Donnerstag, 16. April 2020

Die Aufklärung und der Feder-Krieg


Hätte man früher bei dem Begriff „Soziales Netzwerk“ an die gute Hausgemeinschaft, die Nachbarn, Verwandte oder Freunde aus dem Sportverein gedacht, so denkt man heute ebenso selbstverständlich an Facebook, Twitter und Co.

Und während früher so manchem Mitglied eines sozialen Netzes die „üble Nachrede“ oder die „Gerüchteküche“ mitunter schwer zugesetzt hat, so gehört heutzutage der Shitstorm zu den unfreundlichen Begleiterscheinungen moderner Kommunikation. Hier lassen Menschen lautstark ihren Unmut über eine Person, Organisation oder eine Marke aus. Dabei werden die Grenzen des „guten Tons“ munter überschritten.

Ein Vorläufer dieser sich im öffentlichen Raum abspielenden und auf Häme und Hass beruhenden „Streitkultur“ waren die Flugschriften, die sich vor allem in der Epoche der Aufklärung großer Beliebtheit erfreuten.

Ein Beispiel aus Hamburg ist die Häme und Hetze um die  Satire Lob der Geldsucht des (1704) des zu Unrecht vergessenen Dichters Barthold Feind, für die die Bürgerschaft Hamburgs in Flugschriften die öffentliche Verbrennung forderte. Drei Jahre später, am 19. März 1707, wurde schließlich die Schandglocke geläutet, man hatte eine Schüssel mit glühenden Kohlen bereitgestellt, in die die Werke von Feind geworfen wurden. Am 18. August baumelte ein Porträt des Dichters in effigi am Galgen. Feind selbst kam ungeschoren davon, denn er stand im Dienst Schwedens und konnte daher nicht einfach belangt werden.

Hamburger Feder-Krieg um die Satire 
Lob der Geldsucht (1704) des Dichters Barthold Feind 

Flugschriften waren ein Reflex des kontroversen Meinungsklimas und der Verdichtung von Konflikten in den Städten der Frühen Neuzeit. Ihr „Einsatzgebiet“ war ursprünglich der Konfessionsstreit im Zuge der Reformation. Diese nahm bekanntlich mit dem Thesenanschlag ihren Ausgang, wobei die 95 Thesen Luthers - als Flugschriften gedruckt – sich mit bis dahin unbekannter  Geschwindigkeit über ganz Europa verbreiteten.

In den Städten kannte man dieses Medium zur Genüge. Wie auch immer sich die Parteien im Disput zwischen Rat und Bürgerschaft oder zwischen den verschiedenen Konfessionen oder manchmal auch zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb der eigenen Glaubensrichtung – man denke nur an das Gezeter zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus - gegeneinander positionierten, es gab eine Gemeinsamkeit: Alle Positionen wurden in unzähligen Schriften öffentlich thematisiert, diskutiert, verhandelt. 

Die Intensität der Konflikte bildete sich gleichsam im Gestöber der Flugschriften ab – einem Zeitgenossen erschien es, als flögen sie „wie Schneeflocken“ umher, ein anderer verglich sie mit Käfern und Schmeißfliegen.

Der „Feder-Krieg“ verlief unübersichtlich und mit unklaren Frontverläufen. Wer sich in bestimmter Weise positionierte, durfte gewiss nicht darauf rechnen, Recht zu behalten. Sicher war nur eins, nämlich dass eine Flugschrift eine oder auch mehrere kritische Antworten erhielt.

Der Germanist und Historiker Dirk Rose spricht – mit Blick auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Reichsstadt Hamburg in den Jahren 1680 bis 1720 – treffend  von einer „skandalösen Öffentlichkeit“.

Die Verfasser der Flugschriften stammten in der Regel aus dem gelehrten Milieu. Ihre Komödien, Satiren und Polemiken wurden jedoch nicht nur an eine erlauchte Leserschaft verkauft, sondern vielfach vorgelesen, abgeschrieben, auf den Straßen zitiert und referiert; ebenso wurden Lieder gedruckt und gesungen, Streitschriften in Kaffeehäusern und Gaststätten vorgetragen und diskutiert und natürlich wurden die Streitthemen auch in Predigten aufgegriffen. Und wer es ganz eilig hatte, konnte an bestimmten öffentlichen Orten Hamburgs wie der Börse eine handschriftliche Notiz hinterlassen. Hier standen „zwei Buden“ mit Tintenfass und Feder zur Verfügung.

In den Hamburger Kaffeehäusern wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf dem Tisch Kaffee und Tee ausgeschenkt und unter dem Tisch Flugschriften verteilt.

Aber nicht nur die Einwohner Hamburgs, sondern letztlich alle Menschen in größeren Städten kamen geradezu zwangsläufig mit dem Meinungsbetrieb in Kontakt. Flugschriften wurden in den gängigen Verkaufsstellen, etwa in Buchhandlungen, und von mobilen Händlern vertrieben, selbst in Kirchen wurden sie angeboten.

So war die städtische Bevölkerung insgesamt „Teilhaber eines Räsonnement-feldes“, in dem Schriftlichkeit und Mündlichkeit einander variantenreich befeuerten. Es war schier unmöglich zu ignorieren, dass um einen herum heftig gestritten wurde, trotz der Undurchsichtigkeit, Komplexität und Omnipräsenz der Konflikte. Die Flugschriften beförderten ein ziemlich „unruhiges“ Meinungsklima.

Der politischen Führung gelang es häufig nicht, den Flugschriftenverkehr zu kontrollieren. Verbote von Schriften beispielsweise in Hamburg waren zum Scheitern verurteilt, solange andernorts, etwa im damals dänischen Altona, fleißig gedruckt und nachgedruckt wurde.

Mehr noch: Durch die Zensur erhielt die inkriminierte Schrift oftmals erst recht Auftrieb. Es gelang jedoch der Obrigkeit ebenso wenig, sich einfach aus dem Schriftverkehr herauszuhalten. Das Vorgehen der „Behörden“ gegen die Flugschriften und ihre Verfasser wurden publik gemacht und an die Straßenwände geklebt. Gelegentlich sah sich die Obrigkeit sogar gezwungen, in den Flugschriftenaustausch einzusteigen oder über Dritte die eigene Position im Flugschriftenaustausch zu lancieren.

So entbrannte im ganzen Reich eine heiße Kontroverse um die Zeitschrift „Der Patriot“, vor allem aber in Hamburg, wo sie erschien. Manche befürchteten, dass die Flugschriften für und gegen die Zeitschrift „alle Civil-Ordnungen über den Hauffen werfen" würden. Allerdings wussten die meisten nicht, dass hinter dem geheimen Herausgebergremium die städtische Führungsspitze Hamburgs stand.

Die Zeitschrift „Der Patriot“

Man konnte nicht nicht kommunizieren. Zuweilen beklagte sich das Publikum über den publizistischen Krawall – so wie viele  heutzutage auch über die Art der Kommunikation in sozialen Netzwerken stöhnen.

Wenn man doch nur das Motto von Erasmus von Rotterdam beachten würde, der eine andere Form der Streitkultur anmahnte: „Mein Zweck ist, zu erinnern, und nicht zu schmähen: zu nützen, und nicht zu beleidigen: den Sitten der Menschen beiräthig [ein guter Ratgeber], und nicht nachtheilig zu sein.“



Literatur: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Hamburg 2015


Donnerstag, 9. April 2020

Thukydides und die Attische Seuche



Wer die Vergangenheit nicht kennt, 
kann die Gegenwart nicht verstehen 
und die Zukunft nicht gestalten.

Paideia in Zeiten von Corona ...


Im Jahr 431 v. Chr. standen sich mit dem Ersten Attischen Seebund und dem Peloponnesischen Bund zwei in etwa gleichstarke Machtblöcke unversöhnlich und voller Misstrauen gegenüber. Damals nahmen die Führungsmächte Athen und Sparta den offenen Kampf um die innergriechische Hegemonie auf – aber damit letztlich auch um die Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum.

Als Peleponnesischer Krieg ist dieser Konflikt in die Geschichtsbücher eingegangen, ein Konflikt, der zu Lande und zu Wasser ausgetragen wurde, und der sich, von einigen kürzeren Phasen der Waffenruhe unterbrochen, bis ins Jahr 404 v. Chr. hinziehen und so viele Staaten involvieren sollte, daß man in der Forschung gelegentlich sogar von einem „antiken Weltkrieg“ spricht.

Der Athener Thukydides hat in einem einzigartigen Werk früher Geschichts-schreibung den Verlauf des Krieges aufgezeichnet aufgezeichnet.

Thukydides (454 - 399 v. Chr.)

Folgt man Thukydides, dann wird man Zeuge jener militärischen Katastrophe Griechenlands, die mit unvorstellbarem menschlichen Leid, der Aufkündigung aller Rechtsgrundsätze im zwischenstaatlichen Verkehr und brutalster Durchsetzung der Positionen des Stärkeren einherging.

So wie in den Perserkriegen im frühen 5. Jahrhundert die eigentlichen Kriegs-handlungen auf wenige Kampagnen beschränkt waren, so wurde auch im sogenannten Ersten Peloponnesischen Krieg, der zwar von 457 bis 446 dauerte, immerhin 451 ein fünfjähriger Waffenstillstand abgeschlossen wurde. Dagegen fanden während des fast zehnjährigen sogenannten Archidamischen Krieges (431 v. Chr. bis 421 v. Chr.) nahezu ununterbrochen Kämpfe statt.

Thukydides hat eindringlich beschrieben, wie der Krieg durch katastrophale und unerwartete existentielle Belastungen, aber auch durch seine bloße Dauer die Mentalitäten der vom Kriegsgeschehen betroffenen Menschen in grundsätzlicher Weise veränderte.

Zu den unerwarteten Ereignissen gehörte zunächst die Pest von 430. Die Umstände des Krieges lösten die Pest zwar nicht aus, aber die kriegsbedingte, von Perikles betriebene Übersiedlung der Landbevölkerung nach Athen, d.h. in das Stadtgebiet innerhalb der „Langen Mauern“ hatte auf jeden Fall zur katastrophalen Zuspitzung der Lage beigetragen.

Es bedrückte sie zusätzlich zur gegenwärtigen Not besonders auch das Zusammenziehen vom Land in die Stadt, und zwar vor allem die, die hinzu-gekommen waren. Denn da keine Häuser zur Verfügung standen, mußten sie im Sommer in stickigen Verschlägen wohnen und erlagen der Seuche ohne jede Ordnung. (Thuk. 2,52)

Thukydides konnte die Pest – im Griechischen steht übrigens schlicht loimos (Seuche) – deshalb äußerst genau beschreiben, weil er an ihr selbst erkrankt war.

Seine genaue Beschreibung lässt sich allerdings mit einer heute bekannten Krankheit nicht in Verbindung bringen. Das hat entweder damit zu tun, dass man Krankheiten vor 2500 Jahren völlig anders wahrnahm als heute oder dass ganz andere Erreger virulent waren.

Thukydides schildert aber nicht nur medizinisch exakt den Verlauf der Seuche, sondern vor allem die schrecklichen Szenen im zwischenmenschlichen Bereich, die sich während der Seuche abspielten. Die Pest ist nach seiner Darstellung eine der vielen kriegsbedingten Extremsituationen, die den dünnen Lack der Zivilisation absprengt. 

Die Attische Seuche (Gemälde von Michiel Sweerts, um 1653)

Der völlige Zusammenbruch jeglicher sozialen und moralischen Ordnung wird als die eigentliche Katastrophe empfunden:

Die Leichen lagen im Tod übereinander, Halbtote wälzten sich auf den Wegen und um alle Brunnen, gierig nach Wasser. Die Heiligtümer, in denen sie zelteten, lagen voller Toter, die dort drinnen gestorben waren. (...)

Überhaupt machte die Krankheit in der Stadt auch sonst den Anfang mit der Verachtung aller Werte. Leichter wagte man nämlich das, was man früher unterdrückt hatte, nämlich nach bloßer Lust zu handeln. Denn sie sahen, wie schnell die Wohlhabenden und plötzlich Sterbenden mit denen wechselten, die zuvor nichts hatten und nun sofort das Hab und Gut jener besaßen.

So hielten sie es für richtig, rasche Genüsse zur Annehmlichkeit zu erleben, in der Meinung, dass Leib und Geld in der gleichen Weise völlig vergänglich waren. (Thuk. 2,52f)

Das Interesse, das Thukydides an der Pest hatte, erklärt sich offenkundig auch mit ihrer Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem Demos und dem führenden Politiker Perikles.

Vor allem aber illustriert die Pestbeschreibung einen Einzelaspekt des apokalyptischen Vernichtungszenarios, der in den Augen des Thukydides den Peloponnesischen Krieg zum bedeutendsten Ereignis der Geschichte machte, weil die Griechen nicht nur von den eigentlichen Kriegshandlungen, sondern auch von Bürgerkrieg, Erd- beben, Dürre und eben der Pest heimgesucht wurden (Thuk. 1,23).

Die Ärzte konnten nicht helfen, da sie anfangs die Krankheit nicht einmal erkannten - sie starben selber am zahlreichsten, weil sie am meisten mit den Kranken in Berührung kamen - noch irgendwelche anderen menschlichen Mittel. (Thuk. 1,47)

Möglicherweise wollte Thukydides mit der Pestbeschreibung auch auf übergeordnete Zusammenhänge hinweisen. So hat man etwa angenommen, dass Thukydides mit der Darstellung der Pest und der furchtbaren Umstände beweisen wollte, daß der Peloponnesische Krieg im übertragenen Sinn als Krankheit aufzufassen sei, die die griechische Staatenwelt erfasste.

Das vermutlich berühmteste Opfer der Seuche: Perikles (490 - 429 v. Chr.)

Insbesondere gerät die Rolle des athenischen Parlaments, der Volksversammlung, in den Blick, die sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss von „Demagogen“, welche die Stimmung in der Versammlung noch anheizten – vielfach zu falschen Entscheidung mit furchtbaren Konsequenzen hinreißen ließ

Die Tatsache, dass die Pestbeschreibung auf die berühmte „Leichenrede“, den Epitaphios, folgt, mit dem der thukydideische Perikles die Gefallenen des Jahres 430 durch ein Lob auf Athen ehrt, deutet möglicherweise darauf hin, daß Thukydides durch diesen Kontrast seine von Anfang han kritische Haltung gegenüber dem im Peloponnesischen Krieg zugrundegegangenen perikleischen Athen habe offenlegen wollen.

Explizit hat Thukydides freilich der Pest einen über sich selbst hinausweisenden oder bedeutungsvollen Charakter nicht zugewiesen. Als Geschehen war die Seuche in den Augen des Thukydides schrecklich genug. Seiner Ansicht nach "bedrängte nichts anderes mehr als diese die Athener und schädigte nichts mehr ihre Macht" (Thuk.3,87,2). 

Die Attische Seuche raffte mindestens ein Viertel  Bevölkerung Athens dahin.


Literatur: Bruno Bleckmann, Der Peloponnische Krieg, München 2007