Donnerstag, 30. Mai 2013

Francis Fukuyama und das Ende der Geschichte


Der 1952 in Chicago geborene Politikwissenschaftler Francis Fukuyama galt in den 80er und 90er Jahren als einer der intellektuellen Vordenker der us-amerikanischen Außenpolitik. Auf einen Schlag bekannt wurde er durch seine These vom Ende der Geschichte - das er mit dem Sieg der westlichen liberalen Demokratie gleichsetzt -, die er 1989 zunächst in einem Aufsatz in der renommierten Europäischen Rundschau vorgestellte und dann in dem gleichnamigen Buch (1992) ausarbeitete.

Francis Fukuyama
Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Beobachtung einer langen Reihe ideologischer Konflikte, „als es der Liberalismus zunächst mit den Resten des Absolutismus zu tun hatte, dann mit dem Bolschewismus und dem Faschismus, und schließlich mit einem erneuerten Marxismus, der der Apokalypse eines nuklearen Kriegs zuzusteuern drohte.“ Nun jedoch würde das 20. Jahrhundert wieder zu seinen Anfängen zurückkehren, d.h. „zu einem klaren Triumph des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus“, der sich vor allem „in der völligen Erschöpfung aller Alternativen“ zeigt.

In dieser Entwicklung sieht nicht einfach nur den Abschluss einer historischen Epoche, etwa der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte schlechthin: „das heißt, das Ende der ideologischen Entwicklung der Menschheit, so wie der allgemeinen Einführung der westlichen liberalen Demokratie als finaler Regierungsform.“

Fukuyamas Aufsatz erschien im Sommer 1989, also noch vor dem Fall der Berliner Mauer. Die nachfolgende politische Entwicklung gab Fukuyama eindeutig Recht: Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Überführung der Staates des Warschauer Paktes in Demokratien, aber auch die blutige Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, all dies passte perfekt in die Theorie Fukuyamas.

Der Anfang vom Ende der Geschichte: Der Fall der Berliner Mauer ...
Selbstverständlich bedeute das Ende der Geschichte nicht, dass es keine weiteren Entwicklungen mehr geben werde, „denn der Sieg des Liberalismus erfolgte vor allem im Bereich der Ideen oder des Bewusstseins“, aber sein Triumph sei in der realen und materiellen Welt natürlich noch unvollständig. Dennoch ist der am Ende der Geschichte erscheinende Staat notwendig liberal, weil nur er „auf dem Weg des Gesetzes das allgemeine Menschenrecht der Freiheit anerkennt und schützt, und indem er nur durch den Konsens der Regierten besteht.“

Totalitäre Systeme, wie Kommunismus und der Faschismus, haben nicht nur jegliche Anziehungskraft verloren, sondern sind auch inhärent zum Scheitern verurteilt, weil sie den Grundgedanken des Liberalismus widersprechen: Grundrechte gleichermaßen als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und als Schutz- und Teilhaberechte, Rechtsstaatsprinzip und freie Marktwirtschaft.

Fukuyama gibt unumwunden zu, dass es auch in den liberalen Demokratien materielle Unterschiede gibt, die sich in den letzten Jahren teilweise sogar verbreitert hätten. Andererseits behauptet er, dass „die eigentlichen Ursachen der wirtschaftlichen Ungleichheit nichts mit der ihnen zugrunde liegenden rechtlichen und gesellschaftlichen Struktur unserer Gesellschaft zu tun haben, sondern vielmehr mit den kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten der Gruppen, aus denen sie zusammengesetzt ist, die ihrerseits ein historisches Erbe früherer Verhältnisse darstellen.“

Die Armut der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten sei also kein Ergebnis des Liberalismus, sondern vielmehr das Erbe der Sklaverei und des Rassismus, die der Liberalismus zwar auf der ideellen Ebene überwunden habe, dessen materiellen Auswirkungen gleichwohl noch fortdauerten.

Hochinteressant ist schließlich, dass Fukuyama schon frühzeitig ideologische Konkurrenten des Liberalismus ausmachte, deren Gefährdungen für die demokratische Gesellschaft mittlerweile von einer großen Mehrheit so gesehen werden. Zu diesen Konkurrenten zählt Fukuyama den islamistischen Fundamentalismus.

Konkurrent Islamischer Fundamentalismus (?)
So könnte man meinen, „dass die Wiederbelebung des Religiösen irgendwie eine breite Unzufriedenheit mit der Unpersönlichkeit und der geistigen Leere der liberalen Konsumgesellschaft verrät. Aber während die Leer im Kern des Liberalismus sicherlich einen ideologischen Defekt darstellt – in der Tat einen Mangel, den man auch ohne den religiösen Blickwinkel erkennen kann -, so ist doch keineswegs erkennbar, dass dem auf dem Weg der Politik abgeholfen werden könnte“, wie in der unheilvollen Verbindung von Staat und Religion im Iran deutlich werde.

Die These vom theokratischen Staat als politische Alternative zum Liberalismus wirke jedoch auf Nichtmoslems kaum anziehend, so dass es nicht vorstellbar sei, „dass diese Bewegung universale Bedeutung bekommen könnte“, denn schließlich sei das gerade der Vorteil des Liberalismus, dass er individuelle religiöse Bedürfnisse innerhalb der Gesellschaft innerhalb der zulässigen Lebensformen auch befriedigen könne.

Trotz aller berechtigten Kritik an Fukuyamas Standpunkt ist die Lektüre von „Das Ende der Geschichte“ nachwievor lohnend, auch wenn man ein gesundes Misstrauen gegenüber hermetischen geschichtsphilosophischen Theorien hegt.  

Letztlich muss sich jeder gesellschaftspolitische Vorschlag daran messen lassen, ob es ihm gelingt, die Bedürfnisse der Menschen hinreichend abzudecken und zugleich bei ihnen ein Gefühl von Anerkennung und Selbstwertgefühl entstehen zu lassen, das sie ihr Leben so führen lässt, wie sie es selbst für richtig halten.

Zitate aus: Francis Fukuyama: „Das Ende der Geschichte?“, in: Europäische Rundschau, Jg. 17, H. 4, Wien 1989  -  Weitere Literatur: Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2001 (beck´sche Reihe)

Donnerstag, 23. Mai 2013

Friedrich Nietzsche und das Gefühl der persönlichen Verpflichtung

Wie so häufig bei selbsternannten Propheten zu beobachten ist, versucht auch David Graeber in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, alle vergangenen und gegenwärtigen Prozesse der Weltgeschichte auf einige wenige Grundprinzipien zu reduzieren.

So seien Graeber zufolge Schuld, Schulden und Schuldverhältnisse letztlich die treibende Kraft in der Geschichte, die nicht nur für die Genese von Gewalt- und Machtstrukturen politischer und religiöser Art verantwortlich sind, sondern die letzte Ursache gleichermaßen für Institutionen, Kolonisationen und Revolutionen sind. Das Problem ist, das solch allzu plausibler Blick der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit nicht gerecht werden kann.

Zudem ist ein roter Faden, der den Leser durch die Lektüre des Buches führt, nicht erkennbar, weil Graeber sich oft in - zugegeben vielen und teilweise skurrilen - Details verzettelt. Sein Stil ist langatmig und das Lesen eher anstrengend und ermüdend.

Friedrich Nietzsche (1844 - 1900)
Gleichwohl sind einige Hinweise Graebers durchaus von Interesse, so beispielsweise die überraschende Zeugenschaft Nietzsches im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des Geldes, die Nietzsche gewissermaßen en passent in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) beschreibt.

So habe, Nietzsche zufolge, das Gefühl der Schuld und der persönlichen Verpflichtung, „seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis, das es gibt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person.“

So habe man keinen noch so niederen Grad von Zivilisation aufgefunden, in dem nicht schon diese Verhältnisse bemerkbar würden: „Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maße das allererste Denken des Menschen präokkupiert, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist.“

Nietzsche sieht hier den Ursprung menschlichen Scharfsinn und ebenfalls den ersten Ansatz menschlichen Stolzes, das sein Gefühl des Vorrangs gegenüber anderen Lebewesen begründete: „Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch« (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werte misst, wertet und misst, als das `abschätzende Tier an sich´.“

Für Nietzsche sind Kauf und Verkauf einschließlich „ihrem psychologischen Zubehör“ eindeutig älter als selbst die Anfänge der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Verbände. Vielmehr habe sich „aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts … das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Komplexe (in deren Verhältnis zu ähnlichen Komplexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen.“

Aber Nietzsche ging noch weiter, denn er war überzeugt, dass auch die menschliche Moral im Zusammenhang des Verhältnisses Gläubiger-Schuldner entstanden sei. Dazu wies er auf die doppelte Bedeutung des Wortes Schuld hin, denn „Schulden haben“ meint ebenso „schuldig sein“ und in beiden Fällen ist „Strafe“ bzw. „Sühne“ eine notwendige Konsequenz.

"Schuldknechtschaft" in einer Bilderhandschrift des Sachsenspiegels

Als die Menschen schließlich begannen, Gemeinschaften zu bilden, so Nietzsche weiter, begannen sie wie selbstverständlich, das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft in den Begriffen „Schuld“ und „Schulden“ zu formulieren. Dabei folgt Nietzsche mehr oder weniger der sogenannten Theorie von den Urschulden:

„Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere und in Sonderheit gegen die früheste, geschlecht-begründende eine juristische Verpflichtung an (und keineswegs eine bloße Gefühls-Verbindlichkeit. … Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, – und dass man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vorteile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es gibt kein `Umsonst´ für jene rohen und `seelenarmen´ Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor Allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle –: gibt man ihnen je genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst.“

Die Argumentation ist klar und einfach erkennbar: Die Gemeinschaft garantiert dem Menschen Frieden und Sicherheit. Deshalb steht jeder Einzelne in ihrer Schuld. Um `seine Schuld gegenüber der Gesellschaft zu begleichen´, muss man ein `Opfer erbringen´, das beispielsweise darin besteht, den Normen und Gesetzen der Gemeinschaft zu gehorchen.

Das Problem aber sei, dass das Gefühl bleibt, wir könnten den Vorfahren oder der jetzigen Gemeinschaft niemals die Schuld zurückzahlen und kein noch so großes Opfer in der Lage wäre, uns jemals zu erlösen, so dass schließlich „mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der `ewigen Strafe´) konzipert ist.

Das Problem der Unabzahlbarkeit der Schuld führt zur Notwendigkeit der Erlösung ...

An dieser Stelle zieht Nietzsche nun den Bogen zu „jenem Geniestreich des Christentums“, nach dem „Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!…“

Wie schon anfangs gesagt: Eigentlich geht es Nietzsche nicht so sehr um die Entstehungsgeschichte des Geldes, um Kredit und Schulden, sondern sein Ziel ist vielmehr die Entstehung der Moral und hier insbesondere den Begriff der `Erlösung´ zu begreifen, wie also das nagende Gefühl von Schuld umschlägt in eine Sehnsucht nach Erlösung.

Schließlich habe `Erlösung´ nichts mehr mit Rückkauf  zu tun, sondern eher mit der vollständigen Vernichtung der Buchführung.

Zitate aus: Friedrich Wilhelm Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, online im Projekt Gutenberg

Donnerstag, 16. Mai 2013

Karl Marx und die britische Herrschaft in Indien


Karl Marx (1818 - 1883)
Karl Marx hat sich mit der britischen Herrschaft in Indien in mehreren Zeitungsartikeln beschäftigt, die im Sommer 1853 in der New-York Daily Tribune erschienen. Vor allem seine Anmerkungen in „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ (vom 8. August 1853) enthalten einige sehr überraschende Beobachtungen, die so gar nicht in das Bild von der unauflöslichen Einheit von Kommunismus und Antiimperialismus zu passen scheinen.

Die Tatsache, dass Indien seine Unabhängigkeit verlor, ist für Marx die unausweichliche Folge aus einer Kette historischer Ereignisse: „Wie ist es zur Errichtung der englischen Herrschaft in Indien gekommen? Die unumschränkte Gewalt des Großmoguls wurde durch des Moguls Vizekönige gebrochen. Die Macht der Vizekönige wurde durch die Marathen gebrochen. Die Macht der Marathen wurde durch die Afghanen gebrochen, und während ein Kampf aller gegen alle tobte, brach der Brite ins Land ein und wurde in die Lage versetzt, sie alle unter seine Gewalt zu bringen.“

Marx zufolge scheint es unabwendbar, dass „ein Land, das nicht nur zwischen Moslems und Hindus, sondern auch zwischen Stamm und Stamm, zwischen Kaste und Kaste geteilt war, eine Gesellschaft, deren Gefüge auf einer Art Gleichgewicht beruhte, die aus allgemeiner gegenseitiger Abstoßung und konstitutioneller Abgeschlossenheit aller ihrer Mitglieder herrührte“, schließlich die Beute von Eroberern werden musste.

Flagge Britisch-Indiens
Aber Marx geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass „die indische Gesellschaft … überhaupt keine Geschichte, zum mindesten keine bekannte Geschichte“ habe, denn „was wir als ihre Geschichte bezeichnen, ist nichts andres als die Geschichte der aufeinanderfolgenden Eindringlinge, die ihre Reiche auf der passiven Grundlage dieser widerstandslosen, sich nicht verändernden Gesellschaft errichteten.

Er beobachtet, dass die anderen Völker, die Indien nacheinander überrannten, wurden „rasch hinduisiert wurden, denn einem unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge werden barbarische Eroberer selbst stets durch die höhere Zivilisation der Völker erobert, die sie sich unterwarfen.“ Marx scheut sich nun nicht zu behaupten, dass die britischen Eroberer ihrerseits die ersten waren, „die auf einer höheren Entwicklungsstufe standen und daher der Hindu-Zivilisation unzugänglich waren.“

Von diesen Prämissen ausgehend behauptet Marx nun, dass England in Indien eine „doppelte Mission“ zu erfüllen habe, „eine zerstörende und eine erneuernde - die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen (!) Gesellschaftsordnung in Asien.“

Ohne Zweifel steht einerseits fest, dass die Briten die indische Gesellschaftsordnung zerstörten, „indem sie die einheimischen Gemeinwesen zerschlugen, das einheimische Gewerbe entwurzelten und alles, was an der einheimischen Gesellschaftsordnung groß und erhaben war, nivellierten.“

Indische Dorfszene

Besondere Aufmerksamkeit widmet Marx der Auflösung des indischen Dorfsystems, „dieser kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten Gemeinwesen.“ Die Bewertung dieser nach Marx „einzige sozialen Revolution, die Asien je gesehen“ fällt nicht unbedingt negativ aus: „Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden, … so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten.“

Vor allem aber dürfe man nicht unterschlagen, „dass diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, dass sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, dass sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebenes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank.“

Für Marx steht andererseits ebenso fest, dass das Werk der Erneuerung „unter den Trümmern bereits begonnen hat.“ Die erste Voraussetzung für diese Erneuerung ist für Marx die politische Einheit Indiens, die – „durch das britische Schwert aufgezwungen“ - auf unterschiedliche Weise sichtbar ist:

  • „Die von britischen Unteroffizieren aufgestellte und gedrillte Eingeborenenarmee war die sine qua non für Indiens Selbstbefreiung und dafür, dass Indien künftig nicht mehr dem ersten besten fremden Eindringling als Beute anheimfällt.
  • Die freie Presse, die erstmals in eine asiatische Gesellschaft Eingang gefunden hat und hauptsächlich von gemeinsamen Nachkommen der Hindus und der Europäer geleitet wird, ist ein neuer machtvoller Hebel der Erneuerung. (...)
  • Aus den in Kalkutta … unter englischer Aufsicht erzogenen indischen Eingeborenen wächst eine neue Klasse heran, welche die zum Regieren erforderlichen Eigenschaften besitzt und europäisches Wissen in sich aufgenommen hat.


Auch heute noch in Betrieb: die Darjeeling Himalayan Railway


  • Die Dampfkraft hat Indien in regelmäßige und rasche Verbindung mit Europa gebracht, sie hat Indiens wichtigste Häfen mit denen des ganzen südöstlichen Ozeans verknüpft und es aus der isolierten Lage befreit, die der Hauptgrund seiner Stagnation war.“
  • Schließlich erwähnt Marx noch den Ausbau der Bewässerungsanlagen und inneren Verkehrswege, vor allem dem Netz von Eisenbahnen, denn es „ist eine allbekannte Tatsache, dass die Produktivkräfte Indiens durch den hochgradigen Mangel an Transportmitteln und Austauschmöglichkeiten für seine mannigfaltigen Erzeugnisse lahmgelegt sind. Nirgendwo ist schlimmeres soziales Elend inmitten einer üppigen Natur anzutreffen als in Indien, und das aus Mangel an Austauschmöglichkeiten.“

Marx gibt zu, dass alle Maßnahmen, die die Briten in Indien umgesetzt haben oder noch werden, die Voraussetzungen dafür schaffen werden, dass sich die Freiheit und die soziale Lage des Volkes verbessern werden. Er gibt aber auch zu bedenken – und in diesem Fall sollten seine „Prophezeiungen“ ausnahmsweise Recht bekommen -, dass diese Entwicklungen unweigerlich dazu führen werden, dass die Inder irgendwann „stark genug sein werden, um das englische Joch ein für allemal abzuwerfen.“

So erwartet Marx „mit aller Bestimmtheit“, dass „wir in mehr oder weniger naher Zukunft Zeugen einer Erneuerung dieses großen und interessanten Landes sein werden“, ein Land, das „die Wiege unserer Sprachen, unserer Religionen gewesen (ist), und dessen Bewohner „im Dschat den Typus des alten Germanen und im Brahmanen den des alten Griechen verkörpert.“

Zitate aus: Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3840 vom 8. August 1853  -  Die britische Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3804 vom 25. Juni 1853 -  Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte und die Resultate ihres Wirkens, "New-York Daily Tribune" Nr. 3816 vom 11. Juli 1853 

Donnerstag, 9. Mai 2013

Aristoteles und die Freundschaft


Aristoteles
In der Antike war die Freundschaft von elementarer Bedeutung. Jeder war auf das Wohlwollen eines anderen angewiesen, nicht nur derjenige, der in Ämter gewählt werden wollte. Cicero widmete sich dem Thema in seinem Büchlein „Laelius“. Für die griechische Polis behandelt Aristoteles das Thema der Philía im achten und neunten Buch seiner Nikomachischen Ethik.

Im Altgriechischen bedeutet das Wort „φιλíα“ (Philía) sowohl „Freundschaft“ als auch „Liebe“. Diese begriffliche Unschärfe führt dazu, dass wir heutzutage eine Reihe der in der Antike als „Freundschaft“ bezeichneten Verhältnisse nicht mehr unbedingt als Freundschaften bezeichnen würden.

Aristoteles unterscheidet drei Formen der Philía: „Gegenstand der Liebe kann nur das Liebenswerte sein, und als solches gilt, was wertvoll, lustvoll oder nützlich ist.“

Die nützliche Philía beruht auf beiderseitigem Interesse und Nutzen. Entscheidend für das Fortbestehen der Freundschaft ist Verhalten nach dem Muster Aktion-Reaktion. So kann sich die Freundschaft progressiv entwickeln, wenn beide zurückbekommen, was sie gegeben haben, sie kann aber auch regressiv sein, ist die Reaktion, wenn die gegenseitigen Freundschaftsdienste abnehmen:

„Freunde, die den Nutzen als Zweck verfolgen, trennen sich, sobald der Nutzvertrag aufhört, denn nicht miteinander waren sie befreundet, sondern mit dem Gewinn.“

Harmodios und Aristogeiton - Freunde und Tyrannenmörder

Die zweite Form der Philía gründet auf beiderseitigem Vergnügen. So habe diese Freundschaft eine gewisse Ähnlichkeit mit der nützlichen Liebe, denn die durch Freundschaft Verbundenen „empfangen voneinander die gleiche Gegengabe, die Lust.“

Gleichwohl findet sich die Freundschaft um der Lust willen auch bei den Menschen, die sich durch Trefflichkeit (gr. ἀρετή) auszeichnen und daher die wertvolle und vollkommene Form der Liebe leben:

„Vollkommene Freundschaft ist die der trefflichen Charaktere und an Trefflichkeit einander Gleichen. Denn bei dieser Freundschaft wünschen sie einander dem anderen in gleicher Weise das Gute, aus keinem anderen Grunde, als weil sie eben trefflich sind, und trefflich sind sie `an sich´, wesensmäßig.“

So seien Menschen, die dem Freunde um des Freundes willen das Gute wünschen, die „echtesten Freunde“.

Zwei Freunde
„Freundschaft dieser Art ist, so darf man mit gutem Grund sagen, ein Wert, der dauert, denn in ihr treffen alle Grundvoraussetzungen der Freundschaft zusammen: Jede Freundschaft hat ja einen Wert oder eine Lust zum Ziel – beides entweder an sich oder auf den bezogen, der die Freundschaft erlebt – und beruht auf einem gewissen Grad von Wesensgleichheit.“

So sei diese auf beiderseitiger Anerkennung beruhende Freundschaft die höchste und edelste Form der Freundschaft unter den Menschen.

„Man sieht: Um der Lust und um des Nutzens willen können auch (a) Minderwertige miteinander befreundet sein und (b) Gute mit Minderwertigen und (c) Leute, die weder das eine noch das andere sind, mit Menschen von gleichgültig welchem Charakter. Jedoch um ihrer selbst willen offenbar allein die Guten. Denn Menschen minderen Wertes können sich aneinander nicht freuen, außer es käme irgendwie ein Nutzen dabei heraus.“

Zitate aus: Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1155bff, Stuttgart 1969 (Reclam)  -  Weitere Literatur: Anthony W. Price: Love and Friendship in Plato and Aristotle, Oxford 1989 (Clarendon Press)

Donnerstag, 2. Mai 2013

Walter Benjamin und die Kritik am Fortschrittsoptimismus


Paul Klee (1879 - 1940)
Das Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee entstand im Jahr 1920. Es befindet sich seit 1989 im Israel-Museum in Jerusalem, hat aber eine äußerst bewegte Geschichte erfahren.

Das Bild war im 1920 in der Paul Klee Werkschau in der Galerie Hans Goltz in München ausgestellt. Walter Benjamin erwarb es Mitte 1921 für 1000 Reichsmark und stellte es zunächst bei seinem Freund Gershom Scholem unter. Im November 1921 schickte Scholem die Zeichnung nach Berlin, wo sich Benjamin eine neue Wohnung einrichtete.

Im September 1933 ging Benjamin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ins Exil nach Paris und ließ das Bild zurück. Seine Freunde konnten es ihm aber schon 1935 nachbringen. Als Benjamin Paris vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 verlassen musste, blieb das Bild wiederum zurück. Der französische Schriftsteller Georges Bataille versteckte es schließlich in der Bibliothèque Nationale de France

Benjamin nahm sich 1940 das Leben. Gegen Ende des Krieges gelangte die Zeichnung mit weiteren Unterlagen an Theodor W. Adorno in New York, der sie später an Gershom Scholem weitergab. Benjamin hatte dies in seinem Testament aus dem Jahr 1932 ausdrücklich so gewünscht. Der Angelus Novus hing bis zu Scholems Tod in dessen Wohnung in Rehavia, Jerusalem, dann wurde es dem Israel-Museum geschenkt.

Der Angelus Novus gehört zu der von Klee geschaffenen Motivgruppe von Engeln, die etwa fünfzig, zwischen 1915 und 1940 entstandene Werke umfasst. Auffällig an der gezeichneten Gestalt sind der übergroße Kopf, die emporgestreckten Arme, die nur leicht ein Paar Flügel andeuten, und die rudimentären Beine mit an Vogelfüße erinnernden drei Zehen. 

Ausgestaltet sind Augen, Nase, der geöffnete Mund mit sichtbaren Zähnen, Ohren und der Hals. Die Haare sind durch parallele Strichführung geordnet und wirken zugleich „vom Sturm zerzaust.“ Der Blick der Figur geht aus dem Bildraum heraus und am Betrachter vorbei.


Paul Klee: Angelus Novus (1920)



Paul Klees Werk hatte bereits früh starken Eindruck auf Walter Benjamin ausgeübt. Er nutzte den Angelus Novus zu vielschichtigen Reflexionen und Denkbildern. Eine besondere Rolle übernahm das Bild in Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, die in dem Werk „Über den Begriff der Geschichte“ 1955 postum erschienen sind.

Im Gegensatz zu den meisten Marxisten vertrat Benjamin eine pessimistische Geschichtsauffassung, in der aber auch der religiöse Gedanke einer Erlösung vom menschlichen Leiden begegnet.

Walter Benjamin
In der 9. seiner 18 geschichtsphiloso-phischen Thesen illustriert Benjamin sein Geschichtsverständnis anhand des Bildes von Paul Klee.

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt.

Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.

Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“


Literatur: Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Rolf Tidemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 697-698. -  Ingrid Riedel: Engel der Wandlung: Die Engelbilder Paul Klees, Freiburg im Breisgau, 2000 (Herder)