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Donnerstag, 28. März 2024

Michael Lüders und die Gefahr des betreuten Denkens - Teil 5

Fortsetzung vom 21.03.2024

„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. 

Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der unsere Kultur eher früher als später vor die Wahl stellen dürfte, falls nicht bereits geschehen: entweder Aufklärung und universalistische Menschenrechte oder aber eine Rück-kehr der Stämme in neuem Gewand.

Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums. Der Begriff `Identitäts-politik´ bezeichnet zunächst ein ideologisiertes Handeln, bei dem die Bedürfnisse einzelner gesellschaftlich benachteiligter Gruppen, in Deutschland vornehmlich von Frauen und sexuellen Minderheiten, in den Vordergrund rücken. Mit der Absicht, ihren jeweiligen Einfluss zu stärken und einen privilegierten Zugang bei der Verteilung von Macht und Ressourcen zu gewährleisten.

 

Die Anfänge der Identitätspolitik reichen zurück in die USA der 1960er und 1970er Jahre und haben ihre Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung. Insbesondere der Aktivismus von Frauen, Schwarzen, Indigenen und Homo-sexuellen wurde zu deren Motor und erzielte große Resonanz in der Öffentlichkeit.

 

In Europa begann der Siegeszug der Identitätspolitik im gesellschaftlichen Kontext der Postmoderne. Zu dieser ideengeschichtlichen Strömung gehören Skepsis gegenüber äußeren Formen von Realität, die Infragestellung von Vernunft, die Wahrnehmung von Sprache als ein Instrument, das Wissen und Herrschaft konstruiere, der Verlust von Weltanschauungen und Gewissheiten, die Suche nach Identität. 

 

Kulturelle Apartheid - "Immer schön auf die anderen zeigen ...!"
 

Die Postmoderne (…) entfaltete sich parallel zum Übergang von einer mehr oder weniger gemeinwohlorientierten Marktwirtschaft in Richtung auf einen weitgehend deregulierten Finanz-Kapitalismus. Die Privatisierung staatlicher Daseinsfürsorge unter US -Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher bereitete in den 1980er Jahren wiederum dem globalisierten Neoliberalismus den Weg. So gut wie alles stand in der Folgezeit zum Verkauf, auch das Bildungssystem oder das Gesundheitswesen. Die Folge waren und sind prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse für viele. Gewerkschaften gerieten zunehmend in die Defensive, die letzten Reste einer klassenbewussten Arbeiterschaft haben sich in Luft aufgelöst.”

 

Die Folge war ein gestig-spirituelles Vakuum bei vielen Menschen, begleitet von der wachsenden Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Postmoderne und Identitätspolitik füllten dieses Vakuum und wurden im europäischen Kontext eins – auf Kosten der Postmoderne, von der heute kaum noch jemand spricht. Seit den 1990er Jahren entstand unter dem gemeinsamen Dach gruppen-bezogener Identitäten eine breite Palette hochgradig ideologisierter neuer Theorien. Darunter etwa die postkoloniale Theorie, die Queer-Theorie, die Critical-Race-Theorie.

 

Sie alle versuchen, Geschichte, Identität oder gesellschaftliche Wirklichkeit aus der Perspektive der jeweiligen Gruppe zu `dekonstruieren´. Auf der der Grundlage subjektiver Befindlichkeiten und Moralismen. Mit dem Ziel, die jeweils eigene, hochgradig fokussierte Wahrnehmung von Realität für allgemeingültig zu erklären. Sie allein sei die Wahrheit. Gesichertes Wissen dagegen gilt als verdächtig, steht im Ruf elitärer Aneignung.

 

Die Aussage »die Erde ist eine Kugel« ist demzufolge erst einmal dahingehend zu überprüfen, ob der alte weiße Mann, der diese Behauptung erstmals aufgestellt hat, nicht möglicherweise queer- oder frauenfeindlich eingestellt war. Sollte dem `gefühlt´ so sein, wäre der Wahrheitsgehalt seiner Aussage insgesamt infrage zu stellen, wenn nicht hinfällig. Käme hingegen der Angehörige einer bislang benachteiligten oder diskriminierten Gruppe zu dem Ergebnis, die Erde sei eine Scheibe, wäre dessen Aussage mindestens so valide wie die des alten weißen Mannes. Denn nicht die Faktenlage ist im Zweifel entscheidend, sondern die Authentizität der eigenen Empfindung, der moralisierende Impuls. Warum finden Fake News eine so große Resonanz? Hier liegt eine der Antworten.”

 

Damit kein Missverständnis aufkommt. Nach Lüders gibt es Identitätspolitik im linken wie im rechten politischen Lager, unter Trump-Anhängern beispielsweise. “Meist ältere heterosexuelle Männer fordern für sich denselben `Milieuschutz´, dieselben Privilegien, die auch Frauen, Latinos, Schwarze oder Schwule für sich in Anspruch nehmen. 

 

Was letztendlich das ursprüngliche Anliegen von Identitätspolitik ad absurdum führt, da diese Bevölkerungsgruppe der »White Old Men« ein Hauptadressat ihrer Kritik war und ist. Das Pendant in Deutschland ist die »identitäre Bewegung«, ein Sammelbegriff für mehrere aktionistische, völkisch gesinnte Gruppierungen. Sie sehen in der `Islamisierung´ Europas eine Gefahr für die `Identität´ einer als ethnisch homogen wahrgenommenen europäischen Kultur.” Dabei ist “Kultur” niemals homogen, insbesondere wenn sie absurderweise auch noch in engen nationalen bzw. nationalstaatlichen Grenzen definiert wird.

Fortsetzung folgt

Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023

Donnerstag, 4. Juli 2013

Richard Herzinger und die Illusion einer direkten Demokratie

Dass Bürger mit einzelnen Maßnahmen oder mit der gesamten Politik ihrer Regierung unzufrieden sind, ist eine alltägliche, in allen Ländern der Welt zu beobachtende Gegebenheit.

Wenn Menschen also nach der Rechtfertigung konkreter politischer Entscheidungen fragen oder gar den Sinn einer staatlichen Ordnung überhaupt in Zweifel ziehen, dann geschieht das vor der schlichten historischen Tatsache, dass politische Herrschaft einerseits der Gefahr der Korruption ausgesetzt ist, andererseits auch zu Zwecken der Unterdrückung benutzt werden kann. 
  
Legitimation politischer Herrschaft über den Gesellschaftsvertrag
(Titelbild des "Leviathan" von Thomas Hobbes´ - 1651)

In der Philosophie führen diese Gedanken in  das Zentrum des Legitimationsproblems politischer Herrschaft. Neben den klassischen Legitimationsmodellen stellt sich heute vielerorts die Frage, ob sich ein Staat seine Legitimation immer wieder durch die aktive Zustimmung seiner Bürger bestätigen lassen muss – auch und gerade durch neue Formen der Zivilgesellschaft, die meist unter dem Begriff „direkte Demokratie“ gehandelt werden.

In seinem ZEIT-Artikel „Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?“ (erschienen im Mai 2000) hat der Literaturwissenschaftler, Journalist und Publizist Richard Herzinger die westliche Demokratie mit ihrem Liberalismus, Individualismus und den Institutionen der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie verteidigt. Im gleichen Zug kritisiert er Formen einer direkten, nicht durch Institutionen vermittelten Demokratie, weil in ihnen – so seine durchaus provokante These – vormoderne und autoritäre Vorstellungen einer `Volksgemeinschaft´ zum Ausdruck kämen.

Herzinger geht davon aus, das „Direkte Demokratie“ mittlerweile in der Politik zum Zauberwort aufgestiegen ist: „Mehr Bürgerbeteiligung soll die Entfremdung der politischen Klasse vom obersten Souverän, dem Volk, aufheben. Vorwahlen, Urabstimmungen, Volksentscheide sollen den entscheidungsschwachen Politikern Beine machen, die parlamentarische Kandidatenauswahl transparenter werden lassen und die Gesetzgebungsprozeduren beschleunigen.“

Dabei ginge man davon aus, dass sich unser Land im rasanten Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft die unflexible politische Apparatur des institutionellen Parlamentarismus nicht mehr leisten kann. Wenn dann aber gefragt würde, wer mit „Klüngelwirtschaft und Selbstbedienungsmentalität der Volksvertreter und Parteifunktionäre“ aufräumen solle, dass hieße es: "`Das Volk´ - `Der Bürger´ Denn der, so tönt es, weiß am besten, was gut für alle ist. Und soll die politische Profikaste jetzt unmittelbar anweisen, was sie zu tun oder zu lassen hat.“

Die Prämisse direkter Demokratie: "Systemfehler - Bitte neustarten!"

Es scheint also, dass mittlerweile nicht nur linksutopische Basisdemokraten oder rechte Populisten vereint nach der herrschaftsfreien Demokratie rufen würden, sondern auch führende Vertreter der staatstragenden Parteien.

Das Problem jedoch sei, dass die „Verwischung der Grenzen zwischen institutionell getrennten Sphären“ nicht Öffentlichkeit und damit die Transparenz der Macht fördere, sondern sie zerstöre. „Just aber, da die Basisdemokraten das einzusehen beginnen, schlagen die alten Parteien diese Erfahrung rhetorisch in den Wind.“

Gegenüber den „Segnungen der direkten Demokratie skeptisch zu sein“ bedeutet in einem recht einfachen Sinne zuzugestehen, dass es `das Volk´ als eine Einheit in Wirklichkeit gar nicht gibt, „weder als unverdorbene authentische Substanz der Nation noch als unmündigen, maßlosen `Pöbel´ oder als Summe konsumhöriger `Herdentiere´, wie es die kulturpessimistischen Kritiker der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts an die Wand gemalt haben.“ In der Tradition der liberalen Auffassung vom Rechtsstaat  existiert `das Volk´ dagegen „nur als ein gedachtes Ganzes und nur im Augenblick des Wahlakts. In dieser Situation bildet die Summe aller Wahlberechtigten ein ideelles Subjekt als oberster Souverän.“

Wahlen

Zwischen den Wahlen aber sei `das Volk´ ein fiktiver Begriff, denn nun  könne man nur `den Bürgern´ sprechen mit all ihren gegensätzlichen Interessen und Bedürfnissen: „Individuen also, die nicht mehr oder weniger prinzipienfest oder korrupt sind als die Personen, die von ihnen in öffentliche Ämter gewählt werden.“

Gerade weil es einen unmittelbar feststellbaren Willen des Volkes nicht gibt, „schaffen die Institutionen der repräsentativen Demokratie öffentliche Räume, in denen sich die diffusen Einzelinteressen und subjektive Meinungen zu objektivierbaren politischen Argumenten umbilden können. Erst wo ein solcher Raum entsteht, kann in Umrissen so etwas wie ein Gesamtwille sichtbar werden.“

Herzinger lässt hier keinen Zweifel: Nicht die repräsentativen Institutionen seien eine Abstraktion vom konkreten Willen des Volkes, sondern umgekehrt: Erst die institutionalisierte Demokratie verwandelt die Abstraktion `Volk´ in ein sichtbares, der Überprüfung unterworfenes Gebilde.

Sicher, wo immer plebiszitäre Formen die Räume verstärken und vergrößern können, in denen sich die Einzelnen im eigenen Namen artikulieren können, mögen sie willkommen sein. „Der Glaube aber, die unmittelbare Artikulation von Überzeugungen könnte politische Entscheidungsprozeduren beschleunigen oder gar ersetzen, ist naiv. In diesem Glauben spricht sich die Illusion aus, Beschlussbeschleunigung bedeute automatisch auch Verfahrensbeschleunigung.“

Abstimmungsverhalten bei der spanischen Bewegung "15-M": "Hände hoch!!!"

Für Herzinger wird diese Täuschung durch die neuen technischen Möglichkeiten, über die jeder Einzelne heute verfügt, noch verstärkt. Die neuesten Verheißungen von Internet-Demokratie und Kampagnen in Sozialen Netzen bleibt letztlich eine Illusion. „Nehmen wir an, es wäre möglich, über alle großen politischen Fragen unverzüglich übers Netz abzustimmen. Dann müsste konsequenterweise auch die potenzielle Möglichkeit für alle gegeben sein, sich über das gleiche Medium schon im Vorfeld in die Diskussion um die Formulierung von Entscheidungsvorlagen und in die Umsetzungsprozeduren gefasster Beschlüsse einzuschalten. Das würde die Komplexität von kollektiven politischen Willensbildungsprozessen ins Ungeahnte steigern und sie keineswegs vereinfachen.“

Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist überraschend einfach: Politik müsse sich wieder schärfer als das Feld eines geregelten öffentlichen Wettbewerbs der Ideen und Handlungsvorschläge ins Spiel bringen. Dabei ginge es weder um „das zwanghafte Streben nach `Glaubwürdigkeit´“ noch um „die Beteuerung, es handele sich bei Politik um eine simple Angelegenheit des gesunden Menschenverstands.“

Vielmehr müsse es in der Politik wieder mehr darauf ankommen, dass auf die argumentative Überzeugungskraft öffentlicher Personen und Zusammenschlüsse gesetzt wird, „die es wagen, sich für fehlbare, aber gleichwohl deutlich formulierte Zielvorstellungen in den komplizierten, endlosen Konflikt der Interessen und Werte zu begeben, der eine offene Gesellschaft prägt.“

Zitate aus: Richard Herzinger: Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?, in: Die Zeit, 18. Mai 2000 

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Aristoteles und die Demagogen


Aristoteles (Francesco Hayez - 1811)
Für Aristoteles ist der Staat zunächst nicht mehr als ein Zusammenschluss kleinerer Einheiten (Familie, Hausgemeinschaft, Dorf) zu einer großen und vielfältigen Gemeinschaft.

„Es ist doch klar, dass ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Auch wenn man eine Einheit herstellen könnte, so dürfte man es nicht. Denn dann würde man den Staat überhaupt aufheben. Der Staat besteht ja nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat“ (1261 a 20ff).

Als Gemeinschaft hat der Staat die Aufgabe, sowohl das Überleben zu garantieren als auch das vollkommene Leben seiner Bürger zu ermöglichen, so dass diese selbst und auf ihre individuelle Art und Weise die Glückseligkeit erreichen können.

„Obwohl zunächst entstanden, um das Überleben zu sichern, besteht der Staat doch weiter, um das vollkommene Leben zu ermöglichen. Darum existiert auch jeder Staat von Natur aus“ (1281 a 1).

Unter diesen Prämissen untersucht Aristoteles nun verschiedene Staatsformen und teilt sie in „gute“ und „entartete“ Verfassungen ein, entsprechend ihrer Tendenz, die oben beschriebenen Ziele zu erreichen, bzw. für das Wohl der Allgemeinheit und nicht für den Eigennutz der Herrschenden zu sorgen. Der Monarchie und Aristokratie  werden auf diese Weise die Tyrannis und die Oligarchie gegenübergestellt.

Der Demokratie widmet Aristoteles im IV. Buch besondere Aufmerksamkeit. Hier unterscheidet er insgesamt fünf verschiedene Formen demokratischer Herrschaft, darunter auch die von ihm favorisierte „Politie“, bei der Reiche und Arme zu gleichen Teilen an der Regierung teilhaben:

„Von den Demokratien ist die erste diejenige, in der die Gleichheit am meisten vorhanden ist. Unter Gleichheit versteht das Gesetz einer solchen Demokratie dies, dass keiner, reich oder arm, einen Vorrang hat, dass kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig sind“ (1291 b 30)

Grundsätzlich aber hält er die Demokratie für eine Herrschaft von (zu) vielen Freien und Armen zu Lasten der Tüchtigen und zum Schaden der Wohlhabenden. Weil die Armen in einem Staat immer zahlreicher sind, sind sie in einer auf dem Mehrheitsprinzip beruhenden Demokratie stets mächtiger.

Dies zeigt sich insbesondere an der letzten der fünf demokratischen Staatsformen, der extremen Demokratie. Während in den ersten vier Formen der Demokratie die Regierung auf der Grundlage von Recht und Gesetz erfolgt, liegt die Ausübung der Herrschaft in der extremen Demokratie stets in den Händen von Demagogen.

Aristoteles beschreibt mit dem Begriff „Demagogie“ zunächst eine moralisch verwerfliche Verhaltensweise, nämlich die Schmeichelei gegenüber Personen oder Gruppen zum Zweck persönlichen Macht- oder Gelderwerbs: „Der Demagoge ist nämlich der Schmeichler des Volkes“ (1313 b 40).

Darüber hinaus ist „Demagogie“ ein Verhalten, das vor allem aber in degenerierten Demokratien vorkommt:

Demosthenes (Fries im österreichischen Reichsrat)  
„Denn in solchen Demokratien, in welchen das Gesetz herrscht, kommt kein Demagoge auf, sondern die tüchtigsten unter den Bürgern sind die Stimmführer, wo aber die Gesetze nicht die Herren sind, da stehen Demagogen auf. Dort nämlich wird das Volk der Monarch, wenn auch ein aus vielen einzelnen zusammengesetzter, da die vielen nicht jeder für sich, sondern als Gesamtheit die Regierungsgewalt ausüben.

Ein solche Art von Volk, da es Alleinherrscher ist, sucht unumschränkt zu gebieten, indem es sich von den Gesetzen nicht regieren lässt, und wird so zu einem Despoten, so dass auch die Schmeichler bei ihm zu Ehren kommen, und es entspricht eine solche Volksherrschaft der Tyrannenherrschaft unter den Monarchien.

Darum ist auch der Charakter beider derselbe, und beide herrschen despotisch über alle Besseren, und die Volksbeschlüsse spielen hier die nämliche Rolle wie dort die Befehle;

Auch Demagoge und Schmeichler entsprechen einander genau, und beide haben bei beiden am meisten Einfluss, der Schmeichler beim Tyrannen und der Demagoge bei einem solchen Volk.

Die Demagogen nun sind schuld daran, dass alles nach Volksbeschlüssen und nicht nach den Gesetzen entschieden wird, indem sie alles vors Volk ziehen. Denn dadurch werden sie mächtig, dass das Volk alles selbst entscheidet und sie nun eben wieder die Meinung des Volkes bestimmen, indem sie es ja sind, denen die Menge gehorcht. Dies nun nimmt eine solche Berufung bereitwillig an, und so lösen sich die Ämter auf“ (1292 a 7-30).

Zwischen Demagoge und Volk gibt es somit eine wechselseitige Abhängigkeit: Weil die Macht in der extremen Demokratie beim Volk liegt, gehorcht es den Demagogen, die diese Alleinherrschaft des Volkes zugleich unterstützen und somit gleichermaßen Ursache als auch Folge einer „gesetzlosen“ Demokratie sind. 

Aristoteles´ Kritik zielt deutlich auf die Athener Demokratie in ihrer radikalen Phase. Explizit nennt er Ephialtes und Perikles (1274 a 10-14), an denen er deutlich macht, wie Demagogen die Macht des Volkes ausbauen, indem sie die Einflussmöglichkeiten der „Reichen“ beschränken, diesen ihr Geld wegnehmen und an das Volk verteilen.

"Die Gefallenenrede des Perikles" (Philipp von Foltz) 

So sei athenische Demokratie schließlich in eine Herrschaft des Pöbels ausgeartet: Die Masse der Bürger habe weder ausreichende Kenntnis in politischen Angelegenheiten besessen, um sachgerechte Entscheidungen zu treffen, noch habe sie sich mit einem Gegenstand ausreichend vertraut machen können, um gerechte Urteile zu fällen.

Von Demagogen geschickt ausgenutzt hat zudem die Form der Entscheidungsfindung an sich – die sofortige Entscheidung nach der Diskussion, ohne die Sache noch einmal in Ruhe überdenken zu können – zu einer stark emotionalisierten Atmosphäre geführt, in der rationale Argumentationen geringe Durchsetzungschancen hatten.

Falls die auf diese Weise beschlossenen Unternehmungen in einem Misserfolg endeten, habe das Volk Sündenböcke gesucht, und – da der neidischen breiten Masse herausragende Individuen sowieso ein Dorn im Auge gewesen seien – die besten Leute der Polis durch Ostrakismus vertrieben oder durch Prozesse verfolgt (Sokrates, Miltiades, Themistokles).

So kommt man nach der Lektüre von Aristoteles zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass Demagogen ein moralisch verwerflicher, und dennoch strukturell notwendiger Bestandteil von Volksherrschaften und zugleich ein Faktor für deren Untergang sind.

Zitate aus: Aristoteles: Politik (München 1976)