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Dienstag, 14. Juli 2020

Winckelmann und die Nachahmung der Alten

Im Jahre 1764, also ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, legte Johann Joachim Winckelmann seine zweibändige Geschichte der Kunst des Alterthums vor, mit der Winckelmann einen geradezu revolutionären Anspruch erhob, indem er die Epochen der Kunstgeschichte auf eine Weise darstellte, die wissenschaftlich, literarisch und künstlerisch wiederum Epoche machte.


Johann Joachim Winckelmann (1717 - 1768)

Alberico Archinto, der päpstliche Botschafter in Sachsen und Polen, hatte Winckelmanns Fähigkeiten erkannt und ihm um 1750 eine Karriere in Rom in Aussicht gestellt. Im Juni 1754 konvertierte der Gelehrte zum Katholizismus, um seine Chancen am päpstlichen Hof zu erhöhen. Für Unterstützung in Dresden widmete er 1755 seine schnell berühmt gewordenen Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst dem sächsischen Kurprinzen. Im selben Jahr reiste Winckelmann mit einem Stipendium in den Süden. Am 19. November traf er in Rom ein und fasste dort im Spätsommer des folgenden Jahres den Plan zu seiner Kunstgeschichte. 

Ab 1759 arbeitete Winckelmann – als Antiquar und Bibliothekar im Dienst des Kardinals Alessandro Albani – an seinem Werk, das die antike Kunst in völlig neuem Licht erscheinen ließ. 1761 lag der Text bei der Dresdener Hofbuchhandlung; die Wirren des Siebenjährigen Kriegs verzögerten das Erscheinen. Im Frühjahr 1763 wurde Winckelmann zum Oberaufseher aller Altertümer in und um Rom  sowie zum Scriptor linguae teutonicaeernannt, der die deutschsprachigen Manuskripte der vatikanischen Bibliothek betreute. 


Kurz vor Weihnachten 1763 kam die Geschichte der Kunst des Alterthums dann in zwei Bänden auf den Markt. Der Erfolg war spektakulär. Winckelmann nutzt in seinem Werk „Kunst“ als Seismograph für die Entwicklung von Zivilisationen. Winckelmann konzentrierte sich in seiner Darstellung auf bildende Kunst, indem er ein bis in seine Zeit ein striktes Gefälle konstruierte, in denen Zyklen der Dekadenz aufeinanderfolgen. 

Bei Winckelmann allerdings spielen einzelne Künstler allenfalls eine untergeordnete Rolle als Befehlsempfänger ihres Zeitalters oder als Diener des Schönen. Seine Geschichte erzählte von abstrakten überpersönlichen Größen wie „der Kunst“ und „ihrer Zeit“ und von der Evolution der Plastik und der Malerei sowie ihrer Stile, die sich nach eigenen Gesetzen konstituierten und keine Rücksicht auf die Intentionen von Menschen nahmen.

Winckelmann interessierte sich also nicht für die Lebensgeschichten von Künstlern, sondern er untersuchte, wie die Kunst ihr „Wesen“ historisch zum Ausdruck brachte. Er konzentrierte sich auf Epochenkräfte und erhob damit einen radikalen wissenschaftlichen Innovationsanspruch, der eigentümlich quer stand zu der ebenso radikalen Idealisierung der Vergangenheit, die er in seinen "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke der Malerei und Bildhauerkunst (1755) in eine berühmte Formulierung gefasst hatte: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […].“


Apollo von Belvedere

 „Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.“ 


Warum aber suchte sich Winckelmann ausgerechnet eine Region heraus, die er nie angeschaut hat, um Anschauung als wissenschaftliche Notwendigkeit zu verkünden? Steffen Martus zufolge folgte Winckelmanns Gräkomanie dem aufklärerischen Faible für Anfänge. Er konnte der griechischen Kultur eine bestimmte Form der Ursprünglichkeit unterstellen. Obwohl Winckelmann in vielen Aspekten Vorgänger hatte, frönte er auch wissenschaftstheoretisch der Lust am Anfang, weil die griechischen Studien um 1740 in Deutschland nicht besonders hoch im Kurs standen, wenig Widerstand boten, relativ exklusiv waren und damit Raum für akademische Innovationen boten.

Winckelmann spiegelte den Stil einer Kunst im Gesamtstil einer Zeit und ihrer natürlichen Umgebung. Bei ihm korrespondierte die „Lage der Länder“ mit der „Witterung“, der „Nahrung“, der Flora und Fauna eines Landstrichs, mit der körperlichen „Bildung der Einwohner“, ihrer „Denkungs-Art“, ihrem „Character“, ihrer „Sprache“ und ihren „Mundarten“, mit „Erziehung“, „Gottesdienst, Regierungsform und Lebensart“. In dieses komplexe Ensemble bettete Winckelmann die Kunst ein.

Damit zeigte er, wie verhältnismäßig menschliche Kreativität war und dass schöpferische Ideen in Lebensbezügen und -vollzügen entstanden. Dies galt für die Antike genauso wie für die Gegenwart Winckelmanns: „Die äußeren Umstände wirken nicht weniger in uns, als die Luft, die uns umgibt, und die Gewohnheit hat so viel Macht über uns, daß sie so gar den Körper und die Sinne selbst, von der Natur in uns geschaffen, auf eine besondere Art bildet; wie unter andern ein an Französische Music gewöhnte Ohr beweiset, welches durch die zärtlichste Italienische Music nicht gerühret wird.“ Unter diesen Vorzeichen gab Winckelmann der Faszinationsgeschichte der Antike eine neue Wendung und begründete den deutschen Klassizismus.

Eine besondere Rolle spielte für Winckelmann das Klima. Umweltbedingungen wirken auf jedes Ding und jedes Lebewesen, beeinflussen jede Pflanze, jedes Tier und jeden Menschen, gleich welchen Standes. Winckelmann entzifferte die Züge, die das Klima in den Gestalten eines Landstrichs hinterlässt: In „wärmern Ländern“ sehen diese demnach anders aus als in „kalten“, weil die Haut sanfter und ihre Farbe blühender ist, weil die Züge des Gesichts besser proportioniert sind. 

Diese physiologischen Effekte betreffen sogar die Sprachklänge beziehungsweise die „Nerven der Zunge“, die sich unter milden Bedingungen vokalreicher, sanfter und musikalischer ausbilden. Sonnenschein und angenehme Temperaturen beeinflussen auch die Art des Denkens, machen es „feiner und schlauer“, malerischer und bildreicher, weil die Sinne „durch schnelle und empfindliche Nerven in ein feingewebtes Gehirn wirken“. Bei den Griechen handelte es sich um „zum Denken gewöhnte Menschen“, „die den Geist in seinem größten Feuer, von der Munterkeit des Körpers unterstützet, beschäftigten“.

Unter dem Einfluss des griechischen „Himmels“ entwickelte sich also eine ideale Kultur. Jene „edle Einfalt“ und „stille Größe“, die Winckelmann schon in seinen Gedancken über die Nachahmung als Leitparole des Klassizismus ausgegeben hatte, ging auf das „sanfte Gefühl der reinen Schönheit“ zurück, wie es sich allein unter den harmonischen Bedingungen dieser Region einstellen konnte.

Auf der einen Seite entstand so Kunst, die sich ganz auf ihr „Wesen“ besann; auf der anderen Seite zeigte Winckelmann auf, wie gerade diese in sich ruhende Kunst aus spezifischen Umweltbedingungen hervorging und sich damit in die Verhältnisse ihrer historischen Epoche verwickelte.


Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
in der Malerei und Bildhauerkunst (2. Auflage)

Winckelmann folgt auch in diesem Punkt der Aufklärung, die den Menschen als Gewohnheitstier kennengelernt hat. Die besondere Qualität der griechischen Lebensweise resultierte bei ihm aus der Vertrautheit mit bestimmten Formen des Sozialen, des Umgangs, der Sprache, des Denkens oder der Kunst, die durch natürliche Bedingungen, politische Umstände und erbliche Anlagen einfach da sind.

Winckelmann behauptete das gleich- und mittelmäßige Klima Griechenlands als zentrale Steuerungsinstanz. Daraus ergaben sich soziale und politische Konsequenzen: Der Blüte griechischer Kultur in Athen korrespondierte ein „Democratisches Regiment“, weil dort das „ganze Volk“ an der Politik partizipierte – man könnte sagen: weil dort ein bestimmtes politisches Klima herrschte, das die öffentlichen Belange zur Angelegenheit von jedermann machte und Politik und Kunst als zwei Seiten einer Epoche koppelte. Die Kräfte des Zeitalters wirkten auf die gesamte Kultur und Gesellschaft gleichmäßig ein.

Die „Freyheit“, so Winckelmann, sei die „vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst“. Er meinte damit, dass Anerkennung und Ehre nicht per Geburt vorsortiert wurden, sondern dass allen die Möglichkeit offenstand, „groß“ zu werden. Daher gab es auch für die Kunst sehr viel mehr Gelegenheiten, sich an politischer Größe zu bewähren und engagierte Bürger etwa durch Statuen zu „verewigen“.

Für diese Freiheit wurden die Griechen durch das herrschende Klima und die daraus resultierenden Vorlieben und Neigungen determiniert. Deswegen, so Winckelmann, erhielt sich die griechische Freiheit auch unabhängig von wechselnden Regierungsformen. Winckelmann verband „Freyheit“ also mit keinem bestimmten politischen System, etwa mit der Demokratie, auch wenn er die Blütephasen der Kunstgeschichte meist in Situationen politischer Liberalität platzierte, sondern er entwickelte am Leitfaden dieses Ideals vielmehr eine allgemeinere Form der politischen Anteilnahme, bei der die Zuständigkeiten nicht – wie in einer ständischen Gesellschaft – von vornherein relativ strikt verteilt waren, sondern die dazu führte, dass sich stets alle mitgemeint fühlten und sich politisch oder künstlerisch für relevant hielten.

Literatur: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Hamburg 2015

Donnerstag, 25. August 2016

Schiller und die Götter Griechenlands

Friedrich Schiller
Jeder Dichter kennt die Anfechtungen durch die Prosa der bürgerlichen Verhältnisse nur zu gut. Solange er in sein Werk vertieft ist, mögen ihn der eigene Enthusiasmus und die fiebernde Atmosphäre des produktiven Schaffens schützen. Sobald aber die poetische Produktion stoppt oder auch, wenn finanzielle Probleme ihn belasten, kommen die Zweifel hoch, die in der Frage gipfeln, warum man nicht einen soliden bürgerlichen Beruf gewählt hat.

Auch Friedrich Schiller kannte diese Anfechtungen, wie Rüdiger Safranski anschaulich beschreibt. Solange Schiller „in seiner Kunst lebt und webt, versteht sie sich von selbst, in den Augenblicken des Kleinmutes aber gerät die Schönheit unter Rechtfertigungszwang.“

Bei der Überwindung der Krise seines Künstlertums, die ihm um das Jahr 1788 erfasste, half ihm jedoch die Entdeckung der Antike. Er las Homer und die antiken Tragiker. In einem Augenblick, da Schiller am Wert der Kunst zweifelt, beginnt er, wie Goethe zur selben Zeit in Italien, von einer griechischen Antike zu träumen, wo der Sinn für Schönheit angeblich unangefochten triumphiert hatte.

Im Frühjahr 1788 schrieb Schiller »Die Götter Griechenlands«. Das Gedicht beginnt mit den Versen:

Da ihr noch die schöne Welt regiertet,
An der Freude leichtem Gängelband
Glücklichere Menschenalter führtet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland!

Schiller knüpft hier, wie übrigens Goethe auch, an Winckelmann an, der mit seinem epochalen Werk `Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke´ (1755) den Vorbildcharakter der Antike hervorgehoben hatte. Die Idee des schönen und freien Menschen sei in ihr auf vollkommene Weise verwirklicht worden. In diesem Sinne heißt es bei Schiller:

Da die Götter menschlicher noch waren,
Waren Menschen göttlicher.

Glücklicher Götterhimmel ...

Die so verklärte Antike wird zum Ansporn: „Vielleicht kann Kunst doch wieder zum tragenden Element der Kultur werden. Gegenwärtig, so Schiller, ist sie es nicht. In der Moderne dominieren rationale Wissenschaft, Materialismus und Nützlichkeit. Die Welt ist zum Arbeitshaus geworden, mit der Kunst als Dekorum.“

Schiller deutet diese Entwicklung als späte Folge des christlichen Monotheismus, mit dem die große Entzauberung begonnen haben soll. Die Götter hätten sich zugunsten des einen Gottes aus der Welt zurückgezogen. Eine Verarmung. „Die Sphäre, wo einst Helios und die Oreaden am Himmelsgewölbe strahlten, ist jetzt ein leerer Raum, worin seelenlos ein Feuerball sich dreht. Darüber thronte zuerst ein Gott, dann nur noch die wissenschaftliche Vernunft.“ Ob christlicher Gott oder der moderne Gott der Wissenschaft, von beiden gilt:

Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder,
Holdes Blüthenalter der Natur!
Ach, nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine fabelhafte Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick,
Ach, von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb der Schatten nur zurück.

Alle jene Blüten sind gefallen
Von des Nordes winterlichem Wehn.
Einen zu bereichern, unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.

Der Kunst zuliebe gerät Schiller ins Neuheidentum, der christliche Gott ist für Schiller „ein ziemlich unangenehmes Phantasma aus Angst und Schuld-gefühlen.“ Kein Gott der Heiligung des diesseitigen Lebens wie die griechischen Götter:

Näher war der Schöpfer dem Vergnügen,
Das im Busen des Geschöpfes floß.

Will man den unsichtbaren Gott verehren, muß man die Sinnenwelt verlassen:

Wohin tret ich? Diese traur’ge Stille
Kündigt sie mir meinen Schöpfer an?
Finster, wie er selbst, ist seine Hülle,
Mein Entsagen – was ihn feiern kann.

Aber Schillers „Götter Griechenlands beschreiben nicht nur die Lebens- und Naturauffassung der als glückliches und harmonisches Zeitalter charakterisierten Antike und schildern im Gegenzug dazu das christliche Zeitalter als ein Stadium des Verlusts, der Freudlosigkeit, der Entfremdung und Entzweiung.

"Schöne Welt, wo bist du?"
Friedrich Schillers Gedicht als Lied von Franz Schubert

Das Gedicht gilt auch als wichtiges Beispiel der Antikenbegeisterung in der deutschen Geistesgeschichte, wie Safranski schreibt: „An die Stelle einer nationalen Klassik, die in Deutschland aus politischen Gründen nicht möglich zu sein schien, sollte also eine Kultur des stilbewußten Anknüpfens an die Antike treten“ – das war die gemeinsame Vision von Goethe und Schiller

Für Goethe und Schiller war es gleichwohl selbstverständlich, daß der antike Geist sich mit dem modernen zu verbinden habe, „in den Begriffen Schillers: es sollte das Naive, also das Antike, mit sentimentalischen, also modernen, Mitteln erneuert oder es sollten moderne Inhalte in antiken Formen verdichtet und gesteigert werden. Wie auch immer, an eine Synthese, eine neue Klassizität, war gedacht, und sie sollte nicht nur gefordert, sondern in Werken ausgeprägt werden.

Zitate aus: Rüdiger Safranski: Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft, München 2009 (Hanser)