Donnerstag, 17. September 2020

Thukydides und der Melierdialog


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.


Melos war eine Gründung der Spartaner. Bodenschätze und die geschützte Lage machten Melos so wohlhabend und selbstbewusst, dass die Insel die Aufnahme in den von Athen dominierten Attischen Seebund verweigerte und für sich Neutralität reklamierte.


Die Kykladeninsel Melos im Spannungsfeld der Großmächte Athen und Sparta

 


Schon im Jahre 426 unternahmen die Athener deshalb einen ersten Versuch, die Insel in ihr Herrschaftssystem einzubinden. Obwohl die Athener die Insel nicht erobern konnten, erklärten sie sie einfach für erobert und verpflichteten sie zu jährlichen Tributzahlungen zugunsten des Tempelschatzes der Athena. Natürlich weigerten sich die Melier, diese Zahlungen zu entrichten.

 

Zehn Jahre verstrichen bis erneut eine Flotte der Athener gegen Melos aufbrach. Die Melier waren ahnungslos, es herrschte Frieden, nichts ließ einen athenischen Angriff erwarten, nichts rechtfertigte ihn. Thukydides’ Text spiegelt die Überraschung wider. „Der Historiker leitet den Bericht nicht ein, kennt keine Zusammenhänge und nennt – vielleicht weil sie ihm zu selbstverständlich waren – keine Motive.“

 

Im Gegensatz zum ersten Eroberungsversuch setzten die Athener zunächst auf Verhandlungen. Ein gegenseitiges Abkommen sollte Athen die gewaltigen Kosten einer mehrmonatigen Belagerung ersparen. Die athenischen Truppen konnten zwar leicht die Insel besetzen und abriegeln, die befestigte Stadt Melos zu erobern waren sie aber nicht in der Lage. Einziges Mittel, ummauerte Poleis zu erobern, war damals Aushungern oder Verrat.

 

„Die Verhandlungen, die Thukydides im sogenannten Melier-Dialog verdichtet, scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel.“

 

Das Unternehmen gegen Melos war nicht die erste fragwürdige Eroberung der Athener. Vorher hatten sie bereits die Bewohner von eroberten Poléis – Histiaia, Aigina, Torone oder Skione, um nur einige zu nennen – ausgelöscht. Die Eroberung von Melos war gleichwohl deshalb besonders schändlich, weil Athen in Friedenszeiten eine griechische Stadt angriff und unerbittlich auslöschte.

 

„Das Wort vom `Limos Meliaios´, vom melischen Hunger, kursierte schon bald nach dem Ende der Belagerung in ganz Griechenland, Aristophanes gebraucht es 414, also nur zwei Jahre nach der Eroberung von Melos, in seiner Komödie Die Vögel. Noch fast anderthalbtausend Jahre erläutert die Glosse eines byzantinischen Lexikons den `Hunger von Melos´ „sprichwörtlich für eine aussichtslose Lage.“

 

Ob Thukydides über die Verhandlungen auf Melos aus erster Hand informiert wurde, ob er sogar die beteiligten Strategen befragt hat, bleibt im Unklaren. Es ist letztlich auch nicht relevant, „denn was die Athener im Dialog des Thukydides sagen, haben sie vor dem Rat der Melier sicherlich nicht gesagt. Sie sprechen bei Thukydides vielmehr das aus, was sie – nach Meinung des Historikers – aller Wahrscheinlichkeit nach gedacht haben, aber realiter zweifelsohne hinter diplomatischen Floskeln verbargen.“


Thukydides (454 - 399 v. Chr.)


Im Vordergrund der Reden der historischen Athener in Melos standen zweifelsohne ihre tatsächlichen Verdienste für die Insel. „Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Herodot die Athener als `Retter Griechenlands´ geadelt: `Wer nun also sagt, die Athener seien die Retter von Hellas geworden, der wird das Wahre kaum verfehlen. Denn auf welche Seite die Athener sich schlugen, da mußte die Waage sinken. Sie aber wählten Hellas’ Überleben in Freiheit, und so sind sie es gewesen, die das ganze restliche Griechenland – soweit es nicht persisch gesinnt war – aufrüttelten und den König (nächst den Göttern) zurückschlugen.“

 

Die Athener waren überzeugt davon, dass sie es waren, „die einst die Griechen vor den Barbaren gerettet hatten und sie nun weiterhin vor ihnen beschützten: Nur die athenische Flotte schrecke den Großkörnig vor einer neuerlichen Invasion ab. Und nicht allein dies. Die Präsenz athenischer Patrouillenschiffe in der Ägäis garantiere die von Seeräubern stets bedrohte Sicherheit des Meeres, den ungehinderten Handel unter den Städten und den Inseln der Ägäis sowie die lebenswichtige Versorgung mit Getreide in den periodisch wiederkehrenden Notzeiten.“

 

In Athen war man sich einig, dass dieser Schutz Geld kostete. „In der Schifffahrtsperiode zwischen März und Oktober waren ständig 60 Trieren unterwegs, die ausgerüstet und gewartet werden mußten. Allein der Lohn für die Besatzungen betrug fast ein Talent pro Tag. So war für die Athener ein Anspruch auf Entschädigung selbstverständlich, die Phoroi waren im Verständnis der Athener keine Tribute, sondern Beitrage zur Sicherheit und Wohlfahrt der Bündner und aller Griechen, die Seefahrt betrieben.“

 

Im Gegensatz zu diesen Gründen, die die historischen Athener in Melos vermutlich mit Recht für sich beanspruchen können, bezeichnen die Athener des Thukydides diese Argumente allerdings als kalà onómata, als `schöne Worte´. Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung: „Im menschlichen Denken, nicht freilich in der öffentlichen Bekundung, zähle allein die Macht. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten.“

 

Für die Athener des Dialogs steht die Unterwerfung von Melos außer Diskussion. „So machen sie einen Vorschlag, bei dem sie – mit Blick auf das Ende durchaus zu Recht – Vorteile für beide Seiten sehen. Die Kapitulation der Insel er- spare ihnen, den Athenern, Verluste an Soldaten und Trieren, Kosten und Zeit, die Melier aber kämen mit dem Leben davon und blieben als Untertanen im Besitz ihres Territoriums.“

 

Die Melier dagegen hoffen auf das Kriegsglück, auf die Götter und die Spartaner. Für die Athener freilich ist auch Hoffnung nur ein schönes Wort, das Schwache - wie die Melier - ins Verderben führt. „Am Wohlwollen der Götter, erklären sie, zweifelten sie nicht, und die Truppen der Spartaner fürchteten sie nicht. Für die Athener (und für Thukydides) gilt der Nómos, der das Leben der Menschen bestimmt, auch für die Götter: Wie jene stünden diese unter demselben Gesetz der Macht, dem zufolge der Stärkere über den Schwächeren obsiege.“

 

Die Verhandlungen scheitern, es kommt zu keiner Einigung. Der Erfolg von 426 hatte die Melier ermutigt, und so hofften sie, sich auch jetzt behaupten zu können. „Wer im blinden Vertrauen sich seinen Hoffnungen ganz ausliefere, werde auch alles verlieren, läßt Thukydides die Athener sagen und verzichtet auf einen Kommentar. Zwei Sätze genügen ihm, um nun die Kampfhandlungen beginnen zu lassen, sieben weitere, um den Untergang von Melos zu besiegeln.“

 

Athenische Hoplitenfalange bei Kampfübungen


Der Vernichtung von Melos ist der Wendepunkt in der Geschichte der Großmacht Athen. „Expressis verbis formuliert hat es der Historiker nicht, doch er hat die Melier zu Titelhelden jenes kleinen Textes gemacht, der zu den wichtigen der Weltliteratur zählt und nach knapp zweieinhalbtausend Jahren noch keine Altersspuren zeigt – ebendieses `furchtbaren Gesprächs´, wie Friedrich Nietzsche sagen wird, zwischen ihnen und den Athenern.“


Thukydides schrieb sein Werk und damit auch den Dialog zwischen Athenern und Meliern nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach dem Untergang des athenischen Reiches. „Er bietet die Summe seiner Erfahrungen und weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen. Er bildet den inhalt-lichen Mittelpunkt des Werkes […]. Athener und Melier sprechen unkommentiert, und Thukydides sagt nicht, welche Argumente er billigt und welche er verurteilt, ob er das Geschehen als kriegsnotwendig akzeptiert oder kritisiert, ob er die Partei der Unterlegenen ergreift oder sich seiner Heimatstadt verpflichtet sieht. Der Historiker berichtet knapp, kühl, meidet jeglichen Affekt und verzichtet auf apologetische Erklärungen. Alles, was als Partei- oder Stellungnahme gelten könnte, ist aus dem Text getilgt. Thukydides schweigt hörbar, sagt Wolfgang Schade- waldt.“

 

Man könnte nach der Lektüre des Dialogs meinen, Thukydides stünde auf der Seite der unglücklichen Melier. „Der Leser traue, schreibt Jacob Burckhardt `den inneren Schauder, welchen er bei dem so völlig objektiven Bericht empfindet´, unwillkürlich auch dem Geschichtsschreiber zu. Doch nichts ist im Melier-Dialog so, wie es scheint. Letztlich bleibt unklar, wer agiert und wer reagiert; Täter und Opfer sind austauschbar, alle spielen nur Rollen: Wären die Melier in der Lage der Athener, verhielten sie sich wie diese. Die Tat, die die Athener begehen, ist eine, die jeder begeht, mehr noch – begehen muß. Die Melier hindert (für den Augenblick) nicht die Moral, sondern ihre militärische Schwäche.

 

Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier, vor dem Hintergrund des bereits beendeten Krieges und der damit verbundenen athenischen Niederlage, verallgemeinerbare Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos.“

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck) – Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Düsseldorf 2006 (Artemis und Winkler)

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen