Donnerstag, 26. Juni 2014

Apuleius und die antiken Märkte

Lucius Apuleius wurde um 123 in Madaura, einer damals blühenden Kolonie an der fernen Grenze des römischen Weltreiches (heute Algerien), geboren. Seiner ungewöhnliche Begabung führte ihn bald nach Karthago und anschließend an die Akademie von Athen. 155 siedelte er nach Rom über und arbeitete dort als Rechtsanwalt. Schließlich kehrte er als Provinzialpriester des Kaiserkultes nach Karthago zurück. 

Metamorphosen (Erstdruck, Rom 1469)
Als Redner, Dichter und Philosoph war er gleichermaßen in der lateinischen als auch griechischen Sprache zuhause. Seinen andauernden Ruhm verdankt er seinem Hauptwerk, den „Metamorphosen“, auch bekannt unter dem Titel „Der goldene Esel“. Lucius, der Held des Romans, schildert hier seine gefährlichen und amourösen Abenteuer in Nordafrika, berichtet von Begegnungen und märchenhaften Geschichten, die ihm unterwegs erzählt werden. Die kleineren und größeren Erzählungen innerhalb des Romans, deren umfangreichste und berühmteste das Märchen von Amor und Psyche ist, sind eingebettet in den Erzählstrom einer Odyssee voller unerwarteter Wendungen.


Gleich im ersten Buch wird in einer kleinen Anekdote vom Händler Aristodemos erzählt, der sein Brot durch den Handel mit hochwertigen Produkten verdiene, die er auf lokalen Märkten einkaufe und dann gewinnbringend verkaufe: „Ich heiße Aristomenes, bin aus Ägina und treibe in Thessalien, Ätolien, Böotien Handel mit Honig vom Berge Ätna, mit Käse und so dergleichen Waren mehr, die in den Gasthäusern gebraucht werden.“

Auf die Nachricht hin, in der mittelgriechischen Stadt Hypata sei ein bestimmter Frischkäse sehr günstig zu haben, sei er auf schnellstem Weg dorthin geeilt, um dann aber festzustellen, dass der Großhändler Lupus (lat. Wolf) bereits den gesamten Käse aufgekauft habe: „Einstmals nun zieh’ ich Kundschaft ein, daß zu Hypata, der angesehensten Stadt in ganz Thessalien, frischer, wohlschmeckender Käse um sehr billigen Preis zu haben sei. Ich mache mich eiligst dahin auf, gleich den ganzen Vorrat wegzuschnappen. Allein ich armer Schelm mußte zur bösen Stunde ausgegangen sein, meine Hoffnung, einen trefflichen Schnitt zu machen, schlug mir fehl; wie ich hinkam, hatte schon tags zuvor Kaufmann Wolf allen Käse weggekauft.“


Phönizisches Handelsschiff

Diese kleine Anekdote zeigt, dass Märkte bereits in der Antike funktionierten und eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben spielten. Diese Rolle jedoch im Detail zu rekonstruieren, ist gleichwohl unmöglich. Nur in Ausnahmefällen geben Quellen Auskunft darüber, wie die verschiedenen Formen des kaufmännischen Austausches ineinandergriffen. So kann man auf einem ägyptischen Papyrus die Instruktionen ablesen, die der Finanzminister eines ungenannten Ptolomäerkönigs seinen Beamten mit auf den Weg gab. Sie sollen einerseits kontrollieren, dass die Waren auf den Märkten nicht zu Preisen angeboten würden, die über den vorgeschriebenen lägen, andererseits aber die Qualität der Produkte überprüfen, deren Preis nicht per Dekret festgesetzt sei, den die Händler also frei festsetzen konnten (nach Sommer, 97).

Wir können davon ausgehen, dass es in den antiken Städten Menschen mit ausreichend Kaufkraft gab. Dennoch mussten die Güter in die Städte gelangen, bevor sie dort ihre Abnehmer finden konnten. Diese Schnittstelle zwischen Produzenten und Konsumenten waren schon damals Märkte. Ihr Einzugsbereich richtete sich nach der Größe der Städte, aber auch nach der Art der gehandelten Güter.

Das Forum des Kaisers Trajan diente nicht nur imperialer Repräsentation, sondern enthielt auch zahlreiche Geschäfte

So wurden Bedarfsgüter, die in der Region nicht hergestellt werden konnten – oder anderswo in besserer Qualität verfügbar waren – aus anderen Teilen des römischen Reiches importiert. Für die Städte – zumal für die größeren – war ein funktionierender Markt eine Existenzfrage.

Natürlich sind Märkte nicht nur die physischen Plätze, an denen Produkte den Besitzer wechseln. Der Markt ist, wirtschaftlich betrachtet, eine Arena, in der Angebot auf Nachfrage trifft. Als Preisermittlungsmechanismus ist der Markt insofern autonom, „als keine anderen Institutionen (Normen in Form von Gerechtigkeitserwägungen oder Bürokratien in Form von Verordnungen) auf die Preisermittlung Einfluss haben – lediglich Angebot und Nachfrage steuern der reinen Lehre nach das Verhalten der Marktteilnehmer (ebd., 96).

Der „Staat“ hatte bei alldem die Aufgabe, mit einer Reihe von Dienstleistungen die Sicherheit und Gerechtigkeit des Marktgeschehens zu gewährleisten und eine Infrastruktur zu schaffen, die regionale und überregionale Transaktionen ermöglicht. Eine solche Infrastruktur gab es auch in antiken Staaten, z.B. in Athen.

Der Plan des antiken Piräeus (nach Judeich)

Nirgendwo im Mittelmeer wurden mehr Waren umgeschlagen, als im Piräus, dem Hafen Athens. Wer hier als Händler seine Waren anbot, konnte sicher sein, sie auch verkaufen zu können. Hier gab es eine Infrastruktur, die die kaufmännische Aktivität begünstigte: „So verfügten Athens Märkte, die agoraí, über Marktaufseher (agoranómoi), die das Marktgeschehen überwachten, Streit schlichteten und Preise kontrollierten. Zur Überprüfung der Maße und Gewichte gab es eigene Amtsträger, die metronómoi; außerdem es ein rudimentäres Bankwesen, durch das Händler – gegen einen erheblichen Risikoaufschlag – an Kapital kommen konnten“ (ebd., 89). Für die Wahrung der Interessen der Stadt sorgten die Aufseher über den Handelsplatz, die epimeletai tou emporíou, die dafür zuständig waren, dass beispielsweise ein Drittel des umgeschlagenen Getreides auf dem örtlichen Markt verkauft werden musste. Der Getreidepreis wurde auf diese Weise für die Athener Bevölkerung künstlich niedrig gehalten. Für die Händler warf diese Regelung gleichwohl noch ausreichend Gewinn ab.

Die Anekdote von Apuleius jedenfalls illustriert sehr schön, wie individuelle Akteure die zwischen den Märkten schwankenden Preisen für sich zu nutzen versuchten. Manchmal jedoch konnte ihnen die begrenzte Verfügbarkeit von Informationen einen Strich durch die Rechnung machen …

Zitate aus: Apuleius, Der Goldene Esel, übersetzt von August Rode, Berlin 1920 (Propyläen-Verlag), online im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/5948/1 - Weitere Literatur: Michael Sommer: Wirtschaftsgeschichte der Antike, München 2013 (C.H. Beck)

Donnerstag, 19. Juni 2014

Die Intellektuellen und der Totalitarismus


"Wir waren verfilzt - 
verfilzt und hochverschwägert
mit unseren Widersachern."

 - Wolf Biermann - 

Von André Glucksmann stammt ein irritierendes Wort: "Der Intellektuelle ist nicht, wie er der Welt eingeredet hat, der Wortführer der Humanität, sondern viel eher der Anwalt der Inhumanität."

Auch Ralf Dahrendorf stellt in seinem Buch "Die Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung" (2008) die Frage,  warum sich so viele Intellektuelle des 20. Jahrhunderts von den Versprechungen des Kommunismus und Nationalsozialismus haben betören lassen.

Schon drei Jahre vorher hatte Joachim Fest in einem Vortrag in Heidelberg die Geschichte der Intellektuellen in der totalitären Epoche als "Geschichte der Täuschungen und Enttäuschungen" beschrieben.

Fest sieht die Ursachen dafür in einer historischen Entwicklung, die im 19. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Hier tat man sich groß "im Erdenken immer neuer Entwürfe für eine nach den Prinzipien der Vernunft geordnete Welt: die Philosophen gaben sich diesen Planspielen ebenso hin wie die Dichter und die Schreibenden überhaupt, und die Leidenschaft dafür erfasste selbst die Künstler mit den Träumen einer endlichen Versöhnung von Kunst und Leben. unversehens verwandelte sich die Welt in ein Labor abgemachter Zwecke und mit Menschen, die ein beliebig formbares, auf die reine gesellschaftliche Funktion reduzierbares Material abgaben" (165).
 
Intellektuelle Redlichkeit:
Sonnenfinsternis (Arthur Koestler)
Beispielhaft für dieses "demiurgische Hochgefühl", das den stabilen theoretischen Unterbau aller totalitären Systeme bildet, steht die Äußerung des Vernehmungsbeamten in Koestlers "Sonnenfinsternis" über die Massenliquidationen der Kulaken: "Es war eine chirurgische Operation, die ein für alle mal durchgeführt werden musste. (...) Die Opfer der Überschwemmungen in China gehen mitunter in die Hunderttausende. Die Natur ist so großzügig mit ihren sinnlosen Experimenten an der Menschheit, und du wagst es, der Menschheit das Recht abzusprechen, an sich selbst zu experimentieren?" (ebd.).

Es mag manchen gutgläubigen Menschen tatsächlich noch immer verwundern, dass die totalitären Systeme stets ihre intellektuellen Anwälte und Ermutiger fanden. Aber es waren die Eingebungen von Intellektuellen, die hier Gestalt annahmen und so gehen die Rechtfertigungen des stalinistischen Terrors von Heinrich Mann, Ernst Bloch oder Georg Lukács allesamt davon aus, dass die Liquidierungen nichts anderes seien als notwendige Abräumaktionen, um dem Neuen den Boden zu bereiten.

Intellektuelle Unredlichkeit:
Ernst Bloch
Es ist durchaus angebracht, dass man schon früh die Utopien, die den beiden großen Gewaltherrschaften des Jahrhunderts zugrunde lagen, als "säkularisierte Religionen" definiert hat, denn "niemand anderem als den Intellektuellen fiel die Aufgabe zu, den Ersatz für die Wahrheiten von gestern zu erfinden und die Leere zu füllen, die der Tod Gottes hinterlassen hatte" (168).

Nach Ansicht von Fest liegt hinter der Bereitschaft, mit der sich westlich geprägte Intellektuelle der Orthodoxie des Kommunismus mitsamt den "gespenstischen Unterwerfungsritualen" wieder und wieder gefügt haben, ein tiefer Hass gegen die bürgerliche Welt, die alles repräsentiert, was die Intellektuellen verachteten: "Den Zweifel gegen jedwede fundamentalistische Position, das Verlangen nach Berechenbarkeit, den Kompromiss, den Respekt vor dem einzelnen, vor Institutionen und dem bewährten Herkommen sowie das Misstrauen gegen alle grandiosen Projekte, kurz, die Abneigung gegen jeden gesellschaftlichen unser menschlichen Extremismus" (172).

Selbstverständlich findet man das Verlangen nach primitiven kollektiven Zugehörigkeiten auch bei den vielen Intellektuellen, die mit offenen Armen den Nationalsozialismus begrüßten.

Heidegger und der NS-Staat ...
Zwar fehlte dem Nationalsozialismus im Vergleich zum Kommunismus die gedankliche Kohärenz ebenso wie der Zauber eines fugenlos geschlossenen Systems, "der zumal auf deutsche Köpfe eine so unwiderstehliche Wirkung übt", aber gerade der bruchstückhafte, unfertige Charakter dieser Ideologie hat "die Geister auf den Plan gerufen, die sich imstande glaubten, die Leerstellen auszufüllen, und nicht wenige redeten sich ein, der offenbar noch suchenden Bewegung Richtung und Ziel weisen zu können" (170). Martin Heidegger ist hierfür vielleicht ein gutes Beispiel.

Stärker als auf dem ideologischen Feld habe der Nationalsozialismus seine Anziehungskraft auf Intellektuelle durch theatralische Mittel entfaltet, also "durch die Inszenierung des Führerkults, durch Massenappelle, Fackelzüge, Paraden, Weihestunden, Höhenfeuer und jene Totenfeiern, die der Idee des preisgebenden Lebens ständig neue Blendwirkungen abgewannen" (170).

Stellvertretend sei hier Gottfried Benn genannt, der in einem Brief an den emigrierten Klaus Mann von der "Sehnsucht des in seine Buchstabenwelt eingesperrten Intellektuellen nach Leben, Schicksal und vitaler Nähe" sprach, eine Sehnsucht, die von den Nationalsozialisten befriedigt wurde in einem Rückgriff auf die ehrwürdigen Maximen von Ordnung, Bindung und Ursprung.

Dieses primitive Zugehörigkeitsverlangen bestand beim Kommunismus ebenso wie beim Nationalsozialismus. Es hatte Fest zufolge mit dem zu tun, was man unterdessen "die Legitimationskrise des modernen Schriftstellers nennt, seine tiefen Zweifel am eigenen Tun, seit alle Wege ans Ziel gekommen und alle Spiele zu Ende gespielt schienen. Nach so vielen fruchtlosen Disputen und den tausend absurden Seligkeiten des L'art pour l'art, sollte es endlich wieder um etwas gehen, um große Fragen, Menschheitsanlässe, um Leben und Tod" (174).

Nur bei wenigen Intellektuellen brachen überhaupt Skrupel aus, zumeist hervorgerufen durch drei Ereignisse:

George Orwell
Zwar glaubten viele, dass durch den Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs endlich wieder die Fronten geklärt waren: "Der Kommunismus im Kampf für Demokratie und Freiheit gegen das sich formierende Lager der faschistischen Mächte (...) Doch der mörderische, hinter den Linien geführte Kampf der sowjetischen Kommissare gegen die übrige Linke offenbarte rasch, dass Moskau längst auch in Madrid war: mit seinen Hysterien, dem Verdacht jedes gegen jeden, der unerbittlichen Zensur" (176).

George Orwell erinnert sich: "In Spanien las ich zum ersten Mal Zeitungsberichte, die mit den Tatsachen überhaupt nichts mehr zu tun hatten, nicht einmal so viel, wie für gewöhnlich mit einer Lüge verbunden ist." Orwell bemerkte, dass nicht beschrieben wurde, "was sich ereignet hatte, sondern was sich, je nach der Parteilinie, hätte ereignen sollen." So wurde der spanische Bürgerkrieg für viele Intellektuelle, u.a. für Arthur Koestler, André Malraux, Stephen Spender, George Orwell, Ernst Hemingway und Franz Borkenau zur Bruchstelle in ihrer Biographie.

Die inneren Konflikte wurden weiter verschärft wurde durch die beginnenden Moskauer Schauprozesse gegen "antikommunistische Umtriebe." Nur wenige Intellektuelle wollten wahrhaben, was dort geschah - etwa dass "von den siebenhundert Teilnehmern des sowjetischen Schriftstellerkongresses von 1934 ... fünf Jahre später über sechshundert im System des GULAG verschwunden" waren (177)

Heinrich Mann - Der Untertan !?
Aber die eigentlich bestürzende Erfahrung war, dass Stalin nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes (1939) nahezu eintausend nach Moskau geflohene Genossen unverlangt, wie zur Besiegelung des neuen Einvernehmens, an die Gestapo auslieferte.

Aber auch jetzt noch zeichneten sich viele Intellektuelle durch ein besonders eiferndes Apologentum aus: Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Bertholt Brecht oder auch Ernst Bloch, "von dem die wütendsten, das Moskauer Vokabular noch überbietenden Ausfälle stammen." Bloch "bestritt noch 1956 der 'Kloake', wie er die Abgefallenen bezeichnete, sogar das Recht, je Recht haben zu können" (178).

Eine besondere Rolle unter den Intellektuellen spielte auch Bertolt Brecht. "Zwar lassen sich in seinem Werk immer wieder Passagen ausmachen, die seine Nöte und Skrupel, mehr oder minder verschlüsselt, aufdecken. doch nach außen hab er sich stets linientreu." Es war wohl die Verbindung aus "Scheinheiligkeit, Zweifel, Treue und einer Verschlagenheit, die auch unter despotischen Umständen den eigenen Nutzen bedachte" und die weithin als Vorbild gewirkt hat. 

... und natürlich Bertolt Brecht ...
"Man kann, wie es geschehen ist, den 'Galileo Galilei' als Auseinandersetzung mit der stalinistischen Inquisition deuten; sicherlich doch auch als Verteidigung der Anpasserei, das wenn auch doppelbödige Hohelied auf die Hunderede" (180).

Es ist erstaunlich, dass viele der intellektuellen Mitläufer auch noch nach dem Ende der totalitären Utopien eine unbeirrbare Anhänglichkeit bewiesen haben, eine Treue, die vielleicht nicht einmal bei den Funktionärskadern der obersten Ränge zu beobachten war.

So ist für Fest die Geschichte der Intellektuellen angesichts der totalitären Versuchungen "aufs Ganze gesehen, eine Geschichte der Täuschungen und Enttäuschungen" (168).

Zitate aus: Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt)   -   Weitere Literatur: Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991 (Metzler)



Donnerstag, 12. Juni 2014

Robert Nef und die Selbstbestimmung

Wilhelm Tell (um 1307)
Wilhelm Tell, das letzte fertiggestellte Drama Friedrich von Schillers (1759 - 1805), wurde am 17. März 1804 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt. Das Drama, von Schiller schlicht als „Schauspiel“ apostrophiert, nimmt den bekannten Stoff des Schweizer Nationalmythos um Wilhelm Tell auf. Im Schauspiel gibt es drei Schlüsselszenen:

Im 2. Aufzug in Szene 2 versammeln sich Verschworene aus Uri, Schwyz und Unterwalden im Mondlicht zum gemeinsamen Schwur auf dem Rütli, unter ihnen Fürst, Stauffacher und Melchthal, nicht jedoch Tell. Unter der Leitung des Altlandammanns Itel Reding bilden sie eine Landsgemeinde und begründen die Eidgenossenschaft – sozusagen die erste kontinentaleuropäische verfassunggebende Versammlung. Sie beschließen die Vertreibung der habsburgischen Besatzungsmacht und stimmen über Einzelheiten des Planes ab.

Am Ende der Szene heißt es:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

(Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Vers. 1447ff)
 
Der Rütli - Schwur: "Wir wollen frei sein ..."

Die 3. Szene des 3. Aufzugs ist der dramatische Höhepunkt des Dramas. Tell grüßt nicht den vom Landvogt Hermann Gessler aufgesteckten Hut und wird von dessen Bütteln verhaftet. Gessler selbst tritt auf und zwingt ihn, vom Kopf des eigenen Kindes zur Rettung beider Leben und für seine Freilassung einen Apfel zu schießen. Tell entnimmt seinem Köcher zwei Pfeile und trifft den Apfel. Der Frage des Vogtes, wozu der andere Pfeil bestimmt gewesen sei, weicht er zunächst aus. Gessler sichert ihm das Leben zu, was immer er antworte. Darauf sagt ihm Tell ins Gesicht, der zweite Pfeil sei für ihn gewesen, hätte er seinen Sohn getroffen. Gessler windet sich aus seiner Zusage hinaus und lässt ihn fesseln, um ihn einzukerkern.

Im 4. Aufzug in der Szene 3 lauert Tell schließlich Gessler in der hohlen Gasse bei Küssnacht auf. Sein Monolog gibt das ihm höchsteigene Motiv zu diesem schweren Entschluss: dem unnatürlichen, „teuflischen“ Treiben des Vogtes ein Ende zu setzen; sein Pfeil tötet ihn, als er gerade eine Bittstellerin überreiten will.

Die Legitimation für diese Tat findet sich schon vorher, ebenfalls in der Rütli-Szene:

„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last – greift er
hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
und holt herunter seine ew'gen Rechte,
die droben hangen unveräußerlich
und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben –
Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen
gegen Gewalt …“

(Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Vers 1275ff)

Robert Nef zeigt nun in seinem Positionspapier „Direkte Demokratie und Liberalismus. Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip“, dass das Spannungsfeld zwischen Freiheit und direkter Demokratie sehr anschaulich an diesen drei Schlüsselszenen dargestellt werden kann.

„Die Zumutung, vom Kopf des eigenen Kindes einen Apfel zu schießen, zeigt die Fratze der tyrannischen Fremdbestimmung. Bei der nächtlichen Verschwörung auf dem Rütli, beschließen die Eidgenossen, durch demokratische Mitbestimmung diese Fremdherrschaft abzuschütteln und ihre eigenen Angelegenheiten autonom zu regeln. In der „Hohlen Gasse“ erschießt Tell den Tyrannen Gessler in einem Akt der Selbstbestimmung mit derselben Waffe, die er beim Apfelschuss benützte.

Tell, der Tyrannentöter, verkörpert die radikale individuelle Machtskepsis des Opponenten jeder Fremdbestimmung. Die Männer auf dem Rütli verkörpern den Konsens zur gemeinsam beweglichen Lösung gemeinsamer Probleme. Sie repräsentieren sich selbst und sind „das Volk“.

Liberalismus und Demokratie, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, - so Nef – „werden oft etwas voreilig als zwei völlig kompatible und harmonisch aufeinander abgestimmte politische Ideen dargestellt. Dass die beiden prinzipiell auch oft in Konflikt geraten, wird zu wenig beachtet.“

Mitbestimmung und repräsentative Demokratie - ein ernstes Thema!?

Dieser beginnt schon damit, dass im Zusammenhang mit der demokratischen Mitbestimmung „ziemlich kritiklos das Prinzip der Repräsentation als beinahe selbstverständlich anerkannt und vorausgesetzt“ wird. Dabei müsse man doch die Frage viel ernster nehmen, wer denn wie und inwiefern politisch adäquat repräsentieren könne.

Politische Repräsentation setze doch schließlich ein Kapital an persönlichem Vertrauen voraus, das durch die gegenwärtige Politik in keiner Weise gedeckt ist.

Gleichzeitig werde die Repräsentation des eigenen Willens durch bevorzugte Parteien und gewählte Personen in einer pluralistischen, hoch vernetzten und immer zentraler regierten Gesellschaft mit unterschiedlichsten Wertvorstellungen und Interessen immer problematischer: „Etwas überspitzt formuliert kann man Repräsentation durchaus als einen zu wenig hinterfragten Skandal bezeichnen (…) Selbstbestimmung und Mitbestimmung geraten dann in Konflikt, wenn Mehrheiten die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung einschränken oder gar aufheben.“

Aus liberaler Sicht aber hat die Selbstbestimmung vor der Mitbestimmung stets Vorrang. Jedes Individuum und jede Minderheit, die durch Mehrheitsentscheide fremdbestimmt werden, werden in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung in gleicher Weise beschnitten wie durch autokratische Machthaber. „Der einzige, allerdings wichtige, Unterschied besteht darin, dass Minderheiten in einer Demokratie die Chance haben, ihrer Meinung durch Überzeugungsarbeit zur Mehrheit zu verhelfen.“
 
Mitbestimmung - oder Fremdbestimmung durch die Mehrheit ?

So kann demokratische Mitbestimmung von all denjenigen, die individuelle Selbstbestimmung für entscheidend halten, höchstens als notwendiges Übel akzeptiert werden, wenn es um die Aufrechterhaltung des Friedens und um die gemeinsame Abwehr von Gefahren geht.

Auch der Begriff „Demokratie“ sei nicht eindeutig definiert. Das Mehrheitsprinzip jedenfalls ist im Begriff „Demokratie“ nicht notwendigerweise enthalten. „Die Eidgenossenschaft der Schweiz, die man auch schon die älteste noch existierende Demokratie genannt hat, ist 1291 mit großer Wahrscheinlichkeit gerade nicht durch Mehrheitsbeschluss geschaffen worden. Das politische Bündnis hatte den Charakter einer Sezession, einer Verschwörung gegen jede Fremdherrschaft – und zwar auf ewig.“

Auch die moderne Demokratie, die nach dem Prinzip „ein Mensch eine Stimme“, und „die einfache Mehrheit gibt den Ausschlag und die Minderheit fügt sich“, sei aus liberaler Sicht kein verlässlicher Garant der Freiheit für alle, weil schlimmstenfalls fast die Hälfte der Beteiligten bzw. Betroffenen fremdbestimmt wird.

Das sei gemessen am liberalen Ziel einer möglichst hohen Selbstbestimmung keine gute Lösung, denn gerade der Wert der individuellen Selbstbestimmung wird oft von Mehrheiten unterschätzt.

Am ehesten im amerikanischen Sprachgebrauch ist democracy der „Gegenbegriff zur Willkürherrschaft und zum Totalitarismus“, „der mythisch überhöhte amerikanische Traum von einer besseren Welt. Democracy meint in den USA eigentlich nichts anderes als das Gegenteil von Tyrannei, Totalitarismus, Willkür- und Gewaltherrschaft.“

Der egalitäre Grundsatz „ein Mensch eine Stimme“ aber missachte die Tatsache, „dass es bei allen Entscheiden sehr unterschiedliche Grade der Betroffenheit gibt.“ Je zentraler ein Entscheidungsprozess organisiert wird, desto unterschiedlicher seien – so Nef - die räumlichen, sektoriellen und persönlichen Betroffenheiten durch Vorzüge und Nachteile. Bei Aktiengesellschaften gelte deshalb nicht das „Pro- Kopf-Prinzip“, sondern jenes Stimmengewicht, das der finanziellen Beteiligung entspricht.

Dass auch der Grundsatz „Je betroffener desto beteiligter“ als demokratisch bezeichnet werden könne, wird oft übersehen. Er bilde die Brücke zum Prinzip des Non-Zentralismus. Die Stimmen müssen nach diesem Prinzip nicht nur gezählt, sondern je nach räumlicher und finanzieller Betroffenheit auch gewogen werden können.

Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips muss also aus strikt liberaler Sicht durch Minderheitenschutz, Kommunalautonomie, Wettbewerbs-Föderalismus, Non-Zentralismus und klassische Freiheitsrechte, die sich gegen die Staatsmacht richten, beschränkt sein.

Wenn dies der Fall ist, und je mehr dies der Fall ist, desto eher könne die Demokratie auch direkt sein. Alle Fragen, die sich durch Mehrheiten entscheiden lassen, würden durch Volksmehrheiten ebenso gut (bzw. ebenso schlecht) beantwortet wie durch Parlamentsmehrheiten. Direkte Demokratie und Parlamentarismus sind keine Alternative, sondern können bzw. könnten optimal kombiniert werden.
 
Selbstbestimmung hat den Vorzug gegenüber Mitbestimmung !

Objektiv betrachtet seien Selbstbestimmung und Mitbestimmung gleichwertige und miteinander verbindbare Problemlösungsverfahren. Aus strikt liberaler Perspektive gelte es jedoch, der Selbstbestimmung den Vorzug zu geben. Mitbestimmung sei höchstens zweitrangig, weil vor allem originelle Menschen oft die Erfahrung machen, zur Minderheit zu gehören und deswegen fremdbestimmt zu werden. Der persönliche Autonomieverlust würde lediglich durch die Einsicht gemindert, dass wenigstens eine Mehrheit in den Genuss jener Lösung kommt, welche sie selbst gewählt hat.

„Aber wie vergleicht und verrechnet man das relative Glücksgefühl der Mehrheiten mit dem Unglücksgefühl der immer wieder überstimmten Minderheiten? Am meisten „Glück“ gewährt aus liberaler Sicht wohl eine Gesellschaft, welche ein Maximum an Selbstbestimmung ermöglicht, selbst wenn damit stets auch die Verantwortung für die Folgen übernommen werden muss.“

Aus diesem Grund sei es vorteilhafter, die gesellschaftssteuernden Normen in Zukunft eher der Privatautonomie anzuvertrauen als der Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips, das allgemeinverbindliche Verhaltensweisen unabhängig von ihrer Betroffenheit und Beteiligung kollektiv erzwingt.

Aus liberaler Sicht nehme daher der Stellenwert der Verantwortungsethik in der Politik zu, und ein allzu leichtfertiger und populistischer Umgang mit gesinnungsethischen Postulaten wird zunehmend gefährlich.“

Demokratie müsse sich deshalb auf wenige unveränderliche, allgemeinverbindliche und allgemeinverständliche Prinzipien beschränken, wenn sie glaubwürdig, effizient und finanzierbar bleiben will. Die Limitierung der Zuständigkeit des Staats zur Lösung von Problemen schütze den Staat schließlich auch vor Überforderung und Überschuldung und vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit.

Die Demokratie zerstöre sich selbst, wenn es nicht gelingt, ihre Zuständigkeit zu limitieren. Eine „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“ führe dazu, dass sich alle permanent darum kümmern müssen, das Verhalten der anderen durch allgemeinverbindliche Vorschriften zunächst zu regulieren und dann zu vereinheitlichen und zu kontrollieren. Dafür aber brauche es immer mächtigere und immer zentralere politische Strukturen mit jeweiligem Zwangsmonopol. Der Spielraum für Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Vielfalt und Spontanität wird dabei immer kleiner.
 
Vielfalt fördern - Selbstbestimmung ermöglichen

Schon Friedrich August von Hayek postulierte vor über 30 Jahren die „Entthronung der Politik“: „Wenn die Sozialisten ehrlich glauben, dass (….) die Demokratie ein höherer Wert sei als der Sozialismus, dann müssen sie eben auf ihren Sozialismus verzichten. Denn wenn auch die heute bestehende Form der Demokratie zu Sozialismus treibt, so sind sie im Ergebnis doch unvereinbar.

Politik unter diesen Bedingungen führt uns in einen Abgrund. Es ist hohe Zeit, dass wir ihr [der Politik] die Flügel beschneiden und Vorkehrungen treffen, die den gemeinen Mann in die Lage versetzen, „Nein“ zu sagen.“

„Eine unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendigerweise selbst, und die einzige Beschränkung, die mit Demokratie vereinbar ist, ist die Beschränkung aller Zwangsgewalt auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleicher Regeln.“

Zitate aus: Robert Nef: Direkte Demokratie und Liberalismus. Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip, Position Liberal 108, Hg. Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Berlin 2012   -   Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 2: Dramen II, München 1985 (Carl Hanser Verlag)   -    Hayek, Friedrich August von, in: Überforderte Demokratie? Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung Bd. 7, Zürich 1978, S. 29.f.

Donnerstag, 5. Juni 2014

Joachim Fest und die Bürgerlichkeit als Lebensform

Joachim Fest (1926 - 2006)
Joachim Fest war einer der bedeutendsten Publizisten und Historiker der Bundesrepublik. Nach seiner Zeit als Chefredakteur beim norddeutschen Rundfunk war er zwei Jahrzehnte Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Schwerpunkt seiner historischen Werke ist zweifelsohne der Nationalsozialismus: Seine Hitler-Biographie wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Weitere Werke zum Thema sind: "Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli", "Speer" und "Der Untergang“ (verfilmt 2004).

1981 erhielt Fest den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck. In seiner Dankesrede denkt Fest darüber nach, was bürgerliche Lebensform eigentlich bedeutet. Die Rede gehört mit zu bedeutendsten Beiträgen zu diesem Thema in der deutschen Nachkriegszeit.

Im Anschluss an Georg Lukács bemerkt Fest, dass Bürgerlichkeit  als Form des Lebens in erster Linie das "Primat der Ethik" im Leben bedeutet, "dass das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muss ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: Die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird" (12).

Gleichwohl sei diese fast rituelle Ordnung des Lebens, die "Fügung ins Zyklische", in das, „was pflichtgemäß wiederkehrt“, noch nicht die Bürgerlichkeit selbst, sondern der äußere Rahmen, in dem sich jener Leistungswille erst entfalten kann, dem das Bürgertum alles verdankt, was erinnnerungswürdig an ihm ist.“

Fest beschreibt hier die Verknüpfung des Bürgertums mit der Tugendlehre des Protestantismus und ihrer „produktions-ethischen Gesinnung." Es ist diese "Leistungsidee von drakonischem Charakter" ein Wesensmerkmal der bürgerlichen Lebensform, "die alle Sphären gesellschaftlichen Verhaltens ..., Arbeitswelt und positive Wissenschaft, Recht und Philosophie, Kunst und private Lebensführung" durchdringt" (15).
  
Hier liegt für Fest der Grund für die Wertschätzung des unverwechselbaren Individuums: „Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exzellierens auf allen Gebieten; bürgerlich der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der  Sinn für individuellen Rang, auch für menschliche und künstlerische Größe, der wiederum aufs engste mit dem zu tun hat, was man das bürgerliche Genie zur Bewunderung nannte" (15).

Seine individualistische Grundhaltung verbindet die bürgerliche Lebensform schließlich mit der "Faszination durch das Einzigartige, auf deren Grund ein schroffes, im Einzelfall oft mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit greifbar wird" (ebd.).

Deshalb solle die bürgerliche Lebensphilosophie den einzelnen auch nicht fesseln, sondern ihm vielmehr "Ansporn und Möglichkeit geben, das Besondere zu werden.“ (ebd.)

Der Prototyp des Bürgers: Thomas Mann

Dies leitet über zu den Gedanken von der „Vervollkommnung des Einzelnen“, der wiederum verknüpft ist mit dem stark pädagogischen Zug, der zu diesem Menschenbild gehört“, einschließlich der ununterdrückbaren Neigung zu Kritik und Selbstkritik.

„Dahinter steht die Idee der Verantwortung des Menschen sowie die seiner Befreiung durch sich selbst, und es macht, um auf die Gegenwart zu kommen, den ganzen Abstand sichtbar, der uns vom gleichsam klassischen bürgerlichen Lebensgefühl trennt, dass heute alles Heil von Gruppenbildungen erwartet und Befreiung durchweg als soziales, nicht dagegen als individuelles Problem verstanden wird“ (15).

Nach bürgerlichem Verständnis dagegen wird Befreiung vor allem durch die Selbsterziehung bewirkt. Im Zentrum steht dabei der Begriff „Bildung“. Mittlerweile schlägt dem Begriff des „Bildungsbürgers“ vor allem Verachtung entgegen. Diese verkennt jedoch genau das, was mit diesem Wort ursprünglich zum Ausdruck gebracht werden sollte. Gemeint war nicht das jederzeit abrufbare Klassikerzitat oder die Kenntnis der Melodie von „O du mein holder Abendstern“. „Das war die Karikatur. Gemeint war vielmehr die geformte, vom elementaren Hunger nach geistigen Erfahrungen lebenslang geprägte Persönlichkeit“ (16)“

Auf dem Grunde des Bildungsbegriffes finde man Fest zufolge „jene Leidenschaft für die Teilhabe an der Kultur, aus der nach bürgerlicher Auffassung die Persönlichkeit, das Zusammenleben in geordneter Freiheit und strenggenommen überhaupt erst Kultur werden kann. Historisch gesprochen ist dieses Bedürfnis nach unermüdlicher Selbstformung eine Erscheinung, die allein dem Bürgertum als Klasse zugehört“ (16).
 
Die Welt des Bürgertums: Dort wo gut regiert wird, wird auch fleißig und zum Wohle aller gearbeitet. Weil die Bürger keine Angst haben müssen, dass eine tyrannische Regierungen ihnen die Früchte ihrer Arbeit oder ihre Investitionen stiehlt (Wandgemälde von Ambrogio Lorenzetti im Alten Rathaus von Siena)
Selbstformung und Kritik sind letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille. Gerade die Kritik im Dienste der Selbsterziehung und die „Fähigkeit, sich diesem Prinzip auf allen Gebieten, sei es im Reich des Gedankens wie in der Welt der Wirtschaft, im Sozialen wie im Kulturellen zu unterwerfen“, mache das „Überlebensingenium des Bürgertums“ aus“ (18).

Natürlich will Fest das Bürgertum nicht glorifizieren. „Gewiss hat das Bürgertum vor Hitler versagt und seine überlieferten Maßstäbe wie in einer einzigen großen Erledigung aufgegeben. Aber historisch fiel es nicht stärker ins Gewicht als das der übrigen gesellschaftlichen Gruppen auch: Hitler war das Desaster eines Volkes, am Ende sogar eines Kontinents, doch nicht das einer einzelnen Klasse“ (ebd.).

Aber das Bürgertum stirbt und lebt. Scheinbar besteht die spezifische Form der Selbstbehauptung darin, „aus Untergängen Überlebenskräfte zu gewinnen und sich am eigenen Grabe Gesundheit zu besorgen“ (ebd.).

In der Gegenwart steht die bürgerliche Welt in der wohl ernstesten Krise ihres Bestehens. Dies zeigt sich „in dem anarchistischen Lärm auf den Straßen, einem Unmut, der sich gegen die unerträgliche Reglementierung des Lebens hinaus gegen alle Ordnungskategorien überhaupt wendet, sowie in einem Extremismus, der die bürgerliche „Idee der Mitte“ als eine Form der Unmoral betrachtet“ (20).

Aber diese uferlos gewordene, alles und jedes ergreifende Angriffslust offenbart, „weil sie weder Sympathie noch Unterscheidungsvermögen kennt, gerade den Verlust jenes kritischen Bewusstseins, das sie für sich reklamiert“ (ebd.).

Gegen den bürgerlichen Individualismus, der immerhin die lebenslange Anstrengung war, Persönlichkeit und geltende Normen zum Bild des unverwechselbaren Charakters zu vereinigen, ist nun ein Subjektivismus aufgestanden, „dessen egomane Züge auch vom sozialen Aufputz nicht verdeckt werden, den er zur Schau trägt. Dahinter steht eine Anspruchsgesinnung, die auf alle Begründungen lange verzichtet hat, auf nichts mehr verweist und verweisen kann als auf die eigenen Begehrlichkeiten und daher so unvermittelt in Larmoyanz umschlägt“ (21)

Wenn aber Leistungswille verpönt ist und ein auf Erfolg gegründetes Selbstbewusstsein im sozialen Verruf steht, dann bleibt nur eine „Leidenschaft für den, der in die Brüche geht.“ Dabei geht es meist weniger um echtes Mitgefühl, sondern hier zeigt sich „die Vorliebe für den pechösen Charakter, dessen Unglück sich überdies zur immer wiederholten Anklage gegen „die Gesellschaft“ verwenden lässt“ (ebd.), eine Anklage, die - richtungslos geworden - das Bestehende im Ganzen verdammt.

Dahinter steht nicht nur eine antibürgerliche Rhetorik, zugleich versucht, die eigene private Existenz an Maßstäben zu orientieren, die man gleichzeitig in der Öffentlichkeit diffamiert. Hier zeigt sich auch das Unvermögen, „zu sich selbst zu stehen, Gegnerschaften zu ertragen und Kritik nicht nur auszuhalten, sondern sich und was man ist daran zu messen“ (22).

Vielleicht – so schließt Fest – sollten die „gegenwärtig so verschreckt wirkenden Bürger sich ihrer Werte wieder bewusst werden und aus dem Schweigen treten. Dann würde auch die Kritik daran, indem sie auf Widerspruch und Behauptungswillen stieße, ihre Funktion zurückgewinnen“ (23f).

Zitate aus: Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt)