seit Sokrates.”

 

Im Mittelalter waren Politik, Religion und Moral miteinander verschmolzen. Mit Beginn der Neuzeit, im Zuge der Renaissance vollzog sich in Europa sukzessive die Trennung der Politik von der Moral, die die Voraussetzung war für die Konstruktion des modernen, von der Religion sich emanzipierenden Staates, der schließlich die Staatsräson über die Tugend und die Moral stellte.

 

“Der entscheidende Impulsgeber für diesen Bruch des Politischen mit der Moral war der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527). Nachgerade traumatisiert von der Zersplitterung Italiens in zahlreiche Kleinststaaten, beschwor er ein vereintes Land unter Führung des von ihm idealtypisch beschriebenen `Fürsten´, italienisch `il Principe´. Das gleichnamige Buch, 1513 verfasst, gilt als das erste Werk politischer Philosophie. Machiavelli beschreibt darin die Grundsätze der Staatsräson, frei von moralischen und religiösen Vorstellungen. 

 

Machiavelli (1469 - 1527)

Anders als im christlichen Denken des Mittelalters, das von einem göttlichen Heilsplan ausging, erwuchsen in der Renaissance die geistigen Grundlagen für Weltanschauungen diesseits von Gott, hielt das Säkulare Einzug in Staat und Gesellschaft. Für Machiavelli, obgleich er durchaus den Nutzen der Religion für den Herrscher erkannte, folgt die Politik ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Das Primat des `Fürsten´ seien der Machtgewinn und der Machterhalt.

 

Eine moralische Haltung vermöge in einem Umfeld aus Habgier, Hinterlist und Heuchelei nur von Nachteil zu sein. Der Fürst, ein autokratischer Herrscher, wisse sich dabei nur einem Ziel verpflichtet: der Sicherung und dem Erhalt des Staates.”

 

Die Trennung der Politik von der Moral sei Machiavelli zufolge jedoch kein Plädoyer für Sittenverfall. Politisches Handeln ist gleichwohl nur dann sinnvoll, wenn die eingesetzten Mittel dem Staat oder den Staaten zum Vorteil gereichen. „Machiavellismus ist heute ein negativ besetzter Begriff, der für eine skrupellose Machtpolitik steht (und im Bereich der Psychologie für psychopathische Charakterzüge narzisstisch veranlagter Menschen). Diese Wahrnehmung hat sich jedoch erst lange nach Machiavellis Tod durchgesetzt und wird ihm nur teilweise gerecht.“

(Fortsetzung folgt)

 

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

 

 

 

Donnerstag, 29. Februar 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 1

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. Insbesondere der Krieg gegen die Ukraine ist geeignet, das Feld von Moral und Politik in all seiner Komplexität darzustellen.

 

Um eines von Anfang an klarzustellen: Der russische Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig, falsch, zerstörerisch und menschenverachtend! Die Antwort “des Westens” aber ist einzig und allein ein vollständiger Bruch mit Russland “auf allen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und letztendlich auch kulturell.” Nur: Nach über zwei Jahren Krieg haben die westliche Politik der militärischen Unterstützung der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland weltweit zu schwerwiegenden Folgen geführt, ohne jedoch den Krieg zu beenden. 



Aber es geht, Lüders zufolge, nicht nur darum, ob der vollständige Bruch mit Russland unrealistisch und politisch fragwürdig ist, sondern auch darum, dass er mit Symbolik überladen ist: “Das absolute Gute, verkörpert vom Westen, sucht sich vom absolut Bösen zu befreien. Moralische Selbsterhöhung geht leider in den meisten Fällen einher mit Realitätsverleugnung und Heuchelei.” 

 

Denn auch das Beispiel des Überfalls auf die Ukraine macht deutlich, dass “die Tugendhaften nicht etwa Bannerträger einer universellen humanistischen Gesinnung wären. Vielmehr verkörpern sie ein überaus selektives Gerechtigkeitsempfinden. Genau deswegen ist die Politisierung von Moral und die Moralisierung von Politik auch so fragwürdig. In beiden Fällen handelt es sich um eine moderne, säkulare Form des Sakralen, in der nicht Papst und Antichrist miteinander ringen, wohl aber Freiheit und Totalitarismus.”

 

So fragt Lüders – und legt damit den Finger in die Wunde selbstgerechter Moralität -, warum diejenigen, die vehement Sanktionen gegen Russland einfordern, niemals auch vergleichbare Boykottmaßnahmen gegenüber den USA erhoben haben. “Das hätte sich doch angeboten, im Vietnam- oder im Irak-Krieg beispielsweise. Beide waren nicht weniger völkerrechtswidrig und skrupellos wie der jetzige in der Ukraine. Natürlich gibt es viele gute Gründe, den russischen Präsidenten anzuprangern. Warum aber greifen bei ihm offenbar andere Maßstäbe als bei westlichen Akteuren? Wieso suchen westliche Entscheider Wladimir Putin vor einem internationalen Strafgerichtshof anzuklagen, nicht aber George W. Bush oder Tony Blair, die beiden Drahtzieher des auf Lügen und Manipulationen fußenden Irak-Krieges?” Starke Thesen!

 

Das Problem ist jedoch, dass das moralische Empfinden sehr schnell dort endet, wo es eigenen Interessen weniger dienlich ist. Dagegen fordert Lüders, „ganzheitlich zu denken, auch andere Perspektiven einzunehmen oder gar Fakten in Erinnerung zu rufen“. Das sei kein Manko, sondern „die Voraussetzung, um globale Probleme pragmatisch lösen und vom Ende her denken zu können, anstatt sie zu ideologisieren und damit zu verschärfen. Es ist nicht zuletzt eine propagandistische Leistung (…) Die eigene, die westliche Politik gilt dementsprechend als gut und werteorientiert, nichtwestliche als böse und demokratiefeindlich.

 

“Kurzum: Die Welt läuft rund, solange `wir´ sie dominieren. Die Amerikaner nennen das, wie erwähnt, eine `regelbasierte Ordnung´ und meinen damit die Fortschreibung ihrer Vorherrschaft. (…) In der hiesigen Politik und den Medien ist stets die Rede vom `russisch geführten Angriffskrieg in der Ukraine´. Das ist sachlich nicht falsch und dennoch propagandistisch unterlegt. Oder hat man je vom US -geführten Angriffskrieg im Irak gehört? Dem NATO-geführten Angriffskrieg in Serbien (1999), in Afghanistan (2001–2021)?” Ist der eigentliche Skandal vielleicht, dass Russland nun auch versucht, seine imperialen Ansprüche mit militärischen Mitteln zu erzwingen – und “damit ebenjenes `Geschäftsmodell´” kopiert, “auf das der Westen ein Monopol zu haben glaubt. Namentlich die USA”?

 

“Warum gilt, vor diesem Hintergrund, der zweifelsohne verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine als unvergleichlich verabscheuungswürdig, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, während sich der amerikanische Imperialismus bisweilen höchster Wertschätzung erfreut?”, fragt Lüders. Dabei dient die Gegenüberstellung amerikanischer und russischer Politik keinesfals der “Exkulpierung Putins und keineswegs der Relativierung jenes Leids, das heute die Ukrainer erfahren wie gestern die Iraker.” Man könne aber das eigentlich Selbstverständliche nicht deutlich und oft genug hervorheben: Politik und Moral sind zweierlei. Wer also das eigene politische Handeln unter Verweis auf höhere Werte zu legitimieren sucht, ist in der Regel kein Humanist, sondern lediglich ein Gesinnungsethiker. Der Moral sagt und die Durchsetzung eigener hegemonialer Interessen meint.”

 

“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”


(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023


Donnerstag, 7. Januar 2021

Marco Wehr und die Moralapostel


Scheinheiligkeit ist keine Erfindung unserer Zeit, gleichwohl sind scheinheilige Doppelbödigkeit im Denken und Handeln auch in angeblich so modernen und fort-schrittlichen Gesellschaften eine „diskursive Konstante." 

Das Phänomen des selbsternannten Moralapostels ist vermutlich genauso alt wie die Moral selbst. Menschen, die meinen, sie haben die Wahrheit und die richtige Moral gepachtet, gab es zu allen Zeiten und die mit ihnen unweigerlich verknüpfte Scheinheiligkeit wohl auch – wie Marco Wehr, Gründer des philosophischen Labors in Tübingen, in seinem Vortrag „Wer fühlt, hat Recht“ hervorragend darstellt.

Marco Wehr

Ein von Marco Wehr dargestelltes Beispiel für scheinheilige Doppelmoral ist die Kolumnistin der Berliner tageszeitung, Hengameh Yaghoobifarah, „die in einem ihrer Artikel darüber nachdenkt, was man mit den 250 000 Polizisten machen sollte, falls die Polizei abgeschafft würde. Bekanntlich plädierte sie dafür, Polizistinnen und Polizisten auf der Müllhalde zu entsorgen. Dort wären sie nur von Abfall umgeben. Das wäre perfekt, da sie sich unter ihresgleichen am wohlsten fühlen würden.“

An anderer Stelle rät Yaghoobifarah, „Polizisten und Polizistinnen von Baumärkten, Tankstellen oder Kfz-Werkstätten fernzuhalten. Dort könnten sie Bomben und Brandsätze bauen. Die Botschaft dieser Zeilen ist klar: Alle Polizisten sind für Yaghoobifarah potenzielle Attentäter.“

Yaghoobifarah schüttet Hass und Häme aber nicht nur über der Polizei aus, auch Deutsche werden von ihr nur“Kartoffeln“ bezeichnet und in dem Artikel “Deutsche, schafft Euch ab!“ spricht sie von der “deutschen Dreckskultur“.

Die doppelbödige Scheinheiligkeit, um die es Marco Wehr im Fall von Yaghoobifarah geht, betrifft zunächst die taz selbst. „Man wundert sich, dass die Autorin in der taz eine Plattform bekommt. Die ihr zugestandene Toleranz gewährt die Zeitung nämlich nicht jedem. 2017 vergriff sich der AfD-Politiker Alexander Gauland im Ton. Er hoffte, die SPD-Politikerin Aydan Özuguz, die bezweifelt hatte, dass es eine deutsche Leitkultur gibt, in Anatolien “entsorgen“ zu können. Die taz kritisierte darauf die entmenschlichende Sprache Gaulands und zieht die Schlussfolgerung, dass AfD-Spitzenpolitikern die verbalen Grenzen zum Faschismus schnuppe sind. Die eine will Menschen auf dem Müll entsorgen, der andere eine Frau in Anatolien. Beides darf man als niveaulos bezeichnen. Beides sollte man auch in gleicher Weise unterbinden.“

Es dürfte kaum verwundern, dass die geschmacklosen Aussagen von Hengameh Yaghoobifarah zu extremer öffentlicher Empörung. Nun aber wurde die eigene „Inkonsistenz von Reden und Handeln“ überdeutlich, als die von ihre so herab-gewürdigte Polizei von ihr selbst um Personenschutz gebeten wurde. „Die kleinlaut gewordene Journalistin fühlte sich dem gewaltigen Shitstorm, den sie mit ihrem Artikel ausgelöst hatte, nicht mehr gewachsen.“

Natürlich sei eine solche Form abstoßender Doppelmoral keine exklusive Eigenschaft des linken oder linksradikalen Milieus. „Man findet sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit in allen Teilen der Gesellschaft.“

Wie aber kommt es zur „Verengung des Wahrnehmungsfeldes“? Marco Wehr verweist auf ein bei YouTube aufgezeichnetes Gespräch mit Yaghoobifarah, in der sie gesteht, „dass sie nur noch in ihren `Bubbles´ lebt, wenn die Schwermut an sie herankriecht.“ Diese `Filterblasen´ im Internet „sind hermetisch geschlossene Resonanzräume, in denen man die Welt aussperrt und sich nur noch mit Gleich-gesinnten austauscht. Dieses Kommunikationsverhalten verengt die Perspektive und zementiert die eigenen Vorurteile. Neu ist dieses Verhalten nicht. Früher sprach man vom Stammtischgerede. Nur hat der Stammtisch jetzt eine virtuelle Dimension.“

Hengameh Yaghoobifarah und die taz - Scheinheiligkeit auf höchstem "Niveau"

„Um die mit der Scheinheiligkeit verbundene Wirklichkeitsverweigerung zu entlarven, müsse man die Perspektive gleichwohl weiten.“ Deshalb wäre es für Yaghoobifarah eine Überlegung wert, ob die von ihr geschmähte “Dreckskultur“ nicht auch ihr einen persönlichen Schutzraum gewährt. Eine freiheitliche Grund-ordnung und eine Exekutive, die für deren Einhaltung sorgt, machen nämlich das Ausleben ihrer öffentlich inszenierten Individualität erst möglich. 

Yaghoobifarah macht kein Geheimnis aus ihrer nicht-binärer Geschlechtsidentität. Das ist in Deutschland weder moralisch noch rechtlich ein Problem. Doch in anderen Ländern liefe sie Gefahr, je nach sexueller Vorliebe, gehängt, gesteinigt oder zumindest ausgepeitscht zu werden. Das gilt auch für das Heimatland ihrer Eltern, die aus dem Iran stammen.“

„Pars pro toto sieht man sich in der Auseinandersetzung mit dieser Autorin also mit einem Paradoxon konfrontiert: Sie ruft medienwirksam zur Zerstörung des Systems auf, das sie als Publizistin in ihrer extravaganten Individualität erst möglich macht. 

Und schaut man genauer hin, gibt es eine weitere Doppelbödigkeit: Es ist ein nicht nur von ihr praktiziertes Geschäftsmodell, mit einer wütenden Kapitalismuskritik Kapital anzuhäufen, das in die eigene Tasche wandert. Auf dieser Klaviatur spielen auch apodiktische Zeitgeistphilosophen wie Richard David Precht oder Byung-Chul Han, die wortgewandt das Elend dieser Welt dem Kapitalismus in die Schuhe schieben, aber nicht glaubwürdig erklären, was an dessen Stelle treten sollte. Egal. Unterm Strich bleibt ein gediegen-großbürgerlicher Lebensstil, der nicht als Wider-spruch zum proklamierten Denken und Handeln empfunden wird.“

Egal nun, ob Yagoohbifarah die Deutschen abschaffen will oder völkische Gruppen die Gastarbeiter, derart krude Aussagen brauchen einen Resonanzboden. Deshalb sind Yagoohbifarahs Artikel ohne applaudierende linke Claqueure undenkbar. Dasselbe gilt für rechte Entgleisungen. Immer dürfen sich die selbsternannten und provokant daherkommenden Moralapostel des Beifalls der Gesinnungsgenossen sicher sein.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, wie sich trotz scheinbar unvereinbarer politischer Standpunkte, „die rhetorische Phrasologie der verfeindeten Apologeten“ auf dem linken und rechten Spektrum gleicht. Stets wähnen die Moralisten die Menschlichkeit allein im eigenen Lager. 

Vielleicht sind es gerade die klischeehaft-reduzierten Geschichten, die radikale Stand-punkte in unserer schwierigen Welt so verführerisch machen. „Um wieviel bequemer ist es, sich in ein eingängiges Narrativ zu flüchten, das als verführerisches Schmankerl noch die Illusion der moralischen Selbsterhöhung birgt, als quälendes Unwissen und verstörende Unsicherheiten auszuhalten, die zwangsläufig auftauchen, wenn man sich über schwierige Probleme den Kopf zerbricht? Herz schlägt Hirn.“

Doch trivialisierend-eingängigen Weltsichten müssen mit Vorsicht genossen werden, wie das Memetik-Konzept des britischen Wissenschaftlers Richard Dawkins nahelegt: „Meme sind in diesem Zusammenhang Gedanken, die von Menschen kommuniziert werden. Das können elegante Theorien sein, aber auch irrationale Hirngespinste. Entscheidend für ihre Verbreitung ist nicht ihre Sinnhaftigkeit, sondern einzig ihr Replikationserfolg. Und gefährlich werden sie dadurch, dass spleenige Fiktionen Fakten schaffen können.“


Richard Dawkins

Opportuner Moralismus ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal radikaler Gruppierungen. „Man findet ihn auch im gemäßigten politischen Milieu. Davon zeugt zum Beispiel die heutige Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen in ihrer früheren Funktion als Verteidigungsministerin. Es ist bekannt, dass sich die deutsche Bundeswehr momentan in einem maladen Zustand befindet.“

Nach Ansicht von Marco Wehr schickte sich Frau von der Leyen jedoch an, „diese ohnehin schon kritische Situation zu verschlimmern. Sie kämpfte, brav am gesellschaftlichen Commen-Sense orientiert, in der Bundeswehr für mehr `Gleich-heit und Gerechtigkeit´. Es war ihr Bestreben, die Einstellungs- und Ausbildungs-anforderungen soweit zu senken, dass von der Armee fast niemand mehr ausgeschlossen wird. Alle sollten mitmachen dürfen, egal ob die Bewerber übergewichtig waren oder wegen ihrer schwächlichen Konstitution keinen Rucksack tragen konnten. Von der Leyens verquere Logik war in diesem Zusammenhang nur für sie selbst schlüssig: Wenn die gefürchteten Gewaltmärsche mit schwerem Gepäck, die reale Einsatzbedingungen simulieren sollen, von vielen jungen Menschen in schlechter körperlicher Verfassung nicht mehr bewältigt werden können, dann sorgt man nicht dafür, dass die Überforderten belastbarer werden, man schafft einfach die Märsche ab.“

Eine solche Logik wird in unseren Zeiten immer salonfähiger: „Wenn die Berliner Schüler als Opfer eines völlig aus den Gleisen gesprungenen Bildungssystems schlechte Noten schreiben, dann wird einfach weniger hart zensiert und schon sind die Berliner so gut wie Bayern und Sachsen. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“

„Nur ist eine solche Form der Pippi Langstrumpf-Philosophie im Falle der Rekrutenausbildung kein Spiel. Die sich dem Zeitgeist anbiedernde Einstellung kann für Soldaten im wirklichen Einsatz tödliche Konsequenzen haben. Wie sieht es mit dem Segen der Gleichmacherei aus, wenn den müden Kriegern auf der Flucht im Gebirge beim ersten Anstieg die Puste ausgeht und sie von zähen Taliban verfolgt werden, die in den Bergen groß geworden sind (…)? Dann wird das Motto “Dabei sein ist alles“ zum lebensgefährlichen Zynismus.“

Für Marco Wehr steht fest: „In einer medialen Selbstvermarktungsgesellschaft scheint moralisierende Wirklichkeitsverweigerung gesellschaftsfähig zu sein (…) Wird moralischer Druck ausgeübt, der auf der Gefühlsebene punkten will, sich aber um die komplexe Faktenlage nicht schert, stehen wichtige Teile unserer Gesellschaft zur Disposition.

Wollen wir tatsächlich einen Staat, bei dem die Gewaltenteilung im Grundgesetz steht, der aber auf die Polizei verzichtet? Wollen wir ein völkisch-bierseliges Deutschland? Wollen wir eine politisch korrekte Bundeswehr, die aber ihrem Verteidigungsauftrag nicht mehr gerecht werden kann? Und wollen wir auf eine effiziente medizinische Forschung verzichten? Vermutlich nicht.


Pippi Langstrumpf-Philosophie: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!

Deshalb muss moralisierende Scheinheiligkeit demaskiert werden. Man darf ihr nicht nachgeben, auch wenn es bequem ist, mit dem Rudel zu heulen. Stattdessen müssen die Konsequenzen reduzierter Weltbilder von einer höheren Warte durchdacht, gewertet und artikuliert werden, um dann die Moralprediger mit diesen in aller Deutlichkeit zu konfrontieren. Und im nächsten Schritt muss die Frage erlaubt sein, ob sie persönlich bereit wären, die Risiken, die sich aus ihren Anschauungen ergeben, zu tragen.“


Zitate aus: Marco Wehr - „Wer fühlt, hat Recht“ – Wie sich Moralapostel der Wirklichkeit verweigern, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 15. November 2020, SWR 2020