Sonntag, 26. Februar 2012

Isaiah Berlin und die Freiheit


Isaiah Berlin
Isaiah Berlin (1909 - 1997) gehört zu den einflussreichsten Denkern des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Bekannt wurde er vor allem durch seine Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit.

Positive Freiheit, Freiheit zu oder auch Freiheit, sein eigener Herr zu sein (211), beschreibt die Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Menschen und wird insbesondere verstanden als Freiheit zur individuellen politischen Teilnahme im Rahmen eines demokratisch verfassten Staates.

Es fällt also relativ leicht zu sagen, dass eine demokratische Gesellschaft zugleich auch eine freie ist, weil jeder Bürger dieser Gesellschaft frei ist am politischen Prozess zu partizipieren. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Staat überhaupt durch sein politisches Handeln die positive Freiheit der Bürger verwirklichen kann und soll und wenn ja, mit welchen Mitteln er sie erreichen will und in welchem Maße der Einsatz von Zwang dabei erlaubt ist.

Negative Freiheit, Freiheit von oder auch Freiheit als ungestörtes, ungehindertes Tun ohne die Einmischung von außen, „bezeichnet den Bereich, in dem sich ein Mensch ungehindert durch andere betätigen kann“ (201), in dem also keine von einer Regierung, der Gesellschaft oder anderen Menschen ausgehenden Zwänge ein individuelles Verhalten erschweren oder verhindern. 

Besonders interessant ist die Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit im Hinblick auf die historische Entwicklung des Freiheitsbegriffes, denn „historisch betrachtet haben sich der `positive´ und der `negative´ Freiheitsbegriff … in entgegengesetzte Richtungen entwickelt, bis sie zuletzt direkt in Konflikt miteinander gerieten“ (211).

So war die Aufklärung im Verbund mit dem Rationalismus und der Wissenschaft in ihren Grundzügen eine Bewegung der positiv verstandenen Freiheit. Für die Anhänger der positiven Freiheit ist das Problem der Macht zentral, stets geht es um die Frage wer herrscht und wie man die Staatsgewalt in die Hand bekommen kann. Sie glauben zudem alles über das Wesen des Menschen zu wissen, wer und was der Mensch ist und worin der Zweck seines Lebens besteht - und sie waren meistens auch bereit, ihr Menschenbild mit Macht und Gewalt durchzusetzen.

Diese Bewegung ist bereits in ihren Anfängen unter der totalitären Herrschaft Robespierres in Terror umgeschlagen. Später wird es der „proletarische Zwang“ sein, der „in all seinen Formen, von der Exekution bis zur Zwangsarbeit, so paradox das klingen mag, die Methode ist, mit der … die kommunistische Menschheit geformt wird.“ (Safranski, 181).

Der Liberalismus, die andere geistige Haltung des 18. Jahrhunderts, wurzelt dagegen im negativen Freiheitsbegriff. Seine Anhänger stehen der Frage der Herrschaft grundsätzlich skeptisch gegenüber, weil sie wissen, dass Macht stets missbraucht werden kann.

Statue of Liberty
Auch in seinen Zielen ist der Liberalismus deshalb bescheidener. Er geht davon aus, dass der Mensch unvollkommen und voller Defekte ist, ein krummes Holz eben. Daher versucht er nun vor allem, die Macht des Staates durch Teilung der Gewalten zu begrenzen.

Das Prinzip der Gewaltenteilung gilt auch für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Hier findet der negative Freiheitsbegriff seine klassische Anwendung. Theoretiker wie Locke, Mill  und Toqueville waren der Ansicht, „dass es einen bestimmten persönlichen Freiraum geben müsse, der unter keinen Umständen verletzt werden dürfe; andernfalls fehle dem Individuum jenes Mindestmaß an Platz, das notwendig ist, um jene natürlichen Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihm überhaupt erst ermöglichen, die verschiedenen Zwecke, die Menschen für gut, richtig oder heilig halten, zu verfolgen oder auch nur zu erkennen“ (203).

Die Formulierungen der Freiheits- und Menschenrechte  dienen daher dem Zweck, einen individuellen Bereich zu definieren, der vor Eingriffen der politischen Gewalt geschützt werden soll. Der negative Begriff der Freiheit zielt auf die Verteidigung von Grundfreiheiten und definiert Freiheit vorrangig als politisches Freiheitsrecht, als Schutz gegen politische Eingriffe, als Freiheit von der Politik.

Jeder solle vielmehr nach seiner Facon selig werden können. Die existentiellen Fragen der Individuen, Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Moral oder der Religion bleiben der Freiheit und Entscheidungsgewalt des Einzelnen überlassen. Kein Staat hat das Recht, den Menschen auf eine bestimmte Identität, auf eine bestimmte Form der Glückseligkeit oder ein bestimmtes Lebensziel festzulegen, wie wohlwollend und positiv besetzt sie auch sein mögen.

Zitate aus: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006 (fischer)
Weitere Literatur: Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Frankfurt am Main 2004 (fischer)

Sonntag, 19. Februar 2012

Marc Aurel und die Bildung

Für die Römer war Bildung das, was den Menschen „aus dem rohen Zustand herausbringt“, lateinisch eruditio.

In der Zeit der Republik wurden die Kinder der reichen Familien privat unterrichtet, vorzugsweise von griechischen Hauslehrern. Der Bildungskanon umfasste neben dem Studium der Literatur, vor allem die Kunst der Rhetorik. Dazu kamen Lehrfächer wie Rechnen, Geometrie, Astronomie, Musik, Gymnastik und – typisch für Rom – das Recht.

Bildung war zunächst Charakterbildung, ihr Erziehungsziel war der tüchtige und redegewandte Mann, der vir bonus dicendi peritus – wie der ältere Cato das formulierte (Demandt, 196).

Mark Aurel (Glyptothek München)
Zum anderen war das Ziel der Erziehung eine praktisch-politische Lebenstüchtigkeit, wie Vergil in der Aeneis ausführt: „Andere werden eherne Bilder wohl glatter erschaffen, werden - ich glaube es gern - dem Marmor lebendigere Züge entlocken, besser das Recht verfechten und mit dem Zirkel die Bahnen am Himmel berechnen, auch den Aufgang der Sterne sicher bestimmen. Du aber, Römer, gedenke den Völkern mit Macht zu gebieten. Das sei dein Beruf, Gesittung und Frieden zu schaffen, Unterworfene zu schonen und niederzuringen die Stolzen“ (VI. Gesang, 847 ff).

Auch während der Kaiserherrschaft genoss Bildung weiterhin einen hohen Stellenwert, einige Kaiser wie Claudius und Hadrian waren ausgewiesene Gelehrte. Es galt als vornehm, gebildet, ja gelehrt zu sein. Aber unter allen Kaisern war wohl keiner so auf Bildung und Bücher versessen wie Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.).

Nach dem Tode Hadrians im Juli 138 zog der siebzehnjährige Mark Aurel zu Antoninus Pius, seinem Adoptivvater und neuem Kaiser. 139 wurde Mark Aurel von Antoninus zum Caesar erhoben und damit formell zum Thronfolger designiert. Damit begann eine dreiundzwanzigjährige Epoche eines allgemeinen Wohlstandes und weitgehender innerer und äußerer Stabilität. Zwei Philosophen herrschten gemeinsam im Staat und in enger Freundschaft verbunden.

Mit dem Tode des Antoninus Pius ging das Kaisertum 161 auf Mark Aurel über. So friedlich wie die erste Hälfte seiner Regentschaft war, so stürmisch gestaltete sich die zweite Hälfte: Hungersnöte und Pest, Aufstände und Kriege vor allem gegen verschiedene Germanenstämme führten dazu, dass Marc Aurel sein letztes Lebensjahrzehnt vorwiegend im Feldlager verbrachte. Hier setzte er seine philosophische Studien fort und verfasste auf griechisch seine Selbstbetrachtungen (Τὰ εἰς ἑαυτόν), die ihn der Nachwelt als Philosophenkaiser bekannt gemacht haben.

Selbstbetrachtungen, Ausgabe von 1727 (Foto: Gerd Thiele)
Mit 25 Jahren hatte sich Marc Aurel, beeinflusst durch die Schriften des Stoikers Ariston (ca 250 v. Chr.) von der klassischen römischen Bildung ab- und der Philosophie zugewandt. Das verstieß gegen die Sitte, denn schon Ennius schrieb, man dürfe aus der Philosophie nur Kostproben genießen, sich aber nicht von ihr verschlingen lassen: Degustandum ex philosophia, non in eam ingurgitandum. Man fürchtete, die Philosophie mache gedankenreich, aber tatenarm (Demandt, 207f).

In seinen Selbstbetrachtungen vertritt Marc Aurel einen undogmatischen Stoizismus (Demandt, 208). Weisheit ist für ihn mit der bereits erwähnten praktisch-politischen Lebenskunst identisch.

In kurzen und klaren Formulierungen beschreibt Marc Aurel seine aufrichtige Liebe für alles Vernünftige und Tüchtige. Dem Kaiser kommt es nicht darauf an, möglichst viel Wissen anzuhäufen, sondern sich mit dem Göttlichen in der eigenen Seele zu verständigen.

Die Aufgabe der Philosophie bestehe in der Bildung des Charakters und der Beruhigung der Seele. Dazu muss der Weise die drei wichtigsten Lehren des stoischen Systems beachten: Die Vorstellung vom steten Wandel aller Dinge, das Bewusstsein der Hinfälligkeit des Daseins und die Erkenntnis, dass Werden und Vergehen einen Kreislauf bilden, in dem ein Einzelnes keinen Bestand hat.

So kann Philosophie trotz des ständigen Wandels der Ereignisse, von Glück und Unglück, vergänglichen Sorgen und vergänglichen Freuden einen festen Halt bieten.

Darüber hinaus besteht für Marc Aurel der Sinn des Lebens in der Arbeit für die Gemeinschaft - im Geiste einer kosmopolitischen Philanthropie und eingebettet in die Harmonie der Natur. 

Nachdrücklich hält Marc Aurel an den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft fest. Er fühlt sich einem Staatsverständnis verpflichtet, „in welchem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz, und einer Regierung, die nichts so hochhält wie die bürgerliche Freiheit“ (Selbstbetrachtungen, Buch I, 14).

Seine philosophischen Überzeugungen schützten ihn vor absolutistischem Machtmissbrauch. „Nimm dich in acht davor, ein Tyrann zu werden! Bewahre deine Einfalt, Tugend, Reinheit, Würde, deine Natürlichkeit, deine Gottesfurcht, deine Gerechtigkeitsliebe, deine Liebe und Güte und deinen Eifer in Erfüllung der Pflicht. Ringe danach, dass du bleibst, wie dich die Philosophie haben will“ (Selbstbetrachtungen, Buch VI, 30). 

Stets war sich Mark Aurel der Grenzen seiner politischen Gestaltungsmöglichkeiten und der Hinfälligkeit utopischer Gesellschaftsmodelle bewusst. „Auch bilde dir den platonischen Staat nicht ein, sondern sei zufrieden, wenn es auch nur ein klein wenig vorwärts geht, und halte solchen kleinen Fortschritt nicht für gering. Denn wer wird die Gesinnung der Leute ändern? Ohne eine solche Änderung der Gesinnung aber, was würde anderes daraus entstehen als ein Knechtsdienst unter Seufzen, ein Gehorsam solcher, die sich stellen, als wären sie überzeugt“ (Selbstbetrachtungen Buch IX, 29).

Entscheidend im Leben ist letztlich die Einstellung zum Leben. Darin gipfelt die gesamte Lehre der Stoa und dies sei auch die einzig richtige Haltung eines Weisen: „Doch gehe durchs Leben wie jemand, der alles, was er hat, von ganzem Herzen den Göttern weiht, niemandes Tyrann und niemandes Knecht.“ (Selbstbetrachtungen IV, 31)


Literatur: Alexander Demandt: Das Privatleben der römischen Kaiser, München 2007 (C.H. Beck) -- Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, Essen 2004 (Magnus)  --  P. Vergilius Maro: Aeneis, Düsseldorf 2009 (Albatros)

Sonntag, 12. Februar 2012

Bernhard Bueb und die Disziplin

Im Jahre 2006 veröffentlichte der langjährige Leiter der Eliteschule Schloss Salem, Bernhard Bueb, seine Streitschrift  „Lob der Disziplin.“ Seine provokanten Thesen stießen nicht nur auf Zustimmung. Einige führende Vertreter der Erziehungswissenschaft brandmarkten Buebs Methoden als Schwarze Pädagogik oder sahen gar Übereinstimmungen mit rechtsextremen Bildungsidealen.

Bernhard Bueb (Foto: ddp)
Dabei geht es in Buebs Buch lediglich um einige der wichtigsten und damit notwendigerweise umstrittensten Aspekte der Pädagogik: „Führen und Wachsenlassen, Gerechtigkeit und Güte, Disziplin und Liebe, Konsequenz und Fürsorge, Kontrolle und Vertrauen“ (18).

Bueb unterscheidet grundsätzlich zwei Erziehungsstile, den des „Töpfers“ und den des „Gärtners“: „Der Erzieher, der das Bild des Töpfers zu seiner Leitidee erkoren hat, will den jungen Menschen formen, er greift ein, steuert, fordert heraus, diszipliniert, schafft Freiräume, um ihn auf die Selbstständigkeit vorzubereiten, ja er wird ihn in die Selbstständigkeit und Freiheit zwingen. 

Wer sich am Bild des Gärtners orientiert, wird eher darauf achten, dass der junge Mensch gute Beziehungen des Aufwachsens vorfindet, er wird ihn mehr fördern als fordern, weniger eingreifen, aber darauf vertrauen, dass er sich selbst diszipliniert, also wenig Zwang und Autorität braucht (…) Aber auch er greift ein, beschneidet die Pflanzen, bindet sie an Stangen und bewahrt sie vor Befall und Fehlentwicklung, wenn er ein guter Gärtner sein will“ (16).

In beiden Erziehungsideen, die ihre Extreme in autoritärer Erziehung bzw. in Nicht-Erziehung haben, ist die Frage der Disziplin von zentraler Bedeutung. Das Problem ist nun, dass Disziplin im öffentlichen Bewusstsein "alles verkörpert, was Menschen verabscheuen: Zwang, Unterordnung, verordneten Verzicht, Triebunterdrückung, Einschränkung des eigenen Willens“ (17f).

Dennoch plädiert Bueb für eine Erziehung, die sich an der Disziplin, "dem ungeliebten Kind der Pädagogik“, orientiert. Die geforderte fundamentale Rolle der Disziplin in der Pädagogik leitet er aus folgenden Prämissen ab: „Disziplin beginnt immer fremdbestimmt und sollte selbstbestimmt enden, aus Disziplin soll immer Selbstdisziplin werden. Disziplin in der Erziehung legitimiert sich nur durch Liebe zu Kindern und Jugendlichen“ (18)

Dabei ist „Disziplin“ für Bueb niemals Selbstzweck, sondern wird immer (!) in Abhängigkeit von der Idee der Freiheit betrachtet. Irrtümlicherweise wird Freiheit zumeist mit Unabhängigkeit gleichgesetzt, obwohl Freiheit deutlich mehr ist. Freiheit bezeichne vielmehr „den Willen und die Fähigkeit, sich selbst ein Ziel zu setzen, dieses Ziel an moralischen Werten auszurichten, mit dem eigenen Leben in Übereinstimmung zu bringen und konsequent verfolgen zu können“ (33).

Freiheit zielt somit auf Selbstbestimmung. Selbstbestimmung aber ist eben kein angeborener Zustand, sondern „die späte Frucht einer langen Entwicklung, die man allein durch unendliche Stadien der Selbstüberwindung, des Wandels von Disziplin zur Selbstdisziplin“ (34) erwirbt. Freiheit als eine Tugend und Selbstbestimmung sind also ohne Disziplin und Selbstdisziplin unmöglich.

Disziplin und Selbstdisziplin sind darüber hinaus auch notwendige Voraussetzung für persönliche Glückserlebnisse, denn Glück spürt man vorrangig nach einer gelungenen schöpferischen und durch Disziplin erreichten Leistung: „Viele kennen das Glücksgefühl, das einen durchströmt, wenn man den Gipfel eines Berges erobert hat. Ein Jugendlicher übt monatelang, um bei einem öffentlichen Vorspiel seiner Klavierklasse auftreten zu können. Die Disziplin zum Üben bringt er auf, weil ihm ein einzigartiges Glücksgefühl nach dem letzten Ton seines Vorspiels winkt“ (40).

Disziplin ersetzt also das Lustprinzips durch das Leistungsprinzip. Dies gilt letztlich auch für die Pädagogik: „Die Erziehung eines Menschen vollendet sich durch Bildung. Bildung heißt, sich das Wissen der Vorfahren aneignen, mithilfe dieses Wissens sein Leben deuten und daraus Impulse für sein Handeln gewinnen können" (25). Die Aneignung von theoretischem Wissen, von Deutungen und von handlungsrelevanten Kompetenzen ist aber ohne Anstrengung überhaupt nicht möglich.

Lukian aus Samosata
Letztlich zielen Erziehung und Bildung darauf, „einen Menschen instand zu setzen, sich selbst und die Welt zu erkennen und in ihr mutig zu handeln“ (25). Mit diesen Aussagen steht Bueb, bei aller Polemik, in der guten Tradition der antiken Paideia, wie sie beispielsweise Lukian aus Samosata im 2. Jh. in seiner Erzählung „Lukians Traum“ beschrieben hat.

Es ist Buebs Verdienst, die Frage erneut aufgeworfen zu haben, was Kinder und Jugendliche brauchen, um in einer sich ständig ändernden Welt verantwortungs- und selbstbewusst ihr Leben meistern können. Disziplin gehört ebenso wie Freiheit ganz sicher dazu.

Zitate aus: Bernhard Bueb: Lob der Disziplin. Eine Streitschrift, Berlin 2006 (List Verlag)
Weitere Literatur: Micha Brumlik (Hg.): Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb. Weinheim 2007 (Beltz)

Donnerstag, 9. Februar 2012

Richard Wagner und die Kunst der Antike

Im Jahre 1849 erschien unter dem Titel „Die Kunst und die Revolution“ eine der Hauptschriften Richard Wagners. In ihr stellt er die von ihm idealisierte Kultur der antiken griechischen Polis den kulturellen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert gegenüber.

Richard Wagner (1813-1883)

In der Welt der Griechen erblickt Wagner das Ideal einer  wahren Kultur, denn in der griechischen Polis seien Gesellschaft und Individuum, öffentliches und privates Interesse noch miteinander verbunden gewesen. Kunst sei immer auch eine öffentliche Angelegenheit gewesen, ein Ereignis, durch das sich das Volk den Sinn und die Prinzipien seines gemeinschaftlichen Lebens in festlichem, sakralem Rahmen vor Augen führte:

„Dieses Volk strömte von der Staatsversammlung, vom Gerichtsmarkte, vom Lande, von den Schiffen, aus dem Kriegslager, aus fernsten Gegenden, zusammen, erfüllte zu Dreißigtausend das Amphitheater, um die tiefsinnigste aller Tragödien, den Prometheus, aufführen zu sehen, um sich vor dem gewaltigsten Kunstwerke zu sammeln, sich selbst zu erfassen, seine eigene Tätigkeit zu begreifen, mit seinem Wesen, seiner Genossenschaft, seinem Gotte sich in innigste Einheit zu verschmelzen und so in edelster, tiefster Ruhe das wieder zu sein, was es vor wenigen Stunden in rastlosester Aufregung und gesondertster Individualität ebenfalls gewesen war.“

Für Wagner ist die griechische deshalb die wahre und ursprüngliche Kunst, weil sie nicht nur der Ausdruck absoluter Freiheit ist, sondern auch „die höchste Tätigkeit eines im Einklang mit sich und der Natur befindlichen Menschen“ darstellt.

In der modernen Kunst gäbe es diese Öffentlichkeit nicht mehr. Kunst sei zu einer Industrie geworden und damit unter die Zwänge der Kommerzialisierung und Privatisierung geraten: „Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten.“

Auch der Künstler sei zum Produzenten geworden - für Wagner ein skandalöser Vorgang, da Kunst doch als Ausdruck menschlicher Schöpferkraft eine Würde an sich besitzt.

Notwendig sei daher eine Revolution der Kunst. Die neue Verbindung von Gesellschaft und Individuum kann die alte Kultur der Griechen allerdings nicht mehr leisten. In seinen Gedanken lässt sich Wagner leiten von der Religionskritik Ludwig Feuerbachs, dessen Abhandlung „Das Wesen des Christentums“ (1841) er zuvor gelesen hatte.

Mit Feuerbach sieht er in den Göttern Projektionen der freien Schöpferkraft des Menschen und aus diesem Grund muss die Idee des freien Menschen die Stelle der Religion einnehmen. Für Wagner ist die Gestalt Siegfrieds eine solche künstlerisch brauchbare Verkörperung der Freiheit. Hier lässt sich ein Mensch erkennen, der sich von der Gewalt der Götter freimacht. In der Antike hatte Wagner die Gestalt des Prometheus verherrlicht, Siegfried ist für ihn ein neuer Prometheus.

Wagners Steckbrief
Revolution und Kunst haben ein gemeinsames Ziel: „Dieses Ziel ist der starke und schöne Mensch: die Revolution gebe ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit!“ Das Kunstwerk Wagners, das diese Aufgabe erfüllen soll, ist das Nibelungendrama, an dem Wagner fast ein Vierteljahrhundert arbeiten wird.

Im Augenblick jedoch ist Wagner auf der Flucht und hält sich – in Deutschland steckbrieflich gesucht – in Zürich auf. Er hatte im Frühjahr 1849 zusammen mit Bakunin an den Vorbereitungen eines bewaffneten Aufstandes gegen den sächsischen König teilgenommen. Die Dresdener Revolte wird im Mai 1849 jedoch niedergeschlagen, die Rädelsführer verhaftet. Wagner kann – mit Hilfe Franz Liszts – sich in die Schweiz retten. Dort entsteht schließlich „Die Kunst und die Revolution“.

Literatur: 
Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution, Leipzig 1849 (Verlag Otto Wiegand) -- Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt a.M. 2010 (Fischer Tb)

Sonntag, 5. Februar 2012

Boethius und die Fortuna


Im Jahre 1937 wurde die „Carmina Burana“ in der Frankfurter Oper uraufgeführt. Die Texte für diese szenische Kantate entnahm Carl Orff der Benediktbeurer Handschrift, einer Sammlung von Lied- und Dramentexten, entstanden zwischen dem 11. und 13. Jh..

Das Schicksalsrad (aus dem Codex Buranus, 13. Jh)
Das Werk beginnt und endet mit einem mächtigen Chor zu Ehren der Schicksalsgöttin Fortuna, der „Imperatrix Mundi“. Schicksal und Glück sind es, die sich ständig verändern („statu variabilis”) und das Leben der Menschen durcheinanderbringen („vita detestabilis“). Ihnen bleibt angesichts des rollenden Glücksrades („rota tu volubilis“) nur Angst und Ungewissheit („sors immanis et inanis“). Den einzigen Trost findet man allein darin, dass auch der Mächtige irgendwann stürzen wird („corde pulsum tangite; quod per sortem sternit fortem“).

Ähnliche Gedanken über die Unstetigkeit des Schicksals hatten schon einige Jahrhunderte vorher Anicius Manlius Severinus Boethius (*ca. 483 n. Chr.) bewegt. Boethius gehörte zu den engsten Vertrauten des Kaisers Theoderich. Aus bis heute ungeklärten Umständen fiel Boethius in Ungnade und wurde wegen Hochverrats zum Tod verurteilt. Etwa ein Jahr vor seiner Hinrichtung im Jahr 524 n. Chr. verfasst Boethius im Gefängnis seine Consolatio Philosophiae. Dort zeichnet er das Bild eines vom Tod bedrohten und von allen Freunden verlassenen zugleich aber unschuldigen und gerechten Menschen, der in der Philosophie den wahren Arzt für seine kranke Seele gefunden hat.

Im 2. Buch seiner Trostrede stehen der Begriff und die Gestalt der Fortuna im Mittelpunkt. Fortuna wird als eine Person beschrieben, die mit ihrer Gunst kommt und geht, wie es ihr Spaß macht. Boethius appelliert an den Menschen, sich über dieses Wesen des Glücks klar zu werden:

„Du meinst, das Glück habe sich dir gegenüber gewandelt: du irrst! Dies sind immer seine Sitten, dies ist seine Natur. Es hat vielmehr gerade in seiner Veränderlichkeit dir gegenüber seine ihm eigentümliche Beständigkeit bewahrt (…) Warum versuchst du, den Schwung des rollenden Rades aufzuhalten?“ (1p)

Boethius erinnert den Menschen daran, dass alles, was er besitzt, ihm nur zeitweilig geliehen ist. Dies gilt auch für ihn selbst: Er war glücklich, jetzt ist er unglücklich, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das Glück noch einmal zurückkehrt.

Boethius (Holzschnitt aus dem 15. Jh.)
Grundsätzlich stellt Boethius fest, dass das wahre Glück nicht in äußeren Gütern wie Reichtum, Ehre, Macht und Ruhm zu finden ist, sondern allein im Menschen selbst liegt:

„Was also, ihr Sterblichen, sucht ihr draußen das Glück, das in euch liegt … Wenn du deiner selbst mächtig wirst, wirst du auch besitzen, was du weder jemals verlieren wirst noch das Glück dir rauben kann.“ (4p)

Es sei schlicht absurd, die inneren Güter zu vernachlässigen und sich stattdessen mit äußeren Dingen zu schmücken. Dieser Gedanke führt Boethius schließlich zur delphischen Weisheit des „Erkenne dich selbst“:

„Das ist ja die Grundbedingung der menschlichen Natur: so hoch sie über alle Dinge emporragt, wenn sie sich selbst erkennt, so tief sinkt sie noch unter die Tiere, wenn sie aufhört, sich zu erkennen.“ (5p)

Wer sich also von allen äußeren Dingen und Leidenschaften befreit, der ist letztlich unbesiegbar und weder Naturgewalten noch Tyrannen können ihm schaden.

„Du musst dein Haus bescheiden
Fest auf Felsen erbauen.
Dann mögen Stürme brausen,
Trümmer mischen die Fluten,
In Ruhe fest gegründet
Schützt ein kraftvoller Wall dich,
Du führst ein heiteres Leben,
Lachst des Zornes der Winde.“
(2. Buch, 4c)



Zitate aus:
Boethius: Trost der Philosophie, Düsseldorf, 2004 (Artemis und Winkler)

1975 wurde die Carmina Burana im Stile eines szenischen Liedes unter der musikalischen Leitung von Kurt Eichhorn für das Zweite Deutsche Fernsehen aufgenommen. In Youtube kann man sich Ausschnitte der Aufnahme ansehen, u.a. auch den Eingangschor „Fortuna Imperatrix Mundi“