Donnerstag, 31. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 5


Individuelle versus religiöse Moral

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann - gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet sich Humboldt gegen die Ansicht, der Sinn des Staates bestünde darin, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz, dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit beschäftigen muss.“

Allerdings erscheint Humboldt eine „vom Staat angeordnete oder geleitete [moralische] Erziehung von vielen Seiten bedenklich.“ Schon in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung hatte Humboldt darauf hingewiesen, dass es bei der Bildung des Menschen vor allem auf „Mannigfaltigkeit der Situationen“ ankäme. Wolle der Staat sich aber um das moralische Wohl der Menschen kümmern, dann müsse er notwendigerweise „eine bestimmte Form [der Moral] begünstigen.“

Dies betrifft insbesondere die Religion bzw. religiöse Moral, der sich Humboldt im 7. Kapitel seiner Abhandlung widmet.

Humboldt will hier vor allem deutlich machen, „dass die Moralität, auch bei der höchsten Konsequenz des Menschen, schlechterdings nicht von der Religion abhängig, oder überhaupt notwendig mit ihr verbunden ist.“

Auch wenn die moralische Qualität einer Handlung „unleugbar in einem ganz vorzüglichen Grade durch religiöse Gefühle empfohlen wird, so ist dies weder das einzige, noch auch bei weitem ein auf alle Charaktere anwendbares Mittel.“
 
Religion und moralisch richtiges Verhalten - nicht notwendig miteinander verbunden

Humboldt will also keinesfalls den potentiell positiven Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit leugnen, „es fragt sich nur immer, ob er von einigen bestimmten Religionssätzen abhängt? und dann ob er so entschieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrennlicher Verbindung mit einander stehen? Beide Fragen müssen, glaube ich, verneint werden.“

Unter Bezugnahme auf Kants Unterscheidung zwischen dem "Handeln aus Pflicht" und dem "pflichtgemäßen Handeln" argumentiert auch Humboldt: Auch der „kalte, bloss nachdenkende Mensch, in dem die Erkenntnis nie in Empfindung übergeht, dem es genug ist, das Verhältnis der Dinge und Handlungen einzusehen, um seinen Willen darnach zu bestimmen, bedarf keines Religionsgrundes, um tugendhaft zu handeln, und, soviel es seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein.“ 

So gebe es durchaus charakterstarke Persönlichkeiten unabhängig von der religiösen Verfassung, „in welchen eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen herrscht, die eine so große Tiefe der Erkenntnis und des Gefühls besitzen, dass daraus eine Stärke und Selbstständigkeit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein fremdes Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, worin sich der Einfluss der Religion […] äußert, weder fordert noch erlaubt.“

An dieser Stelle wird Humboldts Idee des Individualismus erkennbar, der sich allein in Freiheit und ohne äußere Beeinflussung entwickeln kann: So beruhe die religiöse Überzeugung auf der „Vorstellungsart, nach welcher ein Wesen die Welt schuf und ordnete, und mit sorgender Weisheit erhält.“ Für Humboldt dagegen „ist gleichsam die Kraft des Individuums heiliger“, ihn „fesselt diese mehr, als die Allgemeinheit der Anordnung, und es stellt sich […] daher öfter und natürlicher der […] entgegengesetzte Weg dar, auf welchen das Wesen der Individuen selbst, indem es sich in sich entwickelt, und durch Einwirkung gegenseitig modifiziert, sich selbst zu der Harmonie stimmt, in welcher allein der Geist, wie das Herz des Menschen, zu ruhen vermag.“
 
Die heilige Kraft des Individuums

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob der Staat durch die Religion überhaupt auf die Sitten und das moralische Verhalten der Bürger einwirken darf oder nicht. Es verwundert wenig, wenn Humboldt zu dem Ergebnis kommt, „dass alles, was die Religion betrifft, außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates liegt.“

Wohl habe der Staat die Pflicht, die freie Religionsausübung zu ermöglichen. Daher seien „Wegräumung der Hindernisse, mit Religionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersuchungsgeistes […] folglich die einzigen Mittel, deren der Gesetzgeber sich bedienen darf.“ Ginge er aber weiter und versuchte, „die Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten“ nehme „gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz“, so stelle er den Glauben an eine Autorität über die wahre Überzeugung und hindert so „das Aufstreben des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte.“ Auf diese Weise bringe der Staat vielleicht den Respekt vor den Gesetzen, „aber nie wahre Tugend hervor. Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller, und unverträglich mit befohlener, und auf Autorität geglaubter Religion.“

Religion sei schließlich „ein fremdes, von außen einwirkendes Mittel“ zur Erziehung des Menschen. Viel besser wäre es, die Moralität der Bürger dadurch zu erhöhen, „dass sie alle Triebfedern zur Beförderung des Zwecks des Staats allein in der Idee des Nutzens finden, welchen ihnen die Staatseinrichtung zu Erreichung ihrer individuellen Absichten gewährt. Zu dieser Einsicht aber ist Aufklärung und hohe Geistesbildung notwendig, welche da nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist durch Gesetze beschränkt wird.“

Wenn der Staat also die Religion als Mittel der moralischen Erziehung der Bürger einsetzt, dann dürfe man „doch nie einseitig vergessen, ihren Nutzen gegen ihren Schaden abzuwägen. Wie vielfach aber der Schade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf wohl, nachdem es so oft gesagt, und wieder gesagt ist, keiner weitläufigen Auseinandersetzung mehr.“

Es ist der „Nutzen freier Untersuchung“, den Humboldt unter allen Umständen verteidigt. In einem Menschen, „der gewohnt ist, Wahrheit und Irrtum, ohne Rücksicht auf äußere Verhältnisse für sich und gegen andere zu beurteilen, und von anderen beurteilt zu hören, sind alle Prinzipien des Handelns durchdachter, konsequenter, aus höheren Gesichtspunkten hergenommen.“ Der Glaube dagegen ist letztlich „Vertrauen auf fremde Kraft, fremde intellektuelle oder moralische Vollkommenheit.“ So sei in dem untersuchenden und kritischen Denker „mehr Selbstständigkeit, mehr Festigkeit; in dem vertrauenden Gläubigen mehr Schwäche, mehr Untätigkeit.“

Zweifel und Irrtümer - Kein Problem für kritische Geister !

Deutlich wird der Unterschied zwischen beiden Geisteshaltung bei der Entdeckung von Irrtümern und Denkfehlern. Der selbstständig denkende Mensch ist sich „der Stärke seiner Seele bewusst, er fühlt, dass seine wahre Vollkommenheit, seine Glückseligkeit eigentlich auf dieser Stärke beruht; statt dass Zweifel an den Sätzen, die er bisher für wahr hielt, ihn drücken sollten, freut es ihn, dass seine Denkkraft so viel gewonnen hat, Irrtümer einzusehen, die ihm vorher verborgen blieben.“

„Der Glaube hingegen kann nur Interesse an dem Resultat selbst finden, denn für ihn liegt in der erkannten Wahrheit nichts mehr. Zweifel, die seine Vernunft erregt, peinigen ihn. Denn sie sind nicht, wie in dem selbst denkenden Kopfe, neue Mittel zur Wahrheit zu gelangen; sie nehmen ihm bloß die Gewissheit, ohne ihm ein Mittel anzuzeigen, dieselbe auf eine andre Weise wieder zu erhalten.“

Daher habe jede Unterdrückung der Vernunft, jede Einschränkung der Geistesfreiheit fatale Folgen für die Ausbildung moralischer Urteilskraft der Bürger. Natürlich habe der Staat ausreichende Mittel zur Verfügung, den Respekt vor den Gesetzen durchzusetzen und Verbrechen zu verhüten. Aber alle diese Mittel „wehren nur den Ausbrüchen“ und bringen nur „äußere Handlungen hervor.“ Geistesfreiheit aber „und die Aufklärung, die nur unter ihrem Schutz gedeiht“, wirkt „auf die Neigungen und Gesinnungen“ und schaffe so „eine innere Harmonie des Willens und des Bestrebens.“

Wenn also etwas einen positiven Einfluss auf die Erhaltung der inneren Sicherheit und die moralische Urteilskraft der Bürger hat, dann ist es die Freiheit: „Je freier ferner der Mensch ist, desto selbstständiger wird er in sich, und desto wohlwollender gegen andere.“
 
Tugend ist das Kind der Freiheit

So würde auch der in Fragen der Religion völlig frei entscheidende Bürger “nach seinem individuellen Charakter religiöse Gefühle in sein Inneres verweben, oder nicht; aber in jedem Fall wird sein Ideensystem konsequenter, seine Empfindung tiefer, in seinem Wesen mehr Einheit sein, und so wird ihn Sittlichkeit und Gehorsam gegen die Gesetze mehr auszeichnen. Der durch mancherlei Anordnungen beschränkte hingegen wird - trotz derselben - eben so verschieden Religionsideen aufnehmen, oder nicht; allein in jedem Fall wird er weniger Konsequenz der Ideen, weniger Innigkeit des Gefühls, weniger Einheit des Wesens besitzen, und so wird er die Sittlichkeit minder ehren, und dem Gesetz öfter ausweichen wollen.

Daher liege alles, was die Religion betrifft, außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates „und dass die Prediger, wie der ganze Gottesdienst überhaupt, eine, ohne alle besondere Aufsicht des Staats zu lassende Einrichtung der Gemeinen sein müssten.“

Nachtrag: 
Ähnlich argumentiert Humboldt im 8. Kapitel hinsichtlich der Frage, "ob der Staat positiv auf die Sitten zu wirken versuchen dürfe", ob er also "einzelne Handlungen der Bürger zu verbieten, oder zu bestimmen, die teils an sich unsittlich sind […], teils leicht zur Unsittlichkeit führen." 

Letztlich gehe es dabei um die Frage, ob es dem "dem wahren Endzweck des Staats angemessen [sei], die Sinnlichkeit — aus welcher eigentlich alle Kollisionen unter den Menschen entspringen, […] in den gehörigen Schranken zu halten; und, weil dies freilich das leichteste Mittel hierzu scheint, so viel als möglich zu unterdrücken."

Auch wenn die Sinnlichkeit die "Quelle einer großen Menge physischer und moralischer Übel sei", und die Vorstellung sich anbiete, "der Sittenverderbnis durch Gesetze und Staatseinrichtungen entgegen zu kommen", so dürfe es dennoch dem Staate grundsätzlich nicht erlaubt sein, "mit positiven Endzwecken auf die Lage der Bürger zu wirken."

Auch wenn solche Gesetze und Einrichtungen wirksam wären, "so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genötigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie die Grenze des Rechts übertreten, gebundener Menschen scheinen."

Weder würde durch diese Form staatlicher Bevormundung die "Kraft der Seele" der Menschen erhöht, noch erhielten seine Ideen "mehr Aufklärung", noch sein "Wille mehr Kraft", die unsittlichen Neigungen zu besiegen. "An wahrer, eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts."

Wer also den Menschen "bilden, nicht zu äußeren Zwecken erziehen will, wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so schwächen sie auch noch immer die Kraft", denn "Die Freiheit erhöht die Kraft […] Zwang erstickt die Kraft."

So verteidigt Humboldt schließlich den Grundsatz, "dass der Staat sich schlechterdings alles Bestrebens, direkt oder indirekt auf die Sitten und den Charakter der Nation anders zu wirken, als insofern dies als eine natürliche, von selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings notwendigen Maßregeln unvermeidlich ist, gänzlich enthalten müsse, und dass alles, was diese Absicht befördern kann, vorzüglich alle besondere Aufsicht auf Erziehung, Religionsanstalten, Luxusgesetze usf. schlechterdings außerhalb der Schranken seiner Wirksamkeit liege."
  
Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel III bis VII.




Donnerstag, 24. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 4


Über den Zweck des Staates

In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann - gegen einen umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Das Denkmal vor der Humboldt-Universität Berlin

Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet sich Humboldt gegen die Ansicht, dass der Sinn des Staates darin bestünde, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz, dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit beschäftigen muss.“

Ähnlich wie Thomas Hobbes und andere Vertreter des Liberalismus geht auch Humboldt von einem pessimistischen Menschenbild aus. So wäre „schlechterdings keine Staatsvereinigung notwendig“, wenn der Mensch nicht ständig „über die rechtmäßig gezogenen Schranken hinaus in das Gebiet der anderen [Menschen] eingreifen würde“, wenn es also das Übel der „Begierde nach Mehr“ - was die Griechen mit dem Worte πλεονεξία umschrieben – „und die daraus entspringende Zwietracht“ nicht gäbe.

Die Uneinigkeiten der Menschen – „denn bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen“ – aber erfordern schlechterdings eine solche … [staatliche] Gewalt, die allein die Sicherheit der Bürger garantieren kann.

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf (Hobbes)
© F.A.Z.-FOSSHAG
Der Staat existiert also um der Sicherheit willen, denn „ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte ausbilden, noch die Frucht derselben genießen, denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“

Das Problem aber ist, dass der Einzelne allein sich diese Sicherheit nicht verschaffen könne. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn es darum geht, die Sicherheit der Menschen „gegen auswärtige Feinde“ zu verteidigen.

Vor allem aber gelte der Grundsatz, dass der Staat für die innere Sicherheit der Bürger die Sorgfalt trage. Ein Blick in die Geschichte mache deutlich, dass es schon in der klassischen Antike zu den Aufgaben der Herrscher gehört habe, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu garantieren:

„Siehe, die Völker schauen gesamt auf ihn, 
der Urteil spricht und Entscheidung
Nach durchgehendem Recht; 
denn mit Nachdruck redet er treffend,
Und weiß schnell auch ein großes Gezänk zu versöhnen; mit Klugheit.
Darum sind Volkspfleger verstandvoll, 
daß sie den Völkern
Öffentlich vollen Ersatz für Beleidigung schaffen 
und Kränkung.“ 
(Hesiod, Theogonie, 84-89)

Um diesen Zweck zu erreichen, stünden dem Staat drei Wege offen: Er könne sich zunächst damit „begnügen, begangene Unordnungen wieder herzustellen, und zu bestrafen“. Weiter könne er „ihre Begehung überhaupt zu verhüten suchen“. Schließlich könne der Staat „zu diesem Endzweck den Bürgern, ihrem Charakter und ihrem Geist, eine Wendung zu erteilen bemüht sein, die hierauf abzweckt.“

Im Unterschied zu den ersten beiden Wegen, an denen er wenig auszusetzen hat, geht Humboldt mit der Absicht des Staates, das „moralische Wohl der Bürger“ in eine bestimmte Richtung beeinflussen zu wollen, außerordentlich kritisch ins Gericht.

Ihm erscheint eine „vom Staat angeordnete oder geleitete [moralische] Erziehung von vielen Seiten bedenklich.“ Schon in den vorangegangenen Kapiteln seiner Abhandlung hatte Humboldt darauf hingewiesen, dass es bei der Bildung des Menschen vor allem auf „Mannigfaltigkeit der Situationen“ ankäme. Wolle der Staat sich aber um das moralische Wohl der Menschen kümmern, dann müsse er notwendigerweise „eine bestimmte Form [der Moral] begünstigen.“

Humboldt entlarvt an dieser Stelle das eigentliche Interesse der staatlichen Einflussnahme auf die moralische Verfassung seiner Bürger: „Sobald der Untertan den Gesetzen gehorcht, und sich und die Seinigen im Wohlstande und einer nicht schädlichen Tätigkeit erhält, kümmert den Staat die genauere Art seiner Existenz nicht.“

Öffentliche moralische Erziehung ... ?
(Bild: AKG)

Eine öffentliche moralische Erziehung habe daher gar nicht den Menschen als moralisches Wesen im Blick, sondern suche allein „ein Gleichgewicht aller, da nichts so sehr, als gerade dies, die Ruhe hervorbringt und erhält, welche eben diese Staaten am eifrigsten beabsichtigen.“ Humboldt dagegen ist der Überzeugung, dass „die freieste … Bildung des Menschen überall vorangehen“ müsse. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat eintreten, und die Verfassung des Staats gleichsam an sich selbst prüfen.

Wenn also die Erziehung überhaupt nur Menschen bilden sollte, „so bedarf es des Staats nicht“, denn „unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe bessern Fortgang; blühen alle Künste schöner auf; erweitern sich alle Wissenschaften. Unter ihnen sind auch alle Familienbande enger, die Eltern eifriger bestrebt für ihre Kinder zu sorgen, und, bei höherem Wohlstande, auch vermögender, ihrem Wunsche hierin zu folgen. Bei freien Menschen entsteht Nacheiferung, und es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staate zu erwarten haben.“

Vor allem aber erreiche eine öffentliche moralische Erziehung überhaupt nicht den Zweck, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, denn „Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakterseite notwendig verbunden. (…) Jede bestimmte Charakterbildung ist daher eigener Ausschweifungen fähig, und artet in dieselben aus.“

So liege also eine öffentliche Erziehung, die dem Menschen eine bestimmte moralische Form erteilen will, eindeutig außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staates.
  
Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel III bis VI.   -   Weitere Literatur: Hesiod: Theogonie, online beim Projekt Gutenberg-De 

Mittwoch, 16. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 3


Die Sorgfalt des Staates für den positiven Wohlstand

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann, also gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Humboldt geht dabei von den Prämissen aus, dass neben der Freiheit des Individuums „die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes [erfordert], obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, - Mannigfaltigkeit der Situationen“, denn „auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus."

So kommt Humboldt zu dem Schluss, „dass die wahre Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem jeder Einzelne die ungebundenste Freiheit geniest“, um sich „aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln.“ In diesem Zustand dürfe auch die „physische Natur [des Menschen] keine andere Gestalt von Menschenhänden“ empfangen, als die, die jeder Einzelne sich selbst gibt, „nach dem Maß seiner Bedürfnisse und seiner Neigungen, allein beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und des Rechts.“

Im Hinblick auf den möglichen Zweck des Staates nennt Humboldt zwei gegensätzliche Antworten: Zum einen kann der Zweck des Staates in der notwendigen Pflicht bestehen, „Übel zu verhindern“ und so für die Sicherheit der Bürger zu sorgen und zum anderen kann der Staat sich versucht fühlen, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Baggern für den Wohlstand

(Foto: picture-alliance / Eibner-Presse/picture alliance)
Unter positivem Wohlstand versteht Humboldt nun „den Unterhalt der Einwohner, teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhr-Verboten u.s.f. (in so fern sie diesen Zweck haben) endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten, oder zu befördern die Absicht hat.“

Alle diese Einrichtungen nun, behauptet Humboldt mit überraschender Deutlichkeit, „haben nachteilige Folgen, und sind einer wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unangemessen.

Humboldt geht davon aus, dass in jeder dieser Maßnahmen „der Geist der Regierung herrscht … und wie weise und heilsam dieser Geist auch sei, so bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise … hervor.“

Einförmigkeit aber – darauf hatte schon Aristoteles hingewiesen – bedeutet das Ende der staatlichen Gemeinschaft: „Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiss immer mit jedem Grade der Einmischung des Staats verloren.“

Dies führe dazu, dass eigentlich keine freien und selbstbestimmten Bürger „mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Untertanen, welche mit dem Staat, d.h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in Verhältnis kommen, und zwar in ein Verhältnis, in welchem schon die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt.“

Ruhe und Ordnung - erste Bürgerpflicht?
Es ist die ewige Überzeugung des klassischen Liberalismus, wenn Humboldt schreibt, dass „je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“ Natürlich sei genau das die eigentliche Absicht der Herrschenden: „Sie wollen Wohlstand und Ruhe. Beide aber erhält man immer dann leicht, wenn das Einzelne wenig miteinander streitet.“ Dennoch ist das, „was der Mensch beabsichtigt und beabsichtigen muss, … etwas [ganz] anders, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit. Nur dies gibt vielseitige und kraftvolle Charaktere.“

Wer nun das Gegenteil davon verteidige, „den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit missachtet, und aus Menschen Maschinen machen will.“

„Alles im Menschen ist Organisation. Was in ihm gedeihen soll, muss in ihm gesät werden.“ Diese überaus pädagogische Weisheit führt Humboldt zu einem weiteren Argumentationsstrang gegen die Absicht des Staates, den positiven Wohlstand – also das Glück – der Bürger zu verwirklichen.

Humboldt - und hier zeigt sich seine humanistische Herkunft – geht davon aus, dass der Verstand des Menschen wie jede andere seiner Kräfte auch, „nur durch eigene Tätigkeit und eigene Erfindungsgabe … gebildet“ werde. „Anordnungen des Staates aber führen immer - mehr oder minder - Zwang mit sich, und selbst, wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken.“

So verfalle der Staat allzu gern darauf, „die Bürger [zu] belehren“, indem er „das aufstellt, was er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner Untersuchungen, und entweder direkt durch ein Gesetz, oder indirekt durch irgendeine die Bürger bindende Einrichtung befiehlt.“

Dagegen verteidigt Humboldt die Strategie, den Menschen „gleichsam alle mögliche Auflösungen des Problems vorzulegen, und den Menschen nur darauf vorzubereiten, die schicklichste selbst zu wählen, oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstellung aller Hindernisse zu erfinden.“

Der bessere Weg: Die Menschen darauf vorbereiten,
selbst wählen zu können!

Dies aber könne der Staat „bei erwachsenen Bürgern nur auf eine negative Weise“, also durch die Schaffung von Sicherheit und Freiheit erreichen, „die zugleich Hindernisse entstehen lässt, und zu ihrer Hinwegräumung Stärke und Geschicklichkeit gibt.“

Wolle der Staat aber auf eine „positive Weise“ für Wohlstand sorgen, dann leide durch „eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie des Handelns überhaupt, und der moralische Charakter“: „Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und glaubt genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt.“

Das Glück aber würde man mit dieser Methode jedenfalls nicht finden, denn das Glück, „zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein anderes, als welches seine Kraft ihm verschafft; und diese Lagen gerade sind es, welche den Verstand schärfen, und den Charakter bilden.“

So wird das Postulat der Freiheit wieder zum Dreh- und Angelpunkt des Verständnis vom Staat und vom Menschen bei Humboldt: „Allein freilich ist die Freiheit notwendige Bedingung, ohne welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen Wirkungen dieser Art hervor zu bringen vermag. Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“

Die Gefahr des positiven Wohlstands

So verhindere der Staat durch sein Eingreifen „die Entwicklung der Individualität und Eigentümlichkeit des Menschen in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des Menschen“, weil letztlich jede  Einschränkung mit der Ausbildung der freien und natürlichen Kräfte des Menschen kollidiere.

Ein letztes Argument gegen die positive Wohlfahrt des Staates betrifft die Auswirkungen auf den Staatsapparat selbst: Der Anspruch des Staates, mit direkten Mitteln das Glück der Menschen zu befördern, führt nicht nur dazu, „dass ein solcher Staat größerer Einkünfte bedarf, sondern er erfordert auch künstlichere Anstalten zur Erhaltung der eigentlichen politischen Sicherheit, die Ziele hängen weniger von selbst fest zusammen, die Sorgfalt muss bei weitem tätiger sein.“

Auf diese Weise erhalte die staatliche Verwaltung jedoch „eine Verflechtung, welche … eine unglaubliche Menge detaillierter Einrichtungen bedarf und eben so viele Personen beschäftigt.“ Dadurch entstehe aber ein Erwerbszweig, die „Besorgung von Staatsgeschäften, und dieser macht die Diener des Staats so viel mehr von dem regierenden Teile des Staats, der sie besoldet, als eigentlich von der Nation abhängig.“

Verwaltung von Glück?
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist für Humboldt offensichtlich: „Die Menschen … werden um der Sachen, die Kräfte um der Resultate willen vernachlässigt. Ein Staat gleicht nach diesem System mehr einer aufgehäuften Menge von leblosen und lebendigen Werkzeugen der Wirksamkeit und des Genusses, als einer Menge tätiger und genießender Kräfte. Bei der Vernachlässigung der Selbsttätigkeit der handelnden Wesen scheint nur auf Glückseligkeit und Genuss gearbeitet zu sein.“

Damit entferne sich der Einzelne gleichwohl immer weiter von seiner Würde, denn der Mensch „genießt am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt.“

Es sei wohl kein Zufall, dass „in den meisten Staaten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Personale der Staatsdiener [zunimmt], und der Umfang der Registraturen, und die Freiheit der Untertanen ab.“

So kommt Humboldt abschließend zu einem eindeutigen Urteil: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“
  
Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel II und III.

Donnerstag, 10. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 2


Prämissen

Wilhelm von Humboldt
Als Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein daran ging, sein Programm zur Reform des preußischen Staates umzusetzen, hatte er in Wilhelm von Humboldt einen Mitstreiter gefunden, dem es wie Stein darum ging, dem erwachenden Freiheitsbewusstsein der Bürger Raum zu geben, Eigenverantwortung zu fördern und auf diese Weise dem Staat neue Perspektiven zu erschließen.

In der 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmenverteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Dabei geht er von der Prämisse aus, dass die Frage nach dem Zweck des Staates der Frage nach dem Zweck des Menschen untergeordnet werden müsse: „Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“

Neben dieser ersten Prämisse benennt Humboldt noch eine zweite: „Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, - Mannigfaltigkeit der Situationen“, denn „auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus."

Ähnlich wie in der Ehe, so sei auch im Staat ein Zusammenschluss von Menschen notwendig, „die aus dem Innern der Wesen“ entspringt und in der sich „einer den Reichtum des anderen zu eigen macht.“ Bereits Aristoteles hatte festgestellt: „Es ist doch klar, dass ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Auch wenn man eine Einheit herstellen könnte, so dürfte man es nicht. Denn dann würde man den Staat überhaupt aufheben. Der Staat besteht ja nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat“ (1261 a 20ff)."

Der wahre Zweck des Menschen: Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situation 

Der bildende Nutzen eines solchen Verbindung bestehe Humboldt zufolge immer aus dem Zusammenspiel von „Selbstständigkeit der Verbundenen“ einerseits und der „Innigkeit der Verbindung“ andererseits, denn ohne diese Innigkeit wäre das Verständnis des anderen unmöglich, ohne Selbstständigkeit dagegen wäre es nicht möglich den `Reichtum des anderen´ „gleichsam in das eigene Wesen zu verwandeln.“

Beides aber mache die Mobilisierung aller vorhandenen Kräfte der Individuen notwendig, wenngleich die Verschiedenheit „nicht zu groß […] und auch nicht zu klein“ sein dürfe.

Diese individuellen Lebenskräfte und die mannigfaltige Verschiedenheit der Menschen vereinigen sich in der „Originalität“ – also in der Einzigartigkeit – jedes Einzelnen, und das, worauf die Größe des Menschen letztlich beruht, ist nichts anderes als diese „Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung.“

Für Humboldt lässt sich insbesondere am klassischen Zeitalter Griechenlands und Rom ablesen, „wie diese Eigentümlichkeit durch Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit des Handelnden gewirkt hat“, denn hier begegne uns eine im Vergleich zur jetzigen Epoche „größere ursprüngliche Kraft und Eigentümlichkeit“, die „neue wunderbare Gestalten schuf.“
 
Perseus befreit Andromeda (Wandmalerei aus Pompeji aus der "Casa Dei Dioscuri")

Der Staat nun habe die Pflicht, diese individuelle Kraft und Eigentümlichkeit der Individuen „sorgfältigst“ zu bewachen.

So könne der Grundsatz als bewiesen gelten, „dass die wahre Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem jeder Einzelne die ungebundenste Freiheit genießt“, um sich „aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln.“ In diesem Zustand dürfe auch die „physische Natur [des Menschen] keine andere Gestalt von Menschenhänden“ empfangen, als die, die jeder Einzelne sich selbst gibt, „nach dem Maß seiner Bedürfnisse und seiner Neigungen, allein beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und des Rechts.“

Dieser Grundsatz müsse daher jeder Politik und vor allem auch bei der Beantwortung der Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates zugrunde liegen.“

In einer allgemeinen Formel ausgedrückt, so fährt Humboldt im dritten Kapitel der Abhandlung fort, „könnte man den wahren Umfang der Wirksamkeit des Staats alles dasjenige nennen, was er zum Wohl der Gesellschaft zu tun vermag, ohne jenen oben ausgeführten Grundsatz zu verletzen.“ Daraus ergebe sich notwendig, „dass jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den anderen haben.“

Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel II und III.   -    Weitere Literatur: Aristoteles: Politik (München 1976)

Donnerstag, 3. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 1


Bestimmung des Gegenstandes

Als der preußische Militärstaat, wie er von Friedrich Wilhelm I. geschaffen und Friedrich II. auf Expansionskurs gebracht wurde, nach den Niederlagen von Jena und Auerstedt sowie der französischen Besetzung Berlins 1806 vorerst abgewirtschaftet hatte, befand sich Wilhelm von Humboldt als preußischer Gesandter in Rom. Im Jahre 1808 kehrte von Humboldt schließlich nach Berlin zurück. Ihm war im Zuge der vom Staatsminister Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein begonnenen Preußischen Reformen die Leitung der „Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts“ übertragen worden.

Napoleons Einzug in Berlin (Gemälde von Charles Meynier (1763-1832)
In seiner ein Jahr zuvor verfassten Nassauer Denkschrift hatte von Stein das Reformprogramm für den preußischen Staat entworfen. Dabei spielten nicht nur funktionelle Erwägungen für einen Wiederaufbau Preußens eine Rolle, sondern in erster Linie politisch-pädagogische Ideen. Hauptziel der Reformen war die „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre“ (Nassauer Erklärung, 1807).

Für von Stein war Wilhelm von Humboldt ein mehr als geeigneter Mitstreiter, wenn es darum ging, dem erwachenden Freiheitsbewusstsein der Bürger Raum zu geben, Eigenverantwortung zu fördern und auf diese Weise dem Staat neue Perspektiven zu erschließen.

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
Humboldts staatstheoretische Überlegungen lagen voll auf dieser Linie. In seiner bereits 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ ordnet er die Frage nach dem Zweck des Staates der Frage nach dem Zweck des Menschen unter: „Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung“ (Grenzen, II.)

Es komme daher darauf an, den Einflussbereich des Staates und seiner Institutionen zu definieren, und zwar im Sinne einer Festlegung der Grenzen seiner Wirksamkeit. Gegen einen umfassenden Ordnungsanspruch des Staates verteidigt Humboldt also das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt, Humboldt als den Stammvater des deutschen Liberalismus zu bezeichnen.

Humboldt geht von der Frage aus, „zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll?“. Ihm ginge es hier zum einen um die Bestimmung der Bereiche, in denen die Regierung ihre Tätigkeit ausüben soll und darf, zum anderen um die Bereiche, in denen sie ihre Tätigkeit einschränken muss: „Dies letztere, welches eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift und das Maß ihrer freien, ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der Tat das wahre letzte Ziel“ der Schrift.

Schließlich beruht „das Glück eines rüstigen, kraftvollen Menschen“ darauf, „nach einem Ziele zu streben, und dies Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kraft [zu] erringen.“ Freiheit sei in diesem Zusammenhang „nur die Möglichkeit einer unbestimmten mannigfaltigen Tätigkeit“, die „Sehnsucht nach Freiheit“ aber entstehe „nur zu oft erst aus dem Gefühle des Mangels derselben.“

Daher müsse die Festlegung der Grenzen der Wirksamkeit des Staates auch „auf höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen.“ Dies würde einerseits „einen gleich hohen Grad der Bildung“ und „eine größere Stärke und einen mannigfaltigen Reichtum der handelnden Individuen“ erfordern, andererseits auch dazu führen, dass das „Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln“ abnehme.

Das Gegenteil von Freiheit - Handeln in einförmigen Massen

Humboldt erkennt bei einem Blick in die Geschichte der Staatsverfassungen, dass „die Freiheit des Privatlebens immer in eben dem Grade steigt, in welchem die öffentliche sinkt.“

Den Unterschied zwischen den „älteren und neueren Staaten“ sieht Humboldt darin, dass „die Alten“ für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen sorgten, „die Neueren“ dagegen „für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbstätigkeit“. „Die Alten suchten Tugend, die Neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein.“ Auf der anderen Seite aber „erhielten und erhöhten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei den Alten die tätige Kraft des Menschen.“

Humboldt beobachtet nun, dass zu seiner Zeit die Einflussnahme der Staaten auf beides zielt, „auf das, […] was der Mensch besitzt“ und „auf das, was er ist.“ Auf diese Weise würde die „physische, intellektuelle und moralische Kraft“ und die „Energie, welche gleichsam die Quelle jeder tätigen Tugend, und die notwendige Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren Ausbildung“ ist, unterdrückt.

Demgegenüber stehe das Bild des Menschen in der griechischen und römischen Antike, an der vor allem "die Größe, welche immer mit dem Leben eines Menschen einhergehe, die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt. Der Mensch und zwar seine Kraft und Bildung war es, welche jede Tätigkeit rege macht."

Zwischen Tugend und Vergngügen: Herkules am Scheideweg
(
Gemälde von Annibale Carracci, 1596)

Schließlich trifft Humboldt die Unterscheidung, die den weiteren Fortgang seiner Abhandlung bestimmt: Es sei unter Staatsrechtlern stets darüber gestritten worden, „ob der Staat allein Sicherheit, oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichtigen müsse."

Eine „Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens“ findet sich vorwiegend bei denen, die sich für die Sicherheit als vornehmliche Aufgabe des Staates aussprechen, während die Idee, „dass der Staat mehr, als allein Sicherheit gewähren könne“ in den meisten Fällen zu einem „Missbrauch in der Beschränkung der Freiheit“ geführt habe.

Ein Blick in die „Geschichte der Verordnungen der meisten Staaten“ macht dies deutlich: „Ackerbau, Handwerke, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaft selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat.“

Diesen Anspruch des Staates zu überprüfen ist die Aufgabe, die sich Humboldt mit dieser Abhandlung gestellt hat.


Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel I und II   -   Weitere Literatur: Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein: „Über diezweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“ (Nassauer Denkschrift), Nassau 1807.