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Donnerstag, 9. Juli 2015

Rüdiger Safranski und das Individuum in einer globalisierten Welt - Teil 2

Rüdiger Safranski (* 01.01.1045)
In seinem kleinen Buch „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch“ versucht Rüdiger Safranski, Freiräume für ein Gleichgewicht und für Handlungsfähigkeit zu beschreiben, die es dem Individuum möglich machen, in einer globalisierten Welt gut zu leben. Er geht dabei von der Prämisse aus, dass sich Globalisierung nur gestalten lässt, wenn darüber nicht die andere große Aufgabe versäumt wird: das Individuum, sich selbst zu gestalten.

Denn dem Individualismus, also dem Gedanken, daß die Verschiedenheit der Menschen „nicht nur ein Faktum darstellt, sondern ein bewahrenswertes Gut, einen Reichtum“, drohen durch die Globalisierung vielfältige Gefahren.

Die globale Informationsgemeinschaft hält uns jeden Tag vor Augen, dass die Menge der Reize und Informationen unseren möglichen Handlungskreis dramatisch überschreitet. „Der durch Medienprothesen künstlich erweiterte Sinnenkreis hat sich vollkommen vom Handlungskreis losgelöst. Man kann handelnd nicht mehr angemessen darauf reagieren, also die Erregung in Handlung umsetzen und abführen.“

Aber: Das Nichtwissen-Können kann das  Handeln des Individuums nicht mehr schützen, denn bekanntlich hängt ja alles mit allem zusammen.“

Natürlich könne der Einzelne allein nach außen hin nicht viel bewirken. Was er aber tun könne, ist, auf sich selbst zu wirken und versuchen, sich gegen fatale Wirkungen von außen abzuschirmen, denn: „Über die Lebbarkeit im Hier und Jetzt entscheidet nicht nur die Struktur des Ganzen, sondern auch der Einzelne, der Spielräume entdecken kann, was nicht zwangsläufig bedeutet, daß er sie auch nutzt; und noch weniger muß das die Konsequenz haben, daß er sie geschickt und selbstbewußt ausweitet. Aber erst das würde bedeuten, daß er sich eine eigene Lichtung schlägt im Dschungel des Sozialen.“

" ... sich eine eigene Lichtung schlagen im Dschungel des Sozialen ..."

Die geistige Tradition bietet Safranski zufolge verschiedene Wege an, sich eine eigene Lichtung zu schlagen im Dschungel des Sozialen - wenn man die Lichtung als jenen Raum versteht, den der Einzelne braucht, um ein Individuum zu sein.

Einen dieser Wege zeigt Rousseau auf, „das Drama, das sich aus der Erfahrung der eigenen Freiheit ergeben kann. Aus der Lust an der eigenen Freiheit wird die Angst vor den vielen Freiheiten der Anderen. Rousseau geriet darüber in Panik.“

Genau aus diesem Grund träumte Rousseau „von der Gesellschaft als großer Kommunion, wo alle ein Herz und eine Seele sind und die vielen Freiheiten aufgehen in der einen großen Freiheit, in der alle zusammenstimmen.“

Das Problem ist, dass die eine große Freiheit in dem Sinne nicht existiert, sondern nur die, die jedes Individuum von innen her kennt: Seine Freiheit!

Alle Versuche, diese Sehnsucht nach der Gesellschaft als großer Kommunion in die Wirklichkeit umzusetzen, haben mit der Aufhebung der Freiheit geendet. „Das Einheitsverlangen, das kein Außerhalb und das heißt: keine Verschiedenheit mehr erträgt, muß, wenn es politisch wird, ins Gefängnis des Totalitären führen.“

Rousseau (1712 - 1778)
Es reicht also nicht, das eigene Selbst und die eigene Freiheit zu entdecken, sondern jedes Individuum steht auch vor der Aufgabe, „die Freiheit der Vielen und die Unberechenbarkeit, die sich daraus ergibt, ertragen können. Wer aber Freiheit zusammen mit der Freiheit der anderen will, wird die Differenzen hinnehmen und auf den gesellschaftlichen Einklang der Herzen verzichten müssen.“

Einen weiteren Versuch, sich eine Lichtung im Dschungel zu schlagen, hatte Karl Marx unternommen. Marx meinte in der Geschichte, im gesellschaftlichen Prozeß das ewige Gesetz Befreiung des Menschen entdeckt zu haben..

Seine Lichtung ist daher nicht in der Innerlichkeit der Selbsterfahrung, sondern sie ist jenes Licht am Ende des geschichtlichen Tunnels erkennbar. „Dort erst, so seine Vision, würde die Menschheit erwachen wie aus schweren Träumen. Bis dahin aber muß man mit längeren Fristen rechnen und sich strategisch geschickt mit der geschichtlichen Dynamik verbinden.“

Aber auch hier – wie schon bei Rousseau – hat sich das Licht am Ende des geschichtlichen Tunnels „als Irrlicht“ erwiesen. „Der real existierende Sozialismus war nicht die große Befreiung, sondern ein graues und grausames Völkergefängnis, terrorisiert oder bevormundet von einer ideologischen Elite.

Weil in dem Begriff „Lichtung“ nicht zuletzt der Gewinn von Freiheit und Souveränität enthalten ist, hat der kommunistische Weg von einer solchen Lichtung weggeführt. 

Worin kann also der Sinn bestehen, eine Lichtung zuschlagen? Safranski gibt eine vorsichtig optimistische Antwort: Es bedeutet, „im Gewimmel der Geschichten die eigene Geschichte zu entdecken, energisch festzuhalten und ihren Faden fortzuspinnen im Bewußtsein, daß sich die eigene Geschichte doch im Gewirr der vielen Geschichten verstricken und am Ende verlieren wird.“

Mit dieser Antwort nimmt Safranski zugleich Abschied von „der Illusion, daß es eine Lichtung als Kommandohöhe gibt, von der aus Geschichte insgesamt gesteuert werden könnte.“

„Eine Lichtung schlagen“ kann dann auch bedeuten, Verhaltens- und Denkweisen zu pflegen, die sich von der globalistischen Hysterie nicht vereinnahmen lassen, darunter die Verlangsamung, den Eigensinn, den Ortssinn, das Abschalten, das Unerreichbar-Sein.

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
Was es bedeutet, ein Individuum zu werden, hat Wilhelm von Humboldt kurz vor seinem Tod in einem Brief formuliert: „Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: `Ich habe soviel Welt, als ich konnte, erfaßt und in meine Menschheit verwandelt´, der hat sein Ziel erreicht. Die Welt in die `Menschheit´, die man selbst ist, zu verwandeln, darauf kommt es an.“

Humboldt nach ist eben die grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des Individuums die Fähigkeit, daß jeder eine Idee von der Gestaltung des eigenen Lebenskreises hat. Erst mit Hilfe dieser Idee kann dann die Fülle der Reize und Informationen vorsortiert, ausgeschieden und verarbeitet werden.

„Diese Kraft zur Gestaltung des eigenen Lebens nannte man früher `Bildung´ - und die Griechen nannten sie `Paideia´. Bildung ist Entfaltung des Individuums und damit ein Selbstzweck. Ausbildung demgegenüber ist ein Mittel zur Qualifikation für den Arbeitsprozeß.

Beides – Bildung und Ausbildung – sind notwendig, aber „während die Ausbildung uns in ein externes Netz verknüpft, ist die Bildung die Entfaltung jenes Netzwerkes, das jeder für sich selbst ist.“

Weil die Globalität uns mit immer mehr Wirklichkeit in Berührung bringt, wird es immer schwerer, hier die eigene Souveränität zu bewahren. In diesem Sinne wäre für Safranski derjenige souverän, der „selbst darüber entscheidet, worin er sich verwickeln und was er auf sich beruhen läßt. Diese Souveränität setzt existentielle Urteilskraft voraus. Man muß nämlich ein Gespür für das haben, was einen wirklich angeht; muß Abstufungen der Dringlichkeit unterscheiden und die Reichweite des eigenen Handelns erkennen können.“

Demgegenüber besteht die Globalisierungshysterie gerade darin, daß diese Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem existentiell Nahen und Fernen beeinträchtigt oder gar schon zerstört ist. „Das meinte Goethe mit seinem Hinweis, es sei immer ein Unglück, wenn der Mensch veranlaßt werde, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.“

Die Bewahrung des Eigensinns ist
wie ein Leben auf dem Grat ...
(Karl Jaspers)
Solange man unter der Suggestion des Satzes von Adorno „Es gibt kein richtiges Leben im falschen...“ steht, ist es sehr schwer, den Mut zu finden, auf eigene Faust das für einen selbst Richtige, jene Selbsttätigkeit, zu ergreifen. „Wer sich aber seine Lichtung schaffen will im Dschungel des Sozialen und im Überwuchs globaler Kommunikation, wird nicht ohne lebenskluge Begrenzung auskommen können.“

Derjenige, der sein Leben als ein eigenes und individuelles Leben gestalten will, muß den Punkt kennen, wo er aufhört, sich formatieren und informieren zu lassen. „Die Schwierigkeit bei der Bewahrung des Eigensinns vergleicht Karl Jaspers mit dem Leben auf dem Grat, von dem man abstürzen kann, entweder in den bloßen Betrieb oder in ein wirklichkeitsloses Dasein neben dem Betrieb.“

In der individuellen Lebenszeit entscheidet sich für den Einzelnen alles.


Zitate aus: Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt a.M. 2004 (Fischer tb)

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Karl Marx und die revolutionäre Prophezeiung

In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1951) setzt sich Albert Camus mit den Ideologien auseinander, die nach innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört selbstverständlich auch Karl Marx und sein utopischer Messianismus, der letztlich nicht anderes ist, als eine bürgerliche Prophezeiung, die ihren Ursprung im Fortschrittsgedanken, im Wissenschaftsverständnis und der Kultur der Technik und der Produktion hat – also in den bürgerlichen Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben.

Karl Marx (1818 - 1883)
Gleichwohl ist Marxens Prophezeiung nicht nur bürgerlich, sondern in ihrem Prinzip auch revolutionär: „Da die ganze menschliche Wirklichkeit in den Produktionsverhältnissen ihren Ursprung hat, ist das geschichtliche Werden revolutionär, weil die Volkswirtschaft es auch ist.“

Das Schema ist bekannt: Die gesamte Wirklichkeit ist ein unendliches Werden, „unterbrochen vom fruchtbaren Stoß der Gegenkräfte, die jedes Mal in einer höheren Synthese gelöst werden, welche ihrerseits das Entgegengesetzte hervorruft und aufs Neue die Geschichte vorrücken lässt.“ Im Gegensatz zu Hegel wird die Dialektik also nicht unter dem Gesichtspunkt des Geistes, sondern unter demjenigen der Produktion und der Arbeit betrachtet. Die Originalität von Marx besteht daher „in der Behauptung, dass die Geschichte zu gleicher Zeit Dialektik und Wirtschaft ist.

Die historische Aufgabe der kapitalistischen Wirtschaft besteht nach Marx darin, die Bedingungen einer höheren Produktionsweise vorzubereiten. „Diese Produktionsweise ist nicht an sich revolutionär, sie ist nur die Krönung der Revolution.“

Kapitalistische Produktionsweise

Das Ende der Geschichte fällt dann mit einer Apokalypse zusammen: Die unvermeidliche Niederlage des Privatkapitalismus am Ende der Geschichte führt in eine Art Staatskapitalismus, der sich in den Dienst der Gemeinschaft stellt, „damit eine Gesellschaft entsteht, in der Kapital und Arbeit, künftig das Gleiche, mit der gleichen Bewegung Überfluss und Gerechtigkeit hervorbringen werden.“

Camus beschreibt hier den „unglaublichen Ehrgeiz des Marxismus“, „seine maßlosen Vorhersagen“, um zu verstehen, dass eine solche Hoffnung dazu zwingt, konkrete Probleme der jetzt lebenden Menschen zu vernachlässigen, weil sie zweitrangig erscheinen.

Denn jeder Sozialismus ist utopisch, „allen voran der wissenschaftliche Die Utopie ersetzt Gott durch die Zukunft. Sie identifiziert die Zukunft mit der Moral, der einzige Wert ist der, der dieser Zukunft dient.“ So kommt es, dass die Utopie immer autoritär und mit Zwangsausübung verbunden sein wird: „Der Messianismus muss gegen die Opfer aufgebaut werden.“

Romantik und klassenlose Gesellschaft
Mit blinder Romantik prophezeit Marx die klassenlose Gesellschaft und die Lösung des Geheimnisses der Geschichte. „Prophezeiungen können jedoch, sobald sie die lebendige Hoffnung von Millionen von Menschen wiedergeben, nicht ungestraft ohne Schlusspunkt bleiben. Es kommt eine Zeit, wo die Enttäuschung die geduldige Hoffnung in Wut verwandelt und wo das gleiche Ziel, das mit wütendem Eigensinn bejaht und noch unerbittlicher verlangt wird, zur Suche nach anderen Mitteln zwingt.“

Noch 1917 hatte Rosa Luxemburg verkündet: „Die Revolution wird sich morgen mit Getöse in ihrer ganzen Größe aufrichten und zu eurem Schrecken mit allen Trompeten verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein.“ Es kam bekanntlich anders. So muss Karl Liebknecht zugeben: „Die Zeit war nicht erfüllt.“ „Aber er sagt auch, und dabei erfassen wir, wie eine Niederlage den besiegten Glauben bis zur religiösen Verzückung aufpeitschen kann: `Beim Krachen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, dessen Grollen sich schon nähert, werden die eingeschlafenen Truppen der Proletarier aufwachen wie beim Fanfarenton des Jüngsten Gerichts, und die Leichname der umgebrachten Kämpfer werden auferstehen und Rechenschaft verlangen von den Fluchbeladenen.´“

Allein die russische Revolution bleibt übrig. Aber die Revolution darf sich nicht auf die Bauernklasse stützen, sondern auf die Arbeiterklasse. „Diese Vereinfachung sollte die Kulaken teuer zu stehen kommen, die mehr als fünf Millionen geschichtlicher Ausnahmen darstellten und alsbald durch den Tod oder die Deportation in die Regel wieder eingefügt wurden.“

Propagandaplakat für die Enteignung der Kulaken

So entfernte sich das Ende der Geschichte noch mehr. „Der Glaube ist unverletzt, aber er biegt sich unter einer riesigen Menge von Problemen und Entdeckungen, die der Marxismus nicht vorausgesehen hatte. Die neue Kirche steht aufs Neue vor Galilei: Um ihren Glauben zu bewahren, wird sie die Sonne leugnen und den freien Menschen demütigen.“

Aber auch das Proletariat hat nicht gehalten, was Marx sich von ihm versprochen hatte. Die Gewerkschaftsbewegung erreichte auf dem Wege der Reformen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Erhöhung des Lebensstandards. Mit Nachdruck weist Camus aber auch darauf hin, dass die „wirkungsvollste revolutionäre oder gewerkschaftliche Aktion immer die Angelegenheit von Arbeitereliten gewesen ist, die der Hunger nicht auspumpte“ – eine Beobachtung, die auch heute noch zutrifft.

Natürlich sind wir immer noch weit von einer sozial gerechten Welt entfernt, aber die elenden Lebensbedingungen der Textilarbeiter haben sich eben nicht, wie Marx prophezeite, auch noch verschlimmert. Marxens Irrtum bestand in dem Glauben, „das schwärzeste Elend, insbesondere das industrielle Elend, könne zur politischen Reife führen.“

Arbeiter in der DDR
Das Gegenteil ist zu beobachten: Immer mehr wurde die Revolution einerseits Bürokraten und Doktrinären ausgeliefert, andererseits musste sie sich auf geschwächte und richtungslosen Massen stützen. Dabei hat der industrielle Sozialismus - und auch nicht der spätere real existierende Sozialismus in der DDR – nichts Wesentliches für die Stellung des Arbeiters getan, denn er hat am Prinzip von Produktion und Arbeit nicht gerüttelt, sondern sie im Gegenteil sogar verherrlicht. Er konnte dem Arbeiter lediglich eine historische Rechtfertigung anbieten, die vergleichbar ist mit der Verheißung himmlischer Freuden für jemanden, der in den Bergwerken Sibiriens stirbt.

Statt den Menschen zum Schöpfer seines eigenen Schicksals zu erheben, hat der autoritäre Sozialismus „diese lebendige Freiheit zugunsten einer idealen, kommenden Freiheit in Beschlag genommen. Dadurch hat er, ob er es wollte oder nicht, die Versklavung verstärkt, die mit dem Fabrik-Kapitalismus begonnen hatte. So bestand Camus zufolge „die geschichtliche Mission des Proletariats während hundertfünfzig Jahren, ausgenommen im Paris der Kommune, dem letzten Zufluchtsort der revoltierenden Revolution, darin, verraten zu werden.“

So musste die revolutionäre Prophezeiung mit wissenschaftlichem Anspruch gerade deshalb scheitern, weil sie eben nicht wissenschaftlich war. Marx wollte gleichzeitig deterministisch und prophetisch sein, dialektisch und dogmatisch. Wenn aber die Theorie allein durch die Ökonomie determiniert ist, „kann sie die Vergangenheit der Produktion beschreiben, aber nicht ihre Zukunft, die nur wahrscheinlich bleibt. Aufgabe des historischen Materialismus kann nur die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft sein, über die zukünftige Gesellschaft kann er, ohne dem wissenschaftlichen Geist untreu zu werden, nur Vermutungen anstellen.“

Der Marxismus ist also nicht wissenschaftlich, sondern bestenfalls wissenschaftsgläubig. So ist es für Camus auch nicht verwunderlich, „dass man, um den Marxismus wissenschaftlich zu machen und diese im Zeitalter der Wissenschaft nützliche Fiktion aufrechtzuerhalten, mit dem Terror vorgehen musste.“

"Vernunft" im Dienst der Prophezeiung:
Die Inquisition
Das Prinzip, die wissenschaftliche Vernunft in den Dienst einer Prophezeiung zu stellen ist überdies nicht neu. Von ihm wurden die Kirchen geleitet, „wenn sie die wahre Vernunft einem toten Glauben und die Freiheit des Geistes der Erhaltung der zeitlichen Macht unterstellen wollten.“

Am Schluss bleibt von Marxens Prophezeiung nur die Behauptung übrig, die Fristen seien eben etwas länger „und man müsse erwarten, dass eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige. Mit anderen Worten sind wir im Fegefeuer, und man verspricht uns, es gäbe keine Hölle.“
   
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 259ff  

Donnerstag, 20. November 2014

Karl Marx und die bürgerliche Prophezeiung

Albert Camus (1913 - 1960)
Das Werk „Der Mensch in der Revolte“ von Albert Camus, erschienen 1951, ist eine Sammlung philosophisch-politischer Essays, in deren Zentrum die Beschreibung der „kollektiven Pest“ in Philosophie, Politik und politischer Theorie steht. Am Ende seiner Überlegungen steht die Erkenntnis Camus´, dass sich mit fanatischen Anhängern einer Ideologie oder eines Glaubens nicht diskutieren lässt, denn die einen streben nach innerweltlicher, die anderen nach außerweltlicher Erlösung.

Im Absoluten gefangen, entgeht beiden Camus zufolge die sich jeweils aktuell bietende, gleichwohl „nur“ relative Veränderungsmöglichkeit, deren Wahrnehmung vor allem eine fortgesetzte „Spannung“ und Aufmerksamkeit erfordert. Ein „gelobtes Land“ absoluter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit gibt es hier allerdings nicht zu entdecken. Besondere Aufmerksamkeit widmet Camus dabei Karl Marx und seiner bürgerlichen Prophezeiung.

Marx, das gibt Camus unumwunden zu, lieferte eine eindrückliche Analyse des primitiven Kapitalismus, des Leidens und des furchtbaren Elends, das er im England des 19. Jahrhunderts hervorrief. Das Problem von Marx aber entsteht in dem Augenblick, in dem er seine gültige kritische Methode mit „dem anfechtbaren utopischen Messianismus vermischte. Das Unglück ist, dass die kritische Methode, die ihrem Wesen nach der Realität angepasst gewesen wäre, sich immer mehr von den Tatsachen entfernte, insofern als sie der Prophezeiung treu bleiben wollte.“

Das Gesamtwerk von Marx und Engels, oder:
Die Unvereinbarkeit von kritischer Methode und utopischem Messianismus
 

Bekannt ist, dass Stalin 1935 die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe abbrach, weil die radikalen Frühschriften von Marx nicht ins enge Korsett des „Marxismus-Leninismus“ passten. Der Diktator ließ David Rjasanow, den Leiter des Projektes, verhaften und am 21. Januar 1938 hinrichten. Andere Mitarbeiter verschwanden in Stalins Gulag.
                                                         
So haben die Marxisten zur Prophezeiung und zur Apokalypse gegriffen, um eine marxistische Revolution ausgerechnet unter den Umständen zu verwirklichen, die Marx als für eine Revolution völlig ungeeignet vorhergesehen hatte. „Man kann von Marx sagen, dass die Mehrzahl seiner Voraussagen sich mit den Tatsachen nicht vereinbaren ließ, zur gleichen Zeit, als seine Prophezeiung Gegenstand eines wachsenden Glaubens war. Der Grund ist einfach: Die Voraussagen waren kurzfristig und konnten kontrolliert werden. Die Prophezeiung ist sehr langfristig und hat für sich, was die Festigkeit aller Religionen begründet: die Unmöglichkeit, Beweise zu erbringe.“ So ist die Prophezeiung immer dann die letzte Hoffnung, wenn alle Voraussagen einstürzen.

Camus macht an dieser Stelle eine entscheidende Beobachtung: „Marxens wissenschaftlicher Messianismus ist jedoch bürgerlichen Ursprungs. Der Fortschritt, die Zukunft der Wissenschaft, der Kultur der Technik und der Produktion sind bürgerliche Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben.“

Anne Robert Jacques Turgot
So habe schon Anne Robert Jacques Turgot, Ökonom der Aufklärung, in seiner Rede über den Fortschritt des menschlichen Geistes davon gesprochen, dass „die Gesamtheit des Menschengeschlechts … durch einen Wechsel von Ruhe und Erregung, von Gutem und Bösen stetig, wenn auch mit langsamem Schritt, zu einer größeren Vollkommenheit [schreitet].“ Und der Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft, Alexis de Tocqueville, ergänzt: „Die stufenweise und fortschreitende Entwicklung der Gleichheit ist die Vergangenheit und zugleich die Zukunft der Menschheitsgeschichte.“

Um zum Marxismus zu gelangen, müsse man lediglich Gleichheit durch Produktionshöhe ersetzen und sich vorstellen, dass auf der letzten Stufe der Produktion sich eine Umwandlung vollziehen und die ausgesöhnte Gesellschaft verwirklicht werden würde. Eigentlich hat Marx wohl wie kein anderer verstanden, „dass eine Religion ohne Transzendenz sich genaugenommen Politik nennt.“

Wenn man nun noch hinzufügt, dass Marx den bürgerlichen Nationalökonomen die ausschließliche Vorstellung von der industriellen Produktion in der Entwicklung der Menschheit verdankt, dass er das Wesentliche seiner Theorie vom Arbeitswert dem Werk des führenden Vertreters der klassischen Nationalökonomie, David Ricardo, entnimmt, wird man wohl zu Recht von einer „bürgerlichen“ Prophezeiung bei Marx sprechen dürfen.

Atomenergie und Elektrizität -
noch nicht im Blick von Marx
Marx hat seine Gedanken in einer Zeit entwickelt, die vom Darwin’schen Evolutionismus, der Dampfmaschine und der Textilindustrie geprägt war. „Hundert Jahre später stieß die Wissenschaft auf die Relativität, die Ungewissheit und den Zufall; die Volkswirtschaft musste die Elektrizität berücksichtigen, die Eisenhütten und die Produktion von Atomenergie.“ Heute müsste man Begriffe wie Globalisierung, Wissensgesellschaft oder auch Digitales Zeitalter ergänzen.

Weil der Marxismus daran scheiterte, sich diese Entdeckungen einzuverleiben, ist Camus zufolge der Anspruch der Marxisten einfach nur lächerlich, „hundert Jahre alte Wahrheiten, ohne Einbuße ihrer Wissenschaftlichkeit, starr aufrechtzuerhalten."
  
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 246ff  -   Zur Marx-Engels-Gesamtausgabe der interessante Artikel in der taz: „Schreiben für den Untergang“ 

Donnerstag, 6. Juni 2013

Karl Marx und die Arbeit


Die philosophischen Überlegungen von Karl Marx entstanden einerseits aus der Analyse der Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und andererseits aus seiner Kritik an der idealistischen Philosophie Hegels.

Marx und Engels
Die Philosophie selbst war für Marx eine revolutionäre Kraft, denn es kam eben weniger darauf an, wie die Philosophen bisher, „die Welt einfach nur zu interpretieren“, sondern vielmehr „sie zu verändern.“ Folglich versteht sich der Marxismus nicht nur als philosophische Gesellschafts- und Geschichtstheorie, sondern auch als politische Bewegung. Marx nahm zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels aktiven Anteil an der Entstehung einer organisierten Arbeiterbewegung.

Für Marx sind vor allem die materiellen Bedingungen des Lebens, vor allem aber die Arbeits- und Produktionsbedingungen, nicht nur die Grundlage sämtlicher Kulturentwicklung, sondern auch der Schlüssel zum Verständnis des Menschen.

Marx ist der erste Philosoph, der die materielle Arbeit in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt. Für ihn liegt in der schöpferischen Arbeit der Keim zur Selbstverwirklichung des Menschen, also zur selbstbestimmten individuellen Ausschöpfung aller in ihm steckenden Möglichkeiten. Die Lohnarbeit jedoch der kapitalistischen Wirtschaft ist für Marx dagegen die „entfremdete“ Form der Arbeit.

Daher war nach Marx der Arbeiterklasse, dem Proletariat, die historische Aufgabe zugedacht, diese Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, aber letztlich von sich selbst, zu überwinden und die Bedingungen für eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen, die Marx im Kommunismus verwirklicht sah.

Eine ausführliche Analyse der kapitalistischen Ordnung legte Marx in seinem dreibändigen Hauptwerk „Das Kapital“ (1867, 1885, 1894) vor.

Dort definiert Marx zunächst den Begriff der Arbeit: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch einen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber.“

Dadurch, dass sich der Mensch mittels seiner „leiblichen“ Werkzeugen (Kopf, Arme, Hände, Beine) in Bewegung setzt, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbare Form anzueignen, verändert er zugleich seine eigene Natur, denn: „Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit.“

Das Ergebnis der instinktiven Form der Arbeit

Marx spricht also von einer Form der Arbeit, die allein beim Menschen zu finden ist. Für ihn gibt es hier einen qualitativen Unterschied zu den instinktartigen Formen der Arbeit bei Tieren: „Eine Biene beschämt zwar durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, vor er sie in Wachs baut.“

Es ist also das Resultat des Arbeitsprozesses, das bereits beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters „ideell vorhanden“ war, das menschliche Arbeit von dem Instinktverhalten der Tiere unterscheidet.

Das Ergebnis ideeller Arbeit beim Menschen: Die Junkernschänke in Göttingen

So lässt sich der gesamte Arbeitsprozess auch als „zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bindung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens“ verstehen.

Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen betrachtet Marx nun den Arbeitsprozess in einem kapitalistischen System, der seiner Meinung nach „zwei eigentümliche Phänomene“ zeigt:

Zunächst arbeitet der Arbeiter „unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. Der Kapitalist passt auf, dass die Arbeit ordentlich vonstattengeht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden, also kein Rohmaterial vergeudet und das Arbeitsinstrument geschont, d.h. nur so weit zerstört wird, als sein Gebrauch in der Arbeit ernötigt.“

Nun aber bleibt das Ergebnis der Arbeit, das Produkt, das Eigentum des Kapitalisten und nicht des unmittelbaren Produzenten, also des Arbeiters: „Der Kapitalist zahlt z.B. den Tageswert der Arbeitskraft. Ihr Gebrauch, wie der jeder andren Ware, z.B. eines Pferdes, das er für einen Tag gemietet, gehört ihm also für den Tag. Dem Käufer der Ware gehört der Gebrauch der Ware, und der Besitzer der Arbeitskraft gibt in der Tat nur den von ihm verkauften Gebrauchswert, indem er seine Arbeit gibt. Von dem Augenblicke, wo er in die Werkstätte des Kapitalisten trat, gehörte der Gebrauchswert seiner Arbeitskraft, also ihr Gebrauch, die Arbeit, dem Kapitalisten.“

Hier sieht Marx den Kern der „Entfremdung“, denn durch den kapitalistischen Produktionsprozess einschließlich der industriellen Arbeitsteilung wird der Arbeiter zu einer Sache erniedrigt. Das Produkt seiner Arbeit wird ihm entzogen und ihm wird nur ein Teil des Gegenwertes seiner Arbeit als Lohn ausbezahlt. Der übrige Teil, der „Mehrwert“, fließt dem Unternehmer zu.

Eisenwalzwerk (Adolf von Menzel, 1875)

Weil diese Produktionsweise zur Entstehung von Klassen führt und zur Ausbeutung der einen Klasse durch die andere, ist Arbeit im Kapitalismus letztlich entfremdete und nicht schöpferische Arbeit.

Die schöpferische Freiheit sieht Marx im Kommunismus verwirklicht, den er mit dem „Reich der Freiheit“ gleichsetzt: „Das Reich der Freiheit beginnt … in der Tat erst da, wo das Arbeit, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.“ Für Marx ist klar, dass Freiheit erst dann bestehen kann, wenn der „vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, und unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden.“

Es war Hannah Arendt, die in ihrem Werk „Vita activa oder vom tätigen Leben“ die radikale Aufwertung der Arbeit, wie sie beispielsweise bei Marx zutage tritt, wieder revidierte. Arendt unterscheidet bekanntlich zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln und wirft der neuzeitlichen Philosophie vor, diese drei Tätigkeiten unzulässig miteinander vermischt zu haben.

Zwar definiert Arendt - ähnlich wie Marx  - die Arbeit als „biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen“, aber damit endet schon die Bedeutsamkeit der Arbeit als Tätigkeit des Menschen.

Über der „Arbeit“ steht das „Herstellen“, eine schöpferische Tätigkeit des Menschen, durch die er Dinge schafft, die von Dauer sind. Aber erst im Handeln erreicht der Mensch die Stufe der eigentlichen Selbstverwirklichung. Dies geschieht in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, deren höchste Form das politische Handeln ist – eine Vorstellung, die Arendt der antiken griechischen Philosophie entnahm.

So dürfe man gerade nicht – wie Marx es eben tut – von der Arbeit als der Quelle aller Produktivität sprechen und sie zum Ausdruck der Menschlichkeit des Menschen selbst überhöhen.

Auch bei Marx selbst bleibt - trotz der Hochschätzung der Arbeit – ihre Bedeutung Arendt zufolge immer zweideutig. Obwohl für Marx die Arbeit die menschliche und produktivste aller Tätigkeiten ist, „hat die Revolution doch nach Marx nicht etwa die Aufgabe, die arbeitende Klasse zu emanzipieren, sondern die Menschen von der Arbeit zu befreien. Denn das `Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört´“ (Arendt, 123).

So bestünde einer der  - vielen - eklatanten Widersprüche in der Theorie von Marx darin, dass Marx immer davon ausgeht, „den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde“ (ebd.).

Für Hannah Arendt dagegen ist die Arbeit gerade kein Symptom für ein gestörtes Verhältnis zwischen Mensch und Natur bzw. zwischen Mensch und Welt, sondern in der Arbeit zeigt sich „die Art und Weise, in welcher das Leben selbst mitsamt der Notwendigkeit, an die es gebunden ist, sich kundgibt“ (141).
  
Zitate aus: Karl Marx: Das Kapital, Frankfurt a.M. 1968 (EVA), Bd.1., 192ff – Bd. 3., 828  -  Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (piper)


Donnerstag, 16. Mai 2013

Karl Marx und die britische Herrschaft in Indien


Karl Marx (1818 - 1883)
Karl Marx hat sich mit der britischen Herrschaft in Indien in mehreren Zeitungsartikeln beschäftigt, die im Sommer 1853 in der New-York Daily Tribune erschienen. Vor allem seine Anmerkungen in „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ (vom 8. August 1853) enthalten einige sehr überraschende Beobachtungen, die so gar nicht in das Bild von der unauflöslichen Einheit von Kommunismus und Antiimperialismus zu passen scheinen.

Die Tatsache, dass Indien seine Unabhängigkeit verlor, ist für Marx die unausweichliche Folge aus einer Kette historischer Ereignisse: „Wie ist es zur Errichtung der englischen Herrschaft in Indien gekommen? Die unumschränkte Gewalt des Großmoguls wurde durch des Moguls Vizekönige gebrochen. Die Macht der Vizekönige wurde durch die Marathen gebrochen. Die Macht der Marathen wurde durch die Afghanen gebrochen, und während ein Kampf aller gegen alle tobte, brach der Brite ins Land ein und wurde in die Lage versetzt, sie alle unter seine Gewalt zu bringen.“

Marx zufolge scheint es unabwendbar, dass „ein Land, das nicht nur zwischen Moslems und Hindus, sondern auch zwischen Stamm und Stamm, zwischen Kaste und Kaste geteilt war, eine Gesellschaft, deren Gefüge auf einer Art Gleichgewicht beruhte, die aus allgemeiner gegenseitiger Abstoßung und konstitutioneller Abgeschlossenheit aller ihrer Mitglieder herrührte“, schließlich die Beute von Eroberern werden musste.

Flagge Britisch-Indiens
Aber Marx geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass „die indische Gesellschaft … überhaupt keine Geschichte, zum mindesten keine bekannte Geschichte“ habe, denn „was wir als ihre Geschichte bezeichnen, ist nichts andres als die Geschichte der aufeinanderfolgenden Eindringlinge, die ihre Reiche auf der passiven Grundlage dieser widerstandslosen, sich nicht verändernden Gesellschaft errichteten.

Er beobachtet, dass die anderen Völker, die Indien nacheinander überrannten, wurden „rasch hinduisiert wurden, denn einem unabänderlichen Gesetz der Geschichte zufolge werden barbarische Eroberer selbst stets durch die höhere Zivilisation der Völker erobert, die sie sich unterwarfen.“ Marx scheut sich nun nicht zu behaupten, dass die britischen Eroberer ihrerseits die ersten waren, „die auf einer höheren Entwicklungsstufe standen und daher der Hindu-Zivilisation unzugänglich waren.“

Von diesen Prämissen ausgehend behauptet Marx nun, dass England in Indien eine „doppelte Mission“ zu erfüllen habe, „eine zerstörende und eine erneuernde - die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen (!) Gesellschaftsordnung in Asien.“

Ohne Zweifel steht einerseits fest, dass die Briten die indische Gesellschaftsordnung zerstörten, „indem sie die einheimischen Gemeinwesen zerschlugen, das einheimische Gewerbe entwurzelten und alles, was an der einheimischen Gesellschaftsordnung groß und erhaben war, nivellierten.“

Indische Dorfszene

Besondere Aufmerksamkeit widmet Marx der Auflösung des indischen Dorfsystems, „dieser kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten Gemeinwesen.“ Die Bewertung dieser nach Marx „einzige sozialen Revolution, die Asien je gesehen“ fällt nicht unbedingt negativ aus: „Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden, … so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten.“

Vor allem aber dürfe man nicht unterschlagen, „dass diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, dass sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, dass sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebenes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank.“

Für Marx steht andererseits ebenso fest, dass das Werk der Erneuerung „unter den Trümmern bereits begonnen hat.“ Die erste Voraussetzung für diese Erneuerung ist für Marx die politische Einheit Indiens, die – „durch das britische Schwert aufgezwungen“ - auf unterschiedliche Weise sichtbar ist:

  • „Die von britischen Unteroffizieren aufgestellte und gedrillte Eingeborenenarmee war die sine qua non für Indiens Selbstbefreiung und dafür, dass Indien künftig nicht mehr dem ersten besten fremden Eindringling als Beute anheimfällt.
  • Die freie Presse, die erstmals in eine asiatische Gesellschaft Eingang gefunden hat und hauptsächlich von gemeinsamen Nachkommen der Hindus und der Europäer geleitet wird, ist ein neuer machtvoller Hebel der Erneuerung. (...)
  • Aus den in Kalkutta … unter englischer Aufsicht erzogenen indischen Eingeborenen wächst eine neue Klasse heran, welche die zum Regieren erforderlichen Eigenschaften besitzt und europäisches Wissen in sich aufgenommen hat.


Auch heute noch in Betrieb: die Darjeeling Himalayan Railway


  • Die Dampfkraft hat Indien in regelmäßige und rasche Verbindung mit Europa gebracht, sie hat Indiens wichtigste Häfen mit denen des ganzen südöstlichen Ozeans verknüpft und es aus der isolierten Lage befreit, die der Hauptgrund seiner Stagnation war.“
  • Schließlich erwähnt Marx noch den Ausbau der Bewässerungsanlagen und inneren Verkehrswege, vor allem dem Netz von Eisenbahnen, denn es „ist eine allbekannte Tatsache, dass die Produktivkräfte Indiens durch den hochgradigen Mangel an Transportmitteln und Austauschmöglichkeiten für seine mannigfaltigen Erzeugnisse lahmgelegt sind. Nirgendwo ist schlimmeres soziales Elend inmitten einer üppigen Natur anzutreffen als in Indien, und das aus Mangel an Austauschmöglichkeiten.“

Marx gibt zu, dass alle Maßnahmen, die die Briten in Indien umgesetzt haben oder noch werden, die Voraussetzungen dafür schaffen werden, dass sich die Freiheit und die soziale Lage des Volkes verbessern werden. Er gibt aber auch zu bedenken – und in diesem Fall sollten seine „Prophezeiungen“ ausnahmsweise Recht bekommen -, dass diese Entwicklungen unweigerlich dazu führen werden, dass die Inder irgendwann „stark genug sein werden, um das englische Joch ein für allemal abzuwerfen.“

So erwartet Marx „mit aller Bestimmtheit“, dass „wir in mehr oder weniger naher Zukunft Zeugen einer Erneuerung dieses großen und interessanten Landes sein werden“, ein Land, das „die Wiege unserer Sprachen, unserer Religionen gewesen (ist), und dessen Bewohner „im Dschat den Typus des alten Germanen und im Brahmanen den des alten Griechen verkörpert.“

Zitate aus: Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3840 vom 8. August 1853  -  Die britische Herrschaft in Indien, "New-York Daily Tribune" Nr. 3804 vom 25. Juni 1853 -  Die Ostindische Kompanie, ihre Geschichte und die Resultate ihres Wirkens, "New-York Daily Tribune" Nr. 3816 vom 11. Juli 1853