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Donnerstag, 12. Januar 2023

Michael Esfeld, die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde - Teil 2

 

(Fortsetzung vom 05.01.2023)

Nach Ansicht von Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne, stehen wir wie schon nach dem zweiten Weltkrieg auch heute wieder vor einer Weichenstellung zwischen Freiheit und Totalitarismus – zwischen einer offenen Gesellschaft, die jeden Menschen bedingungslos als Person anerkennt, und einer geschlossenen Gesellschaft, die die Gewährung von Grundrechten an bestimmte Bedingungen knüpft.

„Die neuen Feinde der offenen Gesellschaft kommen wieder aus dem Inneren der Gesellschaft mit Wissensansprüchen, die zugleich kognitiver und moralischer Art sind und die wiederum eine technokratische Gestaltung der Gesellschaft zur Folge haben, die sich über Menschenwürde und Grundrechte hinwegsetzt. Allerdings operieren die neuen Feinde der offenen Gesellschaft nicht mit dem Trugbild eines absolut Guten, sondern mit gezielt geschürter Angst vor Bedrohungen, die angeblich unsere Existenz gefährden.“

Diese Bedrohungen, sei die Ausbreitung des Coronavirus oder der Klimawandel, werden nun zum Anlass genommen, bestimmte Werte absolut zu setzen, wie Gesundheitsschutz oder Klimaschutz. Eine Allianz aus Experten, Politikern und manchen Wirtschaftsführern nimmt für sich in Anspruch, das richtige Wissen zu haben, wie man das gesellschaftliche bis hin zum familiären und individuellen Leben steuern muss, um diese Werte zu sichern. 

Die neuen Feinde der offenen Gesellschaft: "Wiederum geht es um ein höheres gesellschaftliches Gut – Gesundheitsschutz, Lebensbedingungen zukünftiger Generationen –, hinter dem individuelle Menschenwürde und Grundrechte zurückzustehen haben."


Der eingesetzte Mechanismus besteht darin, diese Herausforderungen so ins Rampenlicht zu stellen, dass sie als existenzielle Krisen erscheinen – ein Killervirus, das umgeht, eine Klimakrise, welche die Existenzgrundlagen unserer Kinder bedroht. Die Angst, die man auf diese Weise schürt, ermöglicht es dann, Akzeptanz dafür zu erhalten, die Grundwerte unseres Zusammenlebens beiseitezuschaffen – genau wie in den von Popper kritisierten Totalitarismen, in welchen das angeblich Gute sehr viele Menschen zu de facto verbrecherischen Handlungen motivierte.“

Das Problem ist, dass es ja nicht in erster Linie „böse“ Menschen sind, die das Böse tun, sondern häufig solche, die sich selbst als „gute“ Menschen bezeichnen und die aus Sorge um einen ihrer Überzeugung nach bedrohten und existenziell wichtigen Wert Dinge tun, die letztlich verheerende Folgen haben. 

„Dieser Mechanismus trifft die offene Gesellschaft ins Mark, weil man ein bekanntes Problem ausspielt, nämlich das der negativen Externalitäten. Damit ist Folgendes gemeint: Die Freiheit des einen endet dort, wo sie die Freiheit anderer bedroht. Handlungen des einen – einschließlich der Verträge, die er eingeht – haben Auswirkungen auf Dritte, die außerhalb dieser Beziehungen stehen, deren Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens aber durch diese Handlungen beeinträchtigt werden kann. Die Grenze, jenseits welcher die freie Lebensgestaltung des einen der freien Lebensgestaltung anderer einen Schaden zufügt, ist nicht von vornherein festgelegt. Man kann sie eher weit oder eher eng fassen. 

Der genannte Mechanismus besteht nun darin, mittels Erzeugens von Angst und unter dem Deckmantel von Solidarität diese Grenze so eng zu fassen, dass de facto kein Spielraum mehr für die freie Lebensgestaltung bleibt: Jede freie Lebensgestaltung des einen kann so ausgelegt werden, dass mit ihr negative Externalitäten einhergehen, die potenziell eine Bedrohung für die freie Lebensgestaltung anderer darstellen.“

So schüren die neuen Feinde der offenen Gesellschaft die Angst vor der Ausbreitung einer angeblichen Jahrhundertseuche – aber natürlich kann jede Form physischen Kontaktes zur Ausbreitung des Coronavirus (ebenso wie anderer Viren und Bakterien) beitragen. Sie schüren die Angst vor einer drohenden Klimakatastrophe – aber natürlich kann jede Handlung Auswirkungen auf die nicht-menschliche Umwelt haben und dadurch zur Veränderung des Klimas beitragen. Folglich soll und muss jeder nachweisen, dass er mit seinem Handeln nicht unabsichtlich zur Ausbreitung eines Virus oder zur Schädigung des Klimas beiträgt usw. – die Liste könnte man beliebig erweitern. 

„So stellt man alle Menschen unter Generalverdacht, letztlich mit allem, was sie tun, andere zu schädigen. Man kehrt die Beweislast um: Es muss nicht der konkrete Nach- weis geführt werden, dass jemand mit bestimmten seiner Handlungen andere schädigt. Vielmehr muss jeder nachweisen, dass er andere nicht schädigt, einschließlich der Mitglieder zukünftiger Generationen. Dementsprechend können sich die Menschen von diesem Generalverdacht nur dadurch befreien, dass sie ein Zertifikat erwerben, durch das sie sich reinwaschen – wie einen Impfpass, einen Nachhaltigkeitspass oder generell einen sozialen Pass. 

Das ist eine Art moderner Ablasshandel. Damit ist Freiheit abgeschafft und ein neuer Totalitarismus installiert; denn die Ausübung von Freiheit und die Gewährleistung von Grundrechten hängt dann von einer Genehmigung ab, die eine Elite von Experten erteilt – oder eben verweigert.

Die Weichenstellung, vor der wir stehen, ist somit diese: eine offene Gesellschaft, die jeden bedingungslos als Person mit einer unveräußerlichen Würde und Grundrechten anerkennt; oder eine geschlossene Gesellschaft, „zu deren sozialem Leben man Zutritt erhält durch ein Zertifikat, dessen Bedingungen bestimmte Experten definieren, wie einst die Philosophen-Könige Platons. Genau wie letztere, deren Wissensansprüche von Popper entlarvt wurden, haben auch ihre heutigen Nachfahren kein Wissen, das sie in die Position versetzen würde, solche Bedingungen ohne Willkür festzusetzen.“

Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Sie erliegen dann der totalitären Versuchung, die bereits Popper kritisierte.

„Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht. Sie erliegen der Versuchung, die bereits Popper bei den von ihm kritisierten Intellektuellen und Wissenschaftlern ausmachte. Für Politiker ist es wenig attraktiv, am besten nichts zu tun und das Leben der Menschen seinen Gang gehen zu lassen. Da kommt die Gelegenheit recht, altbekannte, aber in neuer Form auftretende Herausforderungen zu existenziellen Krisen hochzureden und Angst zu schüren mit pseudo-wissenschaftlichen Modellrechnungen, die in Katastrophen-Prognosen münden. Dann können Wissenschaftler sich mit politischen Forderungen ins Rampenlicht stellen, denen durch den angeblichen Notstand keine rechtsstaatlichen Grenzen gesetzt sind. Politiker können durch wissenschaftliche Legitimation eine Macht erhalten, in das Leben der Menschen einzugreifen, die sie auf demokratischem, rechtsstaatlichem Wege nie erlangen könnten. Bereitwillig hinzu gesellen sich diejenigen wirtschaftlichen Akteure, die von dieser Politik profitieren und die Risiken ihrer Unternehmen auf den Steuerzahler abwälzen können. (…) 

Aber gerade die Wissenschaftstheorie Poppers lehrt uns, dass kein Individuum oder Gruppe von Individuen die Entwicklung der Gesellschaft mittels eines vorbereiteten Planes (…) bestimmen kann“: „Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten“ (Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde).


Zitate aus: Michael Esfeld: Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde, LI-Paper, Liberales Institut Zürich, April 2021


Donnerstag, 5. Januar 2023

Michael Esfeld, die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde - Teil 1


"Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" ist der Titel von Karl Poppers Hauptwerk in politischer Philosophie, geschrieben im Exil in Neuseeland während des zweiten Weltkriegs und 1945 veröffentlicht.

Dieses Buch schuf eine der intellektuellen Grundlagen für die Bildung einer west-lichen Staatengemeinschaft, die auf Rechtsstaat und Menschenrechten basierend sich dem Sowjetimperium entgegenstellt. „Dadurch wurde der eiserne Vor- hang nicht nur zu einer physischen, sondern vor allem auch zu einer weltanschaulichen Grenze – die Behauptung von Freiheit gegen den Machtanspruch des Totalitarismus.“

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)

Diese Weichenstellung setzte den Rahmen für nahezu alle wesentlichen gesell-schaftlichen Gruppen und politischen Parteien im Westen: „Was auch immer für verschiedene Interessen und unterschiedliche parteipolitische Programme bestanden, der auf Grundrechten basierende freiheitliche Rechtsstaat im Gegensatz zum Totalitarismus des Sowjetimperiums stand nicht zur Disposition.“ 

Diese Weichenstellung prägte Politik und Gesellschaft über vier Jahrzehnte. 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, schien keine neue Weichenstellung erforderlich: Freiheit und Rechtsstaat hatten sich durchgesetzt. Francis Fukuyama sprach sogar vom Ende der Geschichte. 

Das war ein Irrtum, so Michael Esfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne. Die Weichenstellung erfolgt jetzt, im Jahre 2021. „Auch heute geht es um eine Weichenstellung zwischen Freiheit und Totalitarismus, die wiederum unser Leben für die kommenden Jahrzehnte prägen könnte. Und es geht wieder um einen Trend, der alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien umfassen könnte, was auch immer ansonsten ihre Unterschiede sein mögen. 

Nach Popper zeichnet sich die offene Gesellschaft dadurch aus, dass sie jeden Menschen als Person anerkennt: „Die Person hat eine unveräußerliche Würde. Sie hat die Freiheit, ihr Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten, ebenso wie die Verantwortung, für ihr Handeln auf Verlangen Rechenschaft abzulegen. Freiheit ist die `condition humaine´. Wenn wir denken und handeln, sind wir frei. Das ist deshalb so, weil man für Gedanken und Handlungen – und nur für diese – Gründe und damit Rechtfertigungen verlangen kann. Für Verhalten, das eine Reaktion auf biologische Reize und Begierden ist, ergibt es hingegen keinen Sinn, Gründe zu verlangen. Frei sind wir, weil die Spezies Mensch sich in der Evolution von dem Zwang befreit hat, einer bloßen Reaktion auf Reize unterworfen zu sein.“

Aus dieser Freiheit ergeben sich Grundrechte. „Das sind Rechte der Abwehr gegen äußere Eingriffe in die eigene Urteilsbildung darüber, wie man sein Leben gestalten will. 

In der Philosophie werden diese Grundrechte so gedacht, dass sie mit der Existenz von Personen als solcher gegeben sind. Sie hängen also nicht vom positiven Recht eines Staates und kontingenten historischen Umständen ab. So zum Beispiel im Naturrecht seit der Antike; in der Aufklärung, die universelle Menschenrechte politisch einforderte, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten und unter anderem zur Abschaffung der Sklaverei führten; bei Kant, dessen kategorischer Imperativ fordert, Menschen stets als Zweck an sich selbst und nie nur als Mittel zu einem Zweck zu behandeln; im 20. Jahrhundert unter anderem auch in der Diskursethik von Karl-Otto Apel oder der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Der Staat ist ein Rechtsstaat, der diese Rechte schützt; er lenkt die Gesellschaft nicht, sondern lässt den Menschen freien Lauf, ihre sozialen Beziehungen zu gestalten.

Popper zufolge sind die intellektuellen Feinde der offenen Gesellschaft diejenigen, die für sich reklamieren, das Wissen um ein gemeinschaftliches Gut zu besitzen. „Aufgrund dieses Wissens nehmen sie in Anspruch, die Gesellschaft technokratisch steuern zu können, um dieses Gut zu verwirklichen. Dieses Wissen ist sowohl faktisch-naturwissenschaftlicher als auch normativ-moralischer Art: Es ist mora-lisches Wissen um das höchste Gut zusammen mit naturwissenschaftlichem bzw. technokratischem Wissen darüber, wie man die Lebenswege der Menschen steuern muss, um dieses Gut zu erreichen. Deshalb steht dieses Wissen über der Freiheit der einzelnen Menschen, nämlich über deren eigener Urteilsbildung darüber, wie sie ihr Leben gestalten möchten.

Diese Feinde kommen aus dem Inneren unserer Gesellschaft. Popper macht das am Übergang von Sokrates zu Platon und dann von Kant zu Hegel und Marx fest. Sokrates und Kant legen den intellektuellen Grund für die offene Gesellschaft; Platon, Hegel und Marx zerstören diesen, indem sie die Suche nach dem, was jeder als ein für sich gelingendes Leben ansieht, durch den Wissensanspruch um ein absolutes Gutes ersetzen, auf das die Geschichte zusteuert. 

Dieses Wissen berechtigt sie dazu, sich über Grundrechte und Menschenwürde hinwegzusetzen; denn es geht um das Ziel des menschlichen Daseins. Deshalb handelt es sich um einen Totalitarismus: Die gesamte Gesellschaft bis hin zum Leben der Familien und der Individuen wird auf die Verwirklichung des angeblichen absoluten Guten ausgerichtet, ohne dass durch Menschenwürde und Grundrechte Schranken gesetzt sind.“

Experten nehmen für sich in Anspruch, ein moralisch-normatives Wissen
zur Steuerung der Gesellschaft zu haben - wie einst die Philosophen-Könige Platons

Diese Feinde der offenen Gesellschaft sind durch die Massenmorde entlarvt worden, die sich im 20. Jahrhundert auf dem Weg zur Verwirklichung des angeblich Guten als unumgänglich erwiesen haben. „Auf diesem Weg wurden nicht nur Menschenwürde und Grundrechte beseitigt, sondern zugleich auch ein schlechtes Resultat in Bezug auf das absolut gesetzte, angebliche Gute erzielt.“ So haben die kommunistischen Regimes auf dem Weg zu einer klassenlosen, ausbeutungsfreien Gesellschaft wesentlich schlimmere wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse geschaffen als der Kapitalismus. Und im Nationalsozialismus hat der Weg zu einer reinrassigen Volksgemeinschaft eben dieses Volk an den Rand des Untergangs geführt. Diese Ideen und ihre politischen Folgen gehören in der Tat der Geschichte an. 

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Michael Esfeld: Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde, LI-Paper, Liberales Institut Zürich, April 2021


Donnerstag, 20. August 2015

Thomas Schölderle und die Utopie


„Die Geschichte der Utopie ist eine Geschichte der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften.“ Mit diesem Satz leitet Thomas Schölderle seine „Geschichte der Utopien“ ein. Sein Anliegen ist, die  wichtigsten, innovativsten und originellsten Entwürfe zu porträtieren und die gesamte Denktradition der Utopien einer Systematisierung und Abgrenzung zu unterziehen.

Aufschlussreich ist bereits der Blick auf den etymologischen Ursprung des Begriffs. Mit seiner Erzählung von der entlegenen Insel „Utopia“ (1516) erschuf der englische Lordkanzler Thomas Morus nicht nur ein neues Wort, sondern bereicherte auch zahllose Sprachen dieser Welt um die Vokabel. Morus’ Wortschöpfung ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: „ou“ heißt „nicht“, „tópos“ ist der „Ort“. Utopia bedeutet also wörtlich so viel wie Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo.

Aber im unmittelbaren Entstehungskontext der Utopia tritt noch eine weitere Anspielung zutage: „Der Humanist Budaeus nutzt in einem Begleitbrief zur Utopia das Wort „Udepotia“ (griech. „oudepote“ = „niemals“) und verweist damit auf die Bedeutung von „Niemalsland“ – eine Assoziation, die bemerkenswerterweise mit einer späteren und äußerst einschneidenden Veränderung innerhalb der Utopiegeschichte korrespondiert, denn gegen Ende des 18. Jahrhunderts ersetzt Louis-Sébastien Mercier mit seiner Schrift „Das Jahr 2440“ erstmals die Dimension des Raumes durch die Dimension der Zeit. Fortan wird die utopische Fiktion aus Sicht des Verfassers fast ausnahmslos in die Zukunft projiziert.“

Thomas Morus
(
1478 - 1535)
Seit dem 19. Jahrhundert wandert „Utopia“ dann langsam in die Alltagssprache ein. Allerdings ist Adjektiv „utopisch“ seither meist negativ besetzt. „Ein Plan, der utopisch ist, lässt sich nicht realisieren; eine utopische Erwartung wird sich niemals erfüllen. Das Adjektiv meint also so viel wie „unrealistisch“, „träumerisch“ oder „übersteigert“ und bezeichnet insofern ein Denken oder Handeln, das zwangsläufig scheitern muss, weil ein realitätsblinder Urheber die Voraussetzungen für eine Verwirklichung verkennt.“

Darüber hinaus deutet die Verwendung des Terminus an, dass Utopien in unzulässiger Weise wegführen vom Möglichen und Nötigen. Diesem abwertend gemeinten Sinn zufolge besitzt der Begriff zumindest tendenziell die Bedeutung von „Hirngespinst“, „Luftschloss“ oder „Wolkenkuckucksheim“.

Mit dem negativen Sinn im Alltagsverständnis korrespondiert seine Verwendung auf dem Feld politisch-ideologischer Auseinandersetzungen. „Das Wort wurde und wird häufig als politischer Kampfbegriff genutzt, um gegnerische Positionen als illusionär und wirklichkeitsfremd zu titulieren.“ So machten sich vorwiegend die Frühsozialisten gegenseitig die Utopie zum Vorwurf, die Marxisten wiederum klebten den Frühsozialisten abschätzig das Etikett „utopisch“ an die Brust und werteten deren Entwürfe als unwissenschaftliche „Phantasterei“. Die Konservativen schließlich attackierten den gefährlichen „Utopismus“ der Marxisten. „Die Utopie wurde zum Kampfterminus in der Arena politischer Auseinandersetzungen und bis heute dient die Vokabel nicht selten der Warnung vor irrealen Zielvorstellungen und Theorien.“

"Utopia" - Thomas Morus
(Titel der Ausgabe von 1516)
Betrachtet man nun die klassischen, vor allem frühneuzeitlichen Utopien, so ist auffallend, dass sie zunächst fast allesamt ein fiktives Gemeinwesen beschreiben, das auf eine Insel projiziert ist: „Abgesondert von der Außenwelt, haben die utopischen Gesellschaften nur wenig Kontakt zu anderen Völkern. Nach innen dominiert häufig eine geschlossene Gesellschafts- oder Staatsordnung, während nach außen die Schutz- und Abwehrbereitschaft vor weniger harmonischen Gesellschaften im Vordergrund steht.“

Ein weiteres Merkmal der Utopien, ist die Tatsache, dass beschriebenen Gesellschaften auch so gut wie keinen sozialen Wandel kennen. Sie sind statisch, ruhig und konfliktfrei – manchmal wird man den Eindruck nicht los, dass es sich um eine Friedhofsruhe handelt. Weil keine Kräfte und Einflüsse von außen wirken, fehlt auch jede gesellschaftliche Dynamik.

Damit ist man Thomas Schölderle zufolge aber sogleich bei der Frage nach ihrem Geltungsanspruch angelangt. Für ihn sind Utopien sind in ihrer klassischen Ausprägung fast allesamt rationale Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten:

„Die Funktion des Textes liegt in einem Anstoß zur Reflektion über die Grundlagen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. Mit dieser Funktion deckt sich über die längste Zeit der Utopiegeschichte auch die Intention der Utopisten. Sie beabsichtigen in  den wenigsten Fällen einen Modellentwurf zur maßstabsgetreuen Totalrevision der Gesellschaft. Der unmittelbare Verwirklichungswille bleibt die seltene Ausnahme.“ Vielmehr gehe es den Utopien darum, den Leser in eine alternative Welt mitzunehmen und diesen mit geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen.

Für Schölderle sind Utopien vorwiegend rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind. Es sind „stets rational mögliche Alternativen des menschlichen Zusammenlebens und tragen einen prinzipiell politischen Charakter.“

Magische Wünsche dagegen, Märchen, Traumassoziationen, Robinsonaden oder Schlaraffenland-Erzählungen – „all diesen Fiktionen fehlt entweder das Merkmal der Sozialkritik oder es mangelt ihnen an der innerweltlichen Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens.“

So formuliert auch Morus´ Utopie Schölderle zufolge kein politisches Aktionsprogramm. „Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt.“

Utopie = Rationale Fiktionen?

Abschließend beschreibt Schölderle, ausgehend von Morus Utopia vier Kriterien des Utopiebegriffes: Form, Inhalt, Intention und Funktion:

„1. Formal betrachtet ist die Utopia konzipiert als eine kontrafaktische Fiktion, als universelle Beschreibung eines imaginären Gemeinwesens, das in eine literarisch-narrative Rahmenhandlung gekleidet ist. Sie verknüpft dabei zahlreiche literarische Formtypen und Stilelemente wie die politische Reformschrift mit der Reiseerzählung, den philosophischen Traktat mit der Satire, die Ironie mit der Dialogstruktur.

2. Auf inhaltlicher Ebene lassen sich dem Entwurf als zentrale Strukturprinzipien entnehmen: Isolation, Statik, soziale Harmonie und Gemeineigentum, Kollektivismus, Rationalität und Nützlichkeitsdenken. Die Elemente repräsentieren freilich nicht den Forderungskatalog des Autors, sondern verdichten sich lediglich zum materialen Bild seiner Utopie. Gleichwohl können diese Merkmale als eine Art Abfrageraster bei der Analyse späterer Utopieentwürfe dienen.

3. Morus’ Intention verbindet schließlich Sozialkritik mit dem Anliegen, einen Anstoß zur Diskussion über die Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens zu leisten und qualifiziert sich damit zugleich als normatives Politikanliegen.

4. Methodisch umgesetzt ist dieses Vorhaben auf dem Wege eines gedankenexperimentellen Erkundens der Vernunft. Daraus resultiert funktional betrachtet eine prinzipielle Relativierung des Bestehenden, weil die existente Wirklichkeit zu einer möglichen unter vielen herabgestuft wird.

Dennoch sollte man – bei aller wohlwollenden Deutung utopischer Entwürfe – nicht die konkreten Wirkungen der utopischen Werke in den Händen selbsternenannter Propheten vergessen. Neben der klassischen Version der Utopie, die ein eher heiter bis ernst gemeintes Gedankenexperiment war, ohne den Versuch, konkrete Handlungsanleitungen zu liefern, gibt es auch den utopischen Enwurf, der selbstverständlich als politisches Programm verstanden werden will, und von dem der Autor der Utopie in - mehr oder weniger - naher Zukunft eine radikale Umsetzung fordert bzw. auch erwartet. 

Die Frage nach Verwirklichung der Utopie rückt sicherlich schon mit Platon in den Blick, in jedem Fall aber beginnt sie mit "The Law of Freedom" des Engländers Gerrard Winstanley (*1609), bei dem eine praktische Realisierungsintention seiner Utopie erstmals deutlich sichtbar wird. Sein Entwurf enthält bereits ansatzweise eine Transformationsstrategie, also einen möglichen Weg der Realisierung seines utopischen Modells – ein Element, das im Grunde erst für das utopische Denken im 19. Jahrhundert charakteristisch wird - mit allen unheilvollen Folgen für die Menschheit.

Karl Raimund Popper
(1902 - 1994)
Nicht erst seit Karl Raimund Poppers utopiekritischen Werken wissen wir, dass Utopien als geistige Vorwegnahme späterer totalitärer Herrschaftsformen hinhalten mussten. Auch wenn man den Autoren der Utopien eine solche Intention nicht unbedingt nachsagen kann, so muss doch ebenso festgehalten werden, dass in allen konkret-historischen Realisierungsversuchen der totalitäre Gehalt der Utopie sehr schnell sichtbar wurde.

So bleibt abschließend das Urteil Poppers als Mahnung stehen, der zufolge mit der Utopie auch die Vernunft über Bord geworfen und durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder ersetzt werde. „Diese irrationale Einstellung, die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht, nenne ich Romantizismus. Dieser mag einen himmlischen Staat in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber er wendet sich immer an unsere Gefühle, niemals an unsere Vernunft. Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln – eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“


Zitate aus: Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung, Wien 2012 (Böhlau Verlag) - Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr Siebeck), hier: S. 213ff

Donnerstag, 21. Mai 2015

Karl Popper und Immanuel Kant (Teil 1) - "Der bestirnte Himmel über mir ..."

Gewidmet den Schülerinnen und Schülern 
meines Philosophiekurses 
(Abitur 2015) ... Danke!


Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Zum hundertfünfzigsten Todestag hielt Karl Popper in der BBC einen Vortrag, in dem er Kant als letzten großen Vorkämpfer der Aufklärung verteidigt – gegen die romantische Schule des „Deutschen Idealismus“ von Fichte, Schelling und Hegel, die die Aufklärung vernichtete.

Für Kant war Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Dies ist Popper zufolge mehr als nur eine einfache Definition, es ist „ohne Zweifel ein persönliches Bekenntnis; es ist ein Abriß seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen und im beschränkten Gesichtskreis des Pietismus, beschritt Kant mutig den Weg der Selbstbefreiung durch das Wissen (…) Man könnte wohl sagen, daß die Idee der geistigen Selbstbefreiung der Leitstern seines Lebens war, und daß der Kampf um die Realisierung und Verbreitung dieser Idee sein Leben erfüllte.“

Eine entscheidende Rolle in dem Prozess der Selbstbefreiung spielte Kopernikus´ Himmelsmechanik und die Kosmologie Isaac Newtons. Das Kopernikanische und Newtonsche Weltsystem übten auf Kants intellektuelle Entwicklung einen denkbar starken Einfluß aus. Das erste wichtige Buch Kant beschäftigt sich dementsprechend mit der allgemeinen Naturgeschichte und der Theorie des Himmels: „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt.“

Kants Erstlingswerk:
Ein Buch über Kosmologie!
Für Popper ist dieses Werk der wohl „großartigste Wurf, der je in der Kosmologie und Kosmogonie getan wurde. Es enthält die erste klare Formulierung nicht bloß jener Theorie, die heute gewöhnlich die `Kant-Laplacesche Hypothese vom Ursprung des Sonnensystems´ genannt wird, sondern auch eine Anwendung dieser Theorie auf das Milchstraßensystem selbst (…) Aber selbst das wird noch in den Schatten gestellt durch Kants Deutung der Nebelsterne als Milchstraßen, als ferne Sternensysteme, die unserem eigenen analog sind.“

Es war letztlich das kosmologische Problem, das Kant zu einer neuen Theorie der Erkenntnis führte und zu seiner Kritik der reinen Vernunft, denn das Problem, das er zu lösen versuchte – und vor dem kein Kosmologe weglaufen kann –, war das verwickelte Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, und zwar sowohl mit Bezug auf den Raum als auch mit Bezug auf die Zeit.

Kant berichtet in einem Brief, er habe das zentrale Problem der Kritik der reinen Vernunft gefunden, als er versuchte zu entscheiden, ob die Welt einen zeitlichen Anfang hat oder nicht. „Zu seinem Erstaunen entdeckte er, daß sich scheinbar gültige Beweise für beide Möglichkeiten aufstellen ließen.“

Der erste Beweis beruht auf der Vorstellung einer unendlichen Folge von Jahren (oder Tagen oder irgendwelchen gleich langen und endlichen Zeitintervallen). Eine solche unendliche Folge von Jahren ist eine Folge, die immer weiter geht und niemals zu einem Ende kommt. Sie kann niemals abgeschlossen vorliegen: „Eine abgeschlossene oder vollendete unendliche Folge von Jahren ist (für Kant) ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst.“

Kants erster Beweis argumentiert nun folgendermaßen: „Die Welt muß einen Anfang in der Zeit haben, da sonst im gegenwärtigen Augenblick eine unendliche Folge von Jahren verflossen ist und daher abgeschlossen und vollendet vorliegen muß. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich. Damit ist der erste Beweis geführt.“

Der zweite Beweis beginnt mit einer Analyse des Begriffes einer völlig leeren Zeit – der Zeit vor der Entstehung der Welt. „Eine solche leere Zeit, in der es überhaupt nichts gibt, muß notwendigerweise eine Zeit sein, worin kein Zeitintervall von einem anderen Zeitintervall durch seine zeitlichen Beziehungen zu Dingen oder Vorgängen differenziert ist; denn Dinge oder Vorgänge gibt es eben überhaupt keine. Betrachten wir nun aber das letzte Zeitintervall einer solchen leeren Zeit – das Zeitintervall, das dem Anfang der Welt unmittelbar vorangeht: Dann wird offenbar, daß dieses Zeitintervall von allen vorhergehenden Intervallen dadurch differenziert ist, daß es in einer engen und unmittelbaren zeitlichen Beziehung zu einem bestimmten Vorgang, nämlich der Entstehung der Welt, steht; andererseits ist, wie wir gesehen haben, dasselbe Zeitintervall leer, das heißt es kann in keiner zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang stehen. Also ist dieses letzte leere Zeitintervall ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst (…)

Die Welt kann keinen Anfang in der Zeit haben, da es sonst ein Zeitintervall geben müßte – nämlich das Intervall unmittelbar vor der Entstehung der Welt –, das sowohl leer ist als auch dadurch charakterisiert, daß es in einer engen zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang in der Welt steht. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich.“

Antinomie: "A" kann nicht gleich "Nicht-A" sein

Wir haben hier einen Widerstreit zwischen zwei Beweisen, den Kant eine „Antinomie“ nannte. Eine Antinomie ist eine spezielle Art des logischen Widerspruchs, bei der die zueinander in Widerspruch stehenden Aussagen gleichermaßen gut begründet oder bewiesen sind. Die Antinomien, von denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft spricht, sind sich logisch widersprechende Antworten auf die Fragen der Vernunft. Bereits in der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant:

„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

Kant fand sich noch in andere Antinomien verwickelt, zum Beispiel in solche hinsichtlich der Begrenzung der Welt im Raume oder auch in die Frage von Freiheit und Kausalität.

Was wir aus diesen Antinomien lernen können, ist nach Kant vor allem die Erkenntnis, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit auf die Welt als Ganzes unanwendbar sind. „Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind natürlich auf gewöhnliche physische Dinge und Vorgänge anwendbar. Dagegen sind Raum und Zeit selbst weder Dinge noch Vorgänge. Sie können nicht einmal beobachtet werden; sie haben einen ganz anderen Charakter.“

Raum und Zeit, so Popper weiter, stellen für Kant eher eine Art von Rahmen für Dinge und Vorgänge dar, vergleichbar mit einem System von Fächern oder einem Katalogsystem zur Ordnung von Beobachtungen. „So gehören Raum und Zeit nicht zu der wirklichen empirischen Welt der Dinge und Vorgänge, sondern zu unserem eigenen geistigen Rüstzeug, zu dem geistigen Instrument, womit wir die Welt angreifen. Raum und Zeit fungieren ähnlich wie Beobachtungsinstrumente. Wenn wir einen Vorgang beobachten, dann lokalisieren wir ihn in der Regel unmittelbar und intuitiv in einer raum-zeitlichen Ordnung. Wir können daher Raum und Zeit als ein Ordnungssystem charakterisieren.“

Immanuel Kant (1784 - 1804)
Zeit und Raum sind in unserem Geist apriorisch vor aller Erfahrung vorhanden, sie sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis.“ So stammt dieses Ordnungssystem gerade nicht aus der Erfahrung, auch wenn es in jeder Erfahrung verwendet wird und auf alle Erfahrungen angewendet. Dies ist der Grund dafür, daß der Mensch in solche Schwierigkeiten gerät, wenn er die Vorstellung von Raum und Zeit auf einem Gebiet anzuwenden versucht, das über alle mögliche Erfahrung hinausgeht – und genau das sind die transzendenten Fragen über den Beginn der Welt.

Kant gab seiner Theorie den irreführenden Namen „Transzendentaler Idealismus“ und „er hatte bald Grund, die Wahl dieses Namens zu bereuen, denn der Name führte manche seiner Leser dazu, ihn für einen Idealisten zu halten und zu glauben, Kant bestreite die Realität der physischen Dinge.“ Dagegen hatte Kant immer betont, daß die physischen Dinge in Raum und Zeit wirklich sind – real, nicht ideal.

Es sind ja gerade die wilden metaphysischen Auswüchse der spekulativen Vernunft des „Deutschen Idealismus“, auf die der Titel der „Kritik der reinen Vernunft“ - von Kant bewusst gewählt – abzielt, denn was Kants „Kritik“ kritisiert, ist eben die reine Vernunft. Kant kritisiert Aussagen der Vernunft über die Welt, die „rein“ in dem Sinne sind, „daß sie von Sinneserfahrung unberührt und durch keine Beobachtung kontrolliert sind. Kant kritisierte die „reine Vernunft“, indem er zeigte, daß reines spekulatives, durch keine Beobachtungen kontrolliertes Argumentieren über die Welt uns immer in Antinomien verwickeln muß.“

Kant schrieb seine Kritik unter dem Einfluss von Hume. Für beide war die Erkenntnis entscheidend, daß die Grenzen möglicher Sinneserfahrung und die Grenzen von vernünftigen Theorien über die Welt identisch sind. Auch die Gültigkeit der Newtonschen Physik stand hier auf dem Prüfstand: Natürlich war auch Kant völlig davon überzeugt, daß Newtons Theorie wahr und unanfechtbar sei. Aber Kant ging davon aus, „daß diese Theorie nicht nur das Resultat von angesammelten Beobachtungen sein könne. Was sonst konnte aber ihr Wahrheitsgrund sein?“

Obwohl sich die Gültigkeit der Newtonschen Physik in allen unseren Beobachtungen bewährt, „ist sie doch nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern von unseren eigenen Denkmethoden: von den Methoden, die wir anwenden, um unsere Sinnesempfindungen zu ordnen, zueinander in Beziehung zu setzen, zu assimilieren, zu verstehen. Nicht die Sinnesdaten, sondern unser eigener Verstand – die Organisation und Konstitution unseres geistigen Assimilierungssystems – ist verantwortlich für unsere naturwissenschaftlichen Theorien.“

Die Natur – oder wie in der der Antike: der Kosmos - die wir mit ihrer Ordnung und ihren Gesetzen erkennen, ist letztlich das Resultat einer ordnenden und assimilierenden Tätigkeit unseres Geistes. Kants eigene Formulierung dieser Idee ist unübertroffen: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor!“

Dies ist die Idee von der „Kopernikanischen Wende“: „Kopernikus“, schreibt Kant, „nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen könnte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe.“

Der Schritt in ein neues Weltbild
Wir müssen also nach Kant den Gedanken aufgeben, „daß wir passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten aufdrängt. An die Stelle dessen müssen wir den Gedanken setzen, daß, indem wir unsere Sinnesempfindungen assimilieren, wir, die Zuschauer, ihnen die Ordnung und die Gesetze unseres Verstandes aufzwingen. Unser Kosmos trägt den Stempel unseres Geistes.“

Für den Forschungsprozess ergeben sich aus dieser Idee entscheidende Konsequenzen: Für Popper gibt es „so etwas wie ein Kantisches intellektuelles Klima“. So müsse die Vernunft des Forschers die Natur nötigen, auf seine Fragen zu antworten, er dürfe sich aber nicht von ihr gleichsam am Leitbande gängeln lassen. „Der Forscher muß die Natur ins Kreuzverhör nehmen, um sie im Lichte seiner Zweifel, Vermutungen, Ideen und Inspirationen zu sehen. Das, glaube ich, ist eine tiefe philosophische Einsicht. Sie ermöglicht es, die Naturwissenschaft (nicht nur die theoretische, sondern auch die experimentelle) als eine echt menschliche Schöpfung anzusehen und ihre Geschichte, ähnlich wie die Geschichte der Kunst und der Literatur, als einen Teil der Ideengeschichte zu behandeln.“

Neben der epistemischen gibt es noch eine anthropologische Bedeutung der „Kopernikanischen Wende“. „Kopernikus nahm der Menschheit ihre zentrale Position in der Welt. Kants `Kopernikanische Wendung´ ist eine Wiedergutmachung dieser Position. Denn Kant beweist uns nicht nur, daß unsere räumliche Stellung in der Welt irrelevant ist, sondern zeigt uns auch, daß sich, in gewissem Sinne, unsere Welt um uns dreht. Denn wir sind es ja, die, wenigstens zum Teil, die Ordnung erzeugen, welche wir in der Welt finden. Wir sind es, die unser Wissen von der Welt erschaff en. Wir sind es, die die Welt aktiv erforschen; und die Forschung ist eine schöpferische Kunst.“


Nachbemerkung: "Für das Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt im Raume gibt es seit Einstein einen glänzenden Lösungsvorschlag, nämlich eine Welt, die endlich, aber ohne Grenzen ist. Einstein, so kann man wohl sagen, durchhieb damit den Kantischen Knoten; aber er hatte dafür viel schärfere Waffen zur Verfügung als Kant und dessen Zeitgenossen. Für das Problem der zeitlichen Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt gibt es dagegen heute noch keinen so einleuchtenden Lösungsvorschlag."


(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Karl Popper: Immanuel Kant  - Der Philosoph der Aufklärung. Eine Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, gehalten in englischer Sprache im englischen Rundfunk (British Broadcasting Corporation) am 12. Februar 1954, in: Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)   

Donnerstag, 14. Mai 2015

Xenophanes und die Suche nach der Wahrheit

In seinem Vortrag „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“, den er am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen hielt, behandelt Karl Popper auch das Thema der Objektiven Wahrheit und der Wahrheitssuche.

Xenophanes (ca. 570 - 470)
Es war der Vorsokratiker Xenophanes von Kolophen, der im 6. Jh. v.u.Z. als erster eine Wahrheitstheorie entwickelte, die die Idee der objektiven Wahrheit mit der Idee unserer grundsätzlichen menschlichen Fehlbarkeit verband. Xenophanes begründete eine Tradition, die man auch als skeptische Schule bezeichnet, wenngleich diese Bezeichnung leicht zu Mißverständnissen führen kann.

Der Duden erklärt „Skepsis“ als „Zweifel und Ungläubigkeit“, einen „Skeptiker“ als „mißtrauischen Menschen“ – und so wird das Wort heute auch meist verwendet. Aber das griechische Verb „σκέπτεσθαι“, von dem sich die Wortfamilie „skeptisch, Skeptiker, Skeptizismus“ herleitet, bedeutet ursprünglich „prüfend betrachten, prüfen, erwägen, untersuchen, suchen, forschen.“

Sicherlich hat es unter den Skeptikern auch viele Zweifler und vielleicht auch misstrauische Menschen gegeben, aber die fatale Gleichsetzung der Worte „Skepsis“ und „Zweifel“ wird Denkern wie Xenophanes, aber auch Philosophen wie Sokrates, Erasmus, Montaigne, Locke, Voltaire und Lessing, die für Popper alle mehr oder weniger zur Skeptischen Schule gehören, nicht gerecht.

Was alle die Mitglieder dieser skeptischen Tradition gemeinsam haben - und was auch Popper mit dieser Tradition gemeinsam hat, ist nun die Tatsache, dass sie alle die menschliche Unwissenheit betonen und daraus nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch – und das mag verwundern - ethische Konsequenzen ziehen.

Xenophanes, von Beruf Rhapsode, wandte sich dagegen, daß die Götter stehlen, lügen, ehebrechen, wie die Gesänge Homers und Hesiods erzählen. So unterwarf er die homerische Götterlehre einer Kritik, dessen wichtigstes Ergebnis die Entdeckung des Anthropomorphismus war, also die Entdeckung, „daß die griechischen Göttergeschichten nicht ernst zu nehmen sind, weil sie die Götter als Menschen darstellen.“

Stumpfnasig, schwarz, so sind die äthiopischen Götter.
Blauäugig aber und blond - so sind die Götterbilder der Thraker.
Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände,
Hände wie Menschen, zum Zeichnen, zum Malen, ein Bildwerk zu schaffen,
Dann würden Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern
Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen, ein jedes nach seinem.

Die Götter der Griechen - allzu menschlich ...

Wenn wir uns die Götter also nicht anthropomorph vorstellen können, wie müssen wir sie uns dann denken? Auf diese Frage gibt Xenophanes eine monotheistische Antwort:

Ein Gott nur ist der größte, allein unter Göttern und Menschen,
Nicht an Gestalt den Sterblichen gleich, noch in seinen Gedanken.
Stets am selbigen Ort verharrt er, ohne Bewegung,
Und es geziemt ihm auch nicht, bald hierhin, bald dorthin zu wandern.
Müh’los regiert er das All, allein durch sein Wissen und Wollen.
Ganz ist er Sehen, und ganz ist er Denken, und ganz ist er Hören.

Die für die Griechen völlig neue Idee des Monotheismus war für Xenophanes einerseits die Lösung eines schwierigen Problems – und diese neue Einsicht musste ihm selbst wie eine Offenbarung erscheinen -, andererseits  gab Xenophanes unumwunden zu, daß seine Theorie nicht sicher war und daß sie nicht mehr war als eine Vermutung. „Das war ein selbstkritischer Sieg ohnegleichen, ein Sieg seiner intellektuellen Redlichkeit und seiner Bescheidenheit.“

Der nächste Schritt bestand für Xenophanes darin, diese Selbstkritik zu verallgemeinern: „Ihm wurde klar, daß das, was er über seine eigene Theorie herausgefunden hatte – daß sie trotz ihrer intuitiven Überzeugungskraft nicht mehr war als eine Vermutung –, von allen menschlichen Theorien gelten muß. Alles ist nur Vermutung!“

Diese kritische Theorie bringt Xenophanes in die folgenden schönen vier Verse:

Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie. Es ist alles durchwebt von Vermutung.

Diese vier Zeilen „enthalten eine Theorie der objektiven Wahrheit. Denn Xenophanes lehrt hier, daß etwas, das ich sage, wahr sein kann, ohne daß ich oder sonst jemand weiß, daß es wahr ist. Das heißt aber, daß die Wahrheit objektiv ist. Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen, was ich sage, mit den Tatsachen, ob ich es nun weiß oder nicht weiß, daß die Übereinstimmung besteht.“

Darüber hinaus enthalten diese Verse einen Hinweis auf den Unterschied zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewißheit des Wissens. Sie weisen darauf hin, dass jeder, auch wenn er die die vollkommenste Wahrheit verkündet, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen kann: „Denn es gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit. Wir können eben nie, oder fast nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“

Alles Wissen ist nur ein Vermutungswissen

Gleichwohl war Xenophanes kein erkenntnistheoretischer Pessimist. Er war vielmehr ein Sucher und natürlich gelang es ihm, im Laufe seines langen Lebens, manche seiner Vermutungen kritisch zu verbessern. Er formuliert das folgendermaßen:

Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.

Wenn Xenophanes hier von „dem Besseren“ spricht, dann meint er die Annäherung an die objektive Wahrheit,  die Wahrheitsnähe, die Wahrheits-ähnlichkeit.

Xenophanes’ Theorie des menschlichen Wissens enthält also die folgenden erkenntnistheoretischen Aussagen:
  1. „Unser Wissen besteht aus Aussagen.
  2. Aussagen sind wahr oder falsch.
  3. Die Wahrheit ist objektiv. Sie ist die Übereinstimmung des Aussageinhaltes mit den Tatsachen.
  4. Selbst dann, wenn wir die vollkommenste Wahrheit aussprechen, können wir das nicht wissen; das heißt, nicht mit Sicherheit, nicht mit Gewißheit wissen.
  5. Da „Wissen“ im vollen Sinn des Wortes „sicheres Wissen“ ist, so gibt es kein Wissen, sondern nur Vermutungswissen: „Es ist alles durchwebt von Vermutung.“
  6. Aber in unserem Vermutungswissen gibt es einen Fortschritt zum Besseren: die Wahrheit.
  7. Das bessere Wissen ist eine bessere Annäherung an die Wahrheit.
  8. Aber es bleibt immer Vermutungswissen – von Vermutung durchwebt.“

Xenophanes will also betonen, dass die objektive Wahrheit von der subjektiven Sicherheit deutlich unterschieden werden muss. „Die objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, ob wir das nun wissen – sicher wissen – oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht mit der Sicherheit verwechselt werden oder mit dem sicheren Wissen. Wer etwas sicher weiß, der kennt die Wahrheit. Aber es kommt oft vor, daß jemand etwas vermutet, ohne es sicher zu wissen; und daß seine Vermutung tatsächlich wahr ist.“

Xenophanes deutet ja richtig an, „daß es viele Wahrheiten gibt – und wichtige Wahrheiten –, die niemand sicher weiß; ja, die niemand wissen kann, obwohl sie von manchen vermutet werden. Und er deutet weiter an, daß es Wahrheiten gibt, die niemand auch nur vermutet.“

Es gibt also unendlich viele Wahrheiten. Und daraus folgt weiter, dass es unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können. Es gibt unendlich viele, für uns unerkennbare Wahrheiten.

Popper bedauert, dass es auch heute noch viele Philosoph
Xenophanes vor dem Wiener Parlament:
"Der Weg zur Wahrheit führt
immer durch den Irrtum!"
- Ein guter Merksatz für Politiker -
en gibt, die denken, „daß die Wahrheit nur dann von Bedeutung für uns sein kann, wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie mit Sicherheit wissen. Aber gerade das Wissen um die Tatsache, dass es Vermutungswissen gibt, ist von großer Bedeutung. Es gibt Wahrheiten, denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können.“ Und dieser Weg führt fast immer durch den Irrtum; und ohne Wahrheit kann es keinen Irrtum geben.

Somit gibt es Popper zufolge ausreichende Gründe dafür, daß auch heute die Sokratische Einsicht „Ich weiß, daß ich nicht weiß“ hochaktuell ist. Denn aus dieser Feststellung ergeben sich drei Prinzipien, „die jeder rationalen Diskussion zugrunde liegen, das heißt jeder Diskussion im Dienste der Wahrheitssuche.“ Das Erstaunliche ist, dass diese Prinzipien „gleichzeitig erkenntnistheoretische und ethische Prinzipien“ sind.

  1. „Das Prinzip der Fehlbarkeit: Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.
  2. Das Prinzip der vernünftigen Diskussion: Wir wollen versuchen, möglichst unpersönlich unsere Gründe für und wider eine bestimmte, kritisierbare Theorie abzuwägen.
  3. Das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit: Durch eine sachliche Diskussion kommen wir fast immer der Wahrheit näher; und wir kommen zu einem besseren Verständnis; auch dann, wenn wir nicht zu einer Einigung kommen."

Alle drei Prinzipien implizieren unter anderem Duldsamkeit und Toleranz: „Wenn ich von dir lernen kann und im Interesse der Wahrheitssuche lernen will, dann muß ich dich nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen; die potentielle Einheit und Gleichberechtigung aller Menschen sind eine Voraussetzung unserer Bereitschaft, rational zu diskutieren. Wichtig ist auch das Prinzip, daß wir von einer Diskussion viel lernen können ; auch dann, wenn sie nicht zu einer Einigung führt. Denn die Diskussion kann uns lehren, einige der Schwächen unserer Position zu verstehen.“

Es liegen also jeder Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, letztlich ethische Prinzipien zugrunde. „Die Idee der Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip ist ein solches ethisches Prinzip.“

Auch die Wahrheitssuche und die Idee der Annäherung an die Wahrheit sind weitere ethische Prinzipien; wie auch die Idee der intellektuellen Redlichkeit und die der Fehlbarkeit, die uns zur selbstkritischen Haltung und zur Toleranz führt.


Zitate aus: Karl Raimund Popper: Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, Vortrag, gehalten am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)

Donnerstag, 30. April 2015

Karl Popper und der kritische Pluralismus

Am 26. Mai 1981 hielt Karl Raimund Popper an der Universität Tübingen einen Vortrag mit dem Titel „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“.

Sir Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Der Titel spielt Popper zufolge auf das Argument der Toleranz an, das von Voltaire, dem Vater der Aufklärung stammt: „Was ist Toleranz?, fragt Voltaire. Und er antwortet: Toleranz ist die notwendige Folge der Einsicht, daß wir fehlbare Menschen sind. Irren ist menschlich, und wir alle machen dauernd Fehler. So laßt uns denn einander unsere Torheiten verzeihen. Das ist das Fundament des Naturrechts.“

Popper nach appelliert Voltaire hier an die intellektuelle Redlichkeit, d.h. „wir sollen uns unsere Fehler, unsere Fehlbarkeit, unsere Unwissenheit eingestehen.“ Natürlich weiß auch Voltaire, daß es durch und durch überzeugte Fanatiker gibt. Aber deren Überzeugung ist deshalb nicht redlich, weil sie sich selbst, ihre Überzeugungen und deren Gründe nicht ehrlich geprüft haben. Diese „kritische Selbstprüfung“ aber ist für Popper ein unerlässlicher Teil intellektuellen Redlichkeit.

Der Fanatismus dagegen ist „oft ein Versuch, unseren eigenen, uneingestandenen Unglauben, den wir unterdrückt haben und der uns daher nur halb bewußt ist, zu übertönen.“

Auch wenn Voltaire die Toleranz damit begründet, dass wir einander unsere Torheiten vergeben sollen, wäre es eine weitverbreitete Torheit zu glauben, es sei ein Zeichen von Toleranz, alles – also auch die Intoleranz – zu tolerieren. „In der Tat, hier hat die Toleranz ihre Grenzen. Wenn wir der Intoleranz den Rechtsanspruch zugestehen, toleriert zu werden, dann zerstören wir die Toleranz und den Rechtsstaat. Das war das Schicksal der Weimarer Republik.“

Toleranz bedeutet nicht, Intoleranz zu tolerieren!

Neben der Intoleranz gibt es gleichwohl noch „andere Torheiten, die wir nicht tolerieren sollten.“ Dazu gehört für Popper vor allem „jene Torheit, die die Intellektuellen dazu bringt, mit der letzten Mode zu gehen; eine Torheit, die viele dazu gebracht hat, in einem dunklen, eindrucksvollen Stil zu schreiben, in jenem orakelhaft en Stil, den Goethe im Hexeneinmaleins und an anderen Stellen des Faust so vernichtend kritisiert hat.

Dieser Stil, der Stil der großen, dunklen, eindrucksvollen und unverständlichen Worte, diese Schreibweise sollte nicht länger bewundert, ja sie sollte von den Intellektuellen nicht einmal länger geduldet werden.“ Dieser Stil ist nicht nur intellektuell unverantwortlich, sondern zerstört gleichermaßen den gesunden Menschenverstand und die Vernunft.

Vor allem aber macht sie jene Haltung möglich, die man als Relativismus bezeichnet hat. „Diese Haltung führt zu der These, daß alle Thesen intellektuell mehr oder weniger gleich vertretbar sind. Alles ist erlaubt. Daher führt die These des Relativismus offenbar zur Anarchie, zur Rechtlosigkeit; und so zur Herrschaft der Gewalt.“

Popper stellt deshalb dem Relativismus eine Position gegenüber, die leider fast immer mit dem Relativismus verwechselt wird, die aber von diesem grundverschieden ist. Popper bezeichnet diese Position als „kritischen Pluralismus.“ Weil der Relativismus „aus einer laxen Toleranz entspringt“ letztlich immer zur Herrschaft der Gewalt führt, kann der kritische Pluralismus zur Zähmung dieser Gewalt beitragen.

Für die Trennung des kritischen Pluralismus vom Relativismus ist für Popper die Idee der Wahrheit von entscheidender Bedeutung.

Der Relativismus ist schließlich „die Position, daß man alles behaupten kann, oder fast alles, und daher nichts. Alles ist wahr, oder nichts. Die Wahrheit ist also bedeutungslos.“

"Wenn alles gilt, gilt nichts mehr."
Pluralismus muss sich in den Dienst
der Wahrheitssuche stellen.
Der kritische Pluralismus dagegen „ist die Position, daß im Interesse der Wahrheitssuche jede Theorie – je mehr Theorien, desto besser – zum Wettbewerb zwischen den Theorien zugelassen werden soll. Dieser Wettbewerb besteht in der rationalen Diskussion der Theorien und in ihrer kritischen Eliminierung. Die Diskussion ist rational; und das heißt, daß es um die Wahrheit der konkurrierenden Theorien geht: die Theorie, die in der kritischen Diskussion der Wahrheit näher zu kommen scheint, ist die bessere; und die bessere Theorie verdrängt die schlechteren Theorien. Es geht also um die Wahrheit.“

Schon in der Antike bei Xenophanes zeigt sich dieser Pluralismus, der im Dienst der Suche nach der Wahrheit steht.

Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.

Redlichkeit also ist letztlich Bescheidenheit gegenüber der eigenen Erkenntnis. Wir müssen Popper zufolge einen Unterschied machen zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewißheit des Wissens. Danach kann ich, „auch wenn ich die vollkommenste Wahrheit verkünde, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen“, denn „es gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit. Wir können eben nie, oder fast nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“

Aus der Redlichkeit ergibt sich notwendig die Duldsamkeit, die Geduld mit uns selbst und anderen. Duldsamkeit impliziert Toleranz: „Wenn ich von dir lernen kann und im Interesse der Wahrheitssuche lernen will, dann muß ich dich nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen; die potentielle Einheit und Gleichberechtigung aller Menschen sind eine Voraussetzung unserer Bereitschaft , rational zu diskutieren.“

Wichtig dabei sei auch das Prinzip, daß wir von einer Diskussion viel lernen können, „auch dann, wenn sie nicht zu einer Einigung führt.“

Aber Duldsamkeit kann niemals Duldung der Unduldsamkeit, der Gewalt und der Grausamkeit sein.

Zitate aus: Karl Raimund Popper: Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, Vortrag, gehalten am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)