Sonntag, 29. Januar 2012

Alexander von Humboldt und die Kolonien


Alexander von Humboldt (1806)
Am 5. Juni 1799 bricht Alexander von Humboldt mit der spanischen Fregatte ‚Pizarro‘ von La Coruña aus zu einer insgesamt 5jährigen Forschungsreise nach Mittel- und Südamerika auf. Zu Anfang des Jahres 1803 befindet er sich in Guayalquil (Ekuador) und schreibt am 4. Januar 1803 folgende Gedanken in sein Tagebuch:

„Einem feinfühligen Menschen können die europäischen Kolonien nicht angenehm für dauernden Aufenthalt sein. Aber woher kommt dieses Unbehagen, dem jeder empfindsame Mensch in den europäischen Kolonien ausgesetzt ist?“ Für Humboldt ist die Antwort auf diese Frage ganz eindeutig: „Das rührt daher, dass die Idee der Kolonie selbst eine unmoralische Idee ist“ (121).

Humboldt ist sich über das Wesen des Kolonialismus natürlich im Klaren. Es ist die „Idee eines Landes, das einem anderen zu Abgaben verpflichtet ist, eines Landes, in dem man nur zu einem bestimmten Grad zu Wohlstand gelangen soll, in welchem der Gewerbefleiß, die Aufklärung sich nur bis zu einem gewissen Punkt ausbreiten dürfen“ (121)

Daraus ergibt sich für Humboldt eine potentielle Unregierbarkeit in den Kolonien, weil jede Kolonialregierung „eine Regierung des Misstrauens“ ist. Schließlich richteten die Autoritäten ihre Aufmerksamkeit nicht auf „die öffentliche Wohlfahrt der Einwohner“ (121), sondern allein darauf, die Interessen des Mutterlandes zu schützen.

Die Folge davon sei nach Humboldt eine auf unmoralischem Verhalten gegründete politische Praxis in den Kolonien: „Man vergibt Ämter nur an Emporkömmlinge und gemeine Menschen, die der Hunger aus Europa vertrieben hat, man erlaubt diesen, die in den Kolonien Geborenen geringschätzig zu behandeln (…) Die europäischen Beamten von niedriger Herkunft, die aber durch den Missbrauch, den sie mit der ihnen anvertrauten Autorität getrieben haben, reich geworden sind, prahlen mit ihren Stellungen“ (122).

Auf diese Weise haben die europäischen Regierungen vor allem Hass, Misstrauen und Uneinigkeit in den Kolonien hervorgebracht. Die Folgen sind für Humboldt „eine Verwirrung von Ideen und unbegreiflichen Meinungen, eine allgemeine revolutionäre Tendenz“ (123). Gleichwohl beschränke sich der Wunsch in den Kolonien vor allem darauf, die Europäer zu vertreiben und – Humboldt erliegt nicht utopischen Illusionen - sich danach gegenseitig zu bekriegen.

Später wird Humboldt in seinem „Politischen Essay über die Insel Kuba“ (1826) schreiben, dass alles Unrecht den Keim der Zerstörung in sich trägt.

Humboldt eigene politische Vision gründet in den Grundsätzen der Französischen Revolution, obgleich – so fügt er kritisch hinzu – ihre Urheber diese Grundsätze „oft in gefahrvoller Weise und mit Überstürzung angewendet haben.“

Die Gedanken Humboldts über Freiheit, Menschenrechte und die Widersprüche des Fortschritts sind bis heute von brisanter Aktualität. Im Namen eines liberalen Weltbürgertums kritisiert er die Irrtümer des Kolonialismus und der Sklaverei. Humboldts Motto lautete übrigens: „Der Mensch muss das Gute und Große wollen.“


Zitate aus: Alexander von Humboldt: Über die Freiheit des Menschen, hg. von Manfred Osten. Frankfurt am Main 1999 (Insel)

Weitere Literatur: Alexander von Humboldt. Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen aus seinen Reisetagebüchern zusammengestellt und erläutert durch Margot Faak, Berlin 2003 (Oldenbourg Akademieverlag)
 

Donnerstag, 26. Januar 2012

Friedrich August von Hayek und die Mont Pelerin Society

Während die alliierte Politik noch ganz von aktuellen Fragen der Kriegsführung gegen Hitler vereinnahmt ist, macht sich Friedrich August von Hayek bereits intensive Gedanken um eine dauerhafte Nachkriegsordnung in Europa. In einem Memorandum an das britische Außenministerium skizziert er im Februar 1943 seine Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“, die durch eine weitgehend liberal verfasst Wirtschaftspolitik mit einer klaren Begrenzung der staatlichen sozialplanerischen Eingriffsmöglichkeiten die notwendige Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung sein würden.

Karl R. Popper und Friedrich August von Hayek
Im Zentrum von Hayeks Ordnungs- vorstellungen steht der Gedanke, dass geplante Wirtschaft und politische Demokratie nicht miteinander vereinbar sind. Daher solle sich der Staat auf die Fragen und Gebiete beschränken, „wo über das, was geschehen soll, unter der Mehrheit der Bevölkerung Übereinstimmung besteht oder durch Diskussion erreicht werden kann“, wie Hayek in seinem Vortrag „Der Mensch in der Planwirtschaft“ (1947) ausführt. Die Alternative zu Planwirtschaft sei natürlich kein „Laisser-faire“, sondern Ordnungspolitik im Sinne von Walter Euken und Franz Böhm, die positive Maßnahmen des Staates nötig machen.

Diese und weitere Bemühungen Hayeks, direkt Einfluss auf die Neugestaltung Europas zu nehmen, münden in die Gründung der „Mont Pelerin Society“ im April 1947.

Bereits am 28. Dezember 1946 verschickt Hayek ein Rundschreiben an knapp sechzig Ökonomen und Historiker, politische Philosophen und Publizisten, in dem er zu einer ersten informellen Zusammenkunft zu Ostern 1947 am Mont Pélerin nahe des Genfer Sees einlädt.

Hayek will einen engeren Kontakt herstellen zwischen all jenen weltweit zerstreuten Anhängern der liberalen Freiheitsphilosophie, die von der Neubestimmung der gesamten Beziehung zwischen Regierungsgewalt und individueller Freiheit überzeugt sind und deren Ziele die Verteidigung und Förderung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Privateigentum und Wettbewerb sind.

Tagung der Mont Pelerin Society - den Vorsitz führt von Hayek

Die Teilnehmerliste der ersten Tagung vom 1. bis 10. April 1947 liest sich wie das Who-is-Who einer Liberalen Internationalen: Maurice Allais, Walter Eucken, Milton FriedmanFrank Knight, Fritz Machlup, Ludwig von Mises, Karl Popper, Wilhelm Röpke, George Stigler. Den Vorsitz in der Mont Pelerin Society übernahm Friedrich August von Hayek selbst.

In einem zweiseitigen Kommuniqué beschreiben die Teilnehmer die Aufgaben und Ziele der Gesellschaft:
  • Analyse und Erklärung der gegenwärtigen Situation einschließlich der moralischen und ökonomischen Ursachen
  • Neudefinitionen der Staatsfunktionen mit dem Ziel einer klareren Unterscheidung zwischen Liberalismus und Totalitarismus
  • Etablierung von Methoden zur Etablierung der „rule of law“, also der Idee der Regierung allein auf der Basis von Gesetzen vor allen anderen Maßstäben oder Begründungen für staatliches Handeln
  • Aufzeigen von Möglichkeiten zur Errichtung von Minimalstandards durch marktverträgliche Instrumente (z.B. staatliche Fürsorge)
  • Entwicklung von Methoden zur Bekämpfung des Missbrauchs der Geschichte
  • Entwicklung einer internationalen Ordnung zur Friedenssicherung und zur Gewährleistung von harmonischen Wirtschaftsbeziehungen

Letztlich aber bestand für Hayek das weitgesteckte Ziel der der Gesellschaft darin, zur Durchsetzung des Liberalismus als Grundlage für die soziale Organisation beizutragen. Dabei ging er davon aus, dass auch in einer Demokratie die Entscheidung über die politische Richtung nicht immer nur über Wahlen getroffen würden, sondern auch durch die dominierenden intellektuellen Strömungen in der Öffentlichkeit beeinflusst werde.

Natürlich kam es bei den Diskussionen immer wieder auch zu Auseinandersetzungen – bei der Heterogenität der Mitglieder wahrlich kein Wunder. Legendär ist jedoch der Auftritt Ludwig von Mises, der, nachdem ein Vorschlag von ihm abgelehnt wird, die Sitzung erbost verlässt, nicht ohne den Anwesenden zuzurufen: „Ihr seid alle Kommunisten!“

Ein sichtbarer Erfolg der Gesellschaft gelang mit der Etablierung einer liberalen Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland durch Ludwig Erhard, deren Grundzüge auf den Tagungen der Gesellschaft erläutert worden waren.

Insgesamt gehörten der Mont Pelerin Society bislang acht Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften an, darunter Hayek, Milton Friedman, James M. Buchanan, Ronald Coase und Vernon L. Smith.

Die Mitgliederzahl der Gesellschaft liegt heute bei über 500. Sie hat im Gegensatz zu anderen Denkfabriken keine festen Angestellten, auch Publikationen liegen nicht vor. Gleichwohl wurde die Mont Pelerin Society von der Sunday Times als „die einflussreichste, wenn auch wenig bekannte Denkfabrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.

Auf dem 10jährigen Jubiläumstreffen beschrieb Hayek die Gesellschaft wie folgt: „Wir sind weder eine wissenschaftliche noch eine politische Gesellschaft, sondern etwas dazwischen. Ich glaube, dass wir wegen dem, was wir voneinander gelernt haben, bessere Bürger sowohl unserer Länder auch der Welt sind“ (zit. nach Hennecke, 265).
  
Quellen: 
Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pelerin Society, Hamburg 2004 (VSA-Verlag)  -  Hans Jörg Hennecke: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000 (Verlag Wirtschaft und Finanzen)  -  Website der Mont Pelerin Society  -  Der sehenswerte Dokumentarfilm „Let’s Make Money“ widmet ein Kapitel der Mont Pelerin Society 


Sonntag, 22. Januar 2012

Robespierre und der Terror


Robespierre (um 1790)
Wenn über die historische Bedeutung der Französischen Revolution diskutiert wird, kann man zumeist hören, dass sie zum einen die Befreiung Frankreichs und Europas bewirkte, weil sie die Gesellschaft von der Herrschaft des Absolutismus, der Kirche und der privilegierten Stände erlöste, zum anderen durch die Erklärung der Menschenrechte eine Epoche geistiger Unabhängigkeit und bürgerlicher Gesetzgebung einleitete.

Es mag ja sein, dass gewisse Emanzipationsbewegungen von der Pariser Revolution ausgelöst wurden, dennoch ist die Ansicht, dass der Konstitutionalismus, der Liberalismus, der Sozialismus und alle ähnlichen politischen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts aus dieser einen Quelle entsprungen seien, falsch und irreführend.

Festzustellen ist dagegen, dass kaum eine Staatsform so viele Torheiten und Gewaltsamkeiten begangen hat wie die demokratische Herrschaft der Jakobiner - und zwar nicht zuletzt, weil sie von ihrer Unfehlbarkeit und unbedingten Legitimität überzeugt war. 

Bereits im Jahre 1793 prophezeite ein zum Ehrenbürger der französischen Republik ernannter deutscher Schriftsteller, dass die republikanische Verfassung früher oder später in Anarchie übergehen werde. Dann werde ein kräftiger Mann erscheinen, der sich nicht nur zum Herrn von Frankreich, sondern sogar auch von großen Teilen Europas machen werde. Es war Friedrich Schiller, der diese Worte aussprach.

Die Französische Revolution hat zwar den entscheidenden Sieg des Bürgertums bewirkt, jedoch nur am Anfang, denn später bewirkte sie den entscheidenden Sieg des Pöbels. Die Revolution hat zwar den Absolutismus gestürzt, aber nicht für lange, denn er kehrte wieder als Diktatur des Konvents und der Kommune, er wurde am 1. April 1794 sogar zur Diktatur eines Einzelnen, nämlich Robespierres.

Und natürlich hat die Revolution auch nicht die alten Formen des Geburtskönigtums, der Adelsherrschaft, des Priesterregiments endgültig zerbrochen, denn all diese Mächte erlebten ihre Auferstehung zum Teil schon unter dem ersten Kaiserreich und fast restlos unter der Restauration Ludwigs des Achtzehnten und Karls des Zehnten.

Die Freiheit hat die Französische Revolution jedenfalls nicht gebracht, denn sie übte eine ebenso engherzige, grausame und selbstsüchtige Zensur aus wie das ancien régime, nur diesmal im Namen der Freiheit und mit noch drakonischeren Mitteln. Die Revolution fragte jedermann „Bist du für die Freiheit?“ und wenn er nicht die gewünschte Auskunft gab, so antwortete sie mit der Guillotine.

Die Waffen der Radikalen (Karikatur von George Cruikshank, 1792–1878)

Robespierre fasst diese Haltung sehr deutlich in seiner Rede „Über die Prinzipien der politischen Moral“ zusammen, die er am 5. Februar 1794 vor dem Konvent hielt: „Wenn die Triebkraft der Volksregierung in Friedenszeiten die Tugend ist, so ist die Triebkraft der Volksregierung in Zeiten der Revolution zugleich Tugend und Terror: die Tugend, ohne die der Terror unheilvoll ist, der Terror, ohne den die Tugend machtlos ist. Der Terror ist nichts anderes als das schlagfertige, unerbittliche, unbeugsame Recht, er ist somit eine Emanation der Tugend; er ist ein Produkt des allgemeinen Prinzips der Demokratie, das auf die dringendsten Anliegen des Vaterlandes angewendet wird“ (21)

Der Terror als das Recht und das allgemeines Prinzip der Demokratie! Auch wenn dieser Gedanke kaum erträglich ist, die politische Praxis der Revolution spiegelt ihn grausam wider: Selten vorher hat es eine solche Unfreiheit gegeben wie unter der „Verfassung der Freiheitsfreunde“, denn selten vorher stand die Todesstrafe auf eine Reihe ganz passiver Eigenschaften wie Bildung, Reinlichkeit, Toleranz, Schweigsamkeit, ja auf die bloße Existenz. 

Von ihren drei Leitbegriffen Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit blieb im Verlauf der Revolution nicht viel übrig. Brüderlichkeit ist eine schön klingende, aber leere Phrase, mit der sich in der politischen Praxis nicht viel anfangen lässt. Freiheit und Gleichheit sind unvereinbare Gegensätze. Denn die Gleichheit vernichtet die Freiheit und die Freiheit vernichtet die Gleichheit. Wenn alle Menschen als identisch angesehen und infolgedessen denselben Rechten, Pflichten und Lebensformen unterworfen werden, so sind sie nicht mehr frei. Andererseits, wenn sich alle ungehemmt nach ihren verschiedenen Individualitäten entfalten dürfen, so sind sie nicht mehr gleich.

Später ab Juni 1794 wird Robespierre seine Theorie des Terrors mit der Neuordnung des Revolutionstribunals durchsetzen, nach der nun keine juristischen Beweise zur Feststellung der Schuld mehr erhoben werden müssen, sondern allein das Gewissen der Geschworenen entscheidet. Damit war das System des totalen Terrors konsequent und grenzenlos etabliert, ein System, das seine Urteile allein aus der geradezu heiligen Vollmacht des eigenen politischen Dogmas über alle anderen fällt, die anders denken. Die Französische Revolution hatte sich in nichts anderes verwandelt als in eine Vorform des modernen Totalitarismus.


Zitate aus: Maximilian Robbespeirre: Über die Prinzipien der politischen Moral. Rede am 5. Februar 1794 vor dem Konvent, Reihe EVA Reden, Bd. 28, Hamburg 2000 (Europäische Verlagsanstalt)

Weitere Literatur: Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 2007 (C.H. Beck)
 

Donnerstag, 19. Januar 2012

Aristippos und der Hedonismus

Wahrscheinlich ließ sich Hieronymus Bosch bei seinem Bild „Die sieben Todsünden“ durch die Moralsatire „Das Narrenschiff“ von Sebastian Brant inspirieren. Demnach sind all jene Narren, die sich den Todsünden hingeben. Völlerei, Faulheit, Wollust, Eitelkeit, Zorn, Neid und Habgier sind nichts anderes als der Ausdruck einer verfehlten hedonistischen Lebensführung. 

Die sieben Todsünden (Hieronymus Bosch) 

Im Gegensatz zum Eudaimonismus des Aristoteles besteht für den Hedonismus die Glückseligkeit in der Bedürfnisbefriedigung. Die Hedonisten behaupten, dass sich menschliches Handeln und Streben letztlich immer um der Lust und des Genusses willen vollzieht. Allerdings muss man beim Hedonismus unterscheiden zwischen seiner positiven und negativen Variante.

Aristippos von Kyrene (um 435-355 v.Chr.), der wichtigste Vertreter des positiven Hedonismus, versteht unter Lust die Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen ohne Rücksicht auf einschränkende Vorschriften, „denn mag auch die Handlung verächtlich sein, die Lust rein für sich genommen ist doch um ihrer selbst willen erstrebenswert (Diog. Laert. II,8,88)

Für Aristippos gibt es auch keinen qualitativen Unterschied zwischen den Lüsten, geht es ihm doch nur um eine intensive – vorwiegend körperliche und nicht intellektuelle - Lustempfindung. Diogenes Laertius berichtet, dass Aristippos „jede Lust genoss, die der Augenblick bot, ohne ängstlich nach Genüssen zu jagen, die in dunkler Ferne liegen“ (II,8,66).
 

Über sein Verhältnis zur Lust äußert sich Aristippos selbstbewusst: „Ich bin ihr Herr und nicht ihr Knecht; denn zu gebieten über die Lust und ihr nicht zu unterliegen, das ist wahrhaft preiswürdig, nicht sie sich zu versagen“ (Diog. Lart. II,8,75).

Völlerei 

Kritikern seines verschwenderischen Lebensstils hielt Aristippos entgegen: „Wäre das verwerflich, so würde es gewiss bei den Göttern nicht zulässig sein“ (Diog. Laert. II,8,68).

Mit der alleinigen Ausrichtung des Lebens auf die Bedürfnisbefriedigung verbindet sich eine Abwendung vom Staat. In einem Gespräch mit Sokrates weist Aristippos jedes politisches Engagement für das Gemeinwesen zurück: „Es scheint mir nämlich durchaus Sache eines törichten Menschen zu sein, sich nicht zu begnügen mit der großen Last, welche die Befriedigung der eigenen Bedürfnissen aufbürdet, sondern es dazu auf sich zu nehmen, auch noch die übrigen Bürger mit dem Notwendigen zu versorgen und sich selbst vieles, was man gern möchte, zu versagen“ (Xenophon II,1).

Im Gegensatz zu Aristippos steht Epikur (341-270 v.Chr.) für den negativen Hedonismus. Auch für ihn ist „die Lust Anfang und Ende des glücklichen Lebens. Denn sie haben wir als das erste und uns angeborene Gut erkannt. Von ihr gehen wir aus, wenn wir etwas wählen oder vermeiden wollen“ (Brief an Menoikeus).

Epikur nun findet das Höchstmaß an Lust in der Selbstgenügsamkeit (gr. αὐτάρκεια) und der vernunftgeleiteten Einschränkung der Bedürfnisse: „Wir halten auch die Selbstgenügsamkeit für ein großes Gut, aber nicht, um uns immer mit dem Wenigem zu begnügen, sondern damit wir, wenn wir das Viele nicht haben, mit dem Wenigen auskommen. Wir vertreten also die Überzeugung, dass die Menschen den Überfluss am süßesten genießen, die am wenigsten auf ihn angewiesen sind“ (ebd.)

Das Ziel eines glücklichen Lebens ist nach Epikur die Ataraxia (gr. ἀταραξία), also „weder Schmerzen des Leibes zu erleiden noch Störung des Seelenfriedens“ (ebd.).

Ein lustvolles Leben durch Selbstgenügsamkeit und Enthaltsamkeit, eine Lebensführung nach dem „Weniger ist mehr“, wahrlich kein schlechter Ansatz in Krisenzeiten... .

Zitate aus: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 1, Bücher I-VI, Hamburg 2008 (Meiner) -- Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Düsseldorf 2003 (Artemis und Winkler) -- Epikur: Brief an Menoikeus, in: Epikur: Von der Überwindung der Angst, München 1983 (dtv) -- Weitere Literatur: Jörg Peters und Bernd Rolf: Ethik im Bild, Bamberg 2003 (C.C: Buchner)

Sonntag, 15. Januar 2012

George Canning und der griechische Freiheitskampf


George Canning (ca. 1827)
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert lag die Regierungsgewalt in England fest in den Händen der konservativen Partei. Einer ihrer wichtigsten Köpfe war George Canning, der als Außen- und Premierminister das Unabhängigkeitsstreben des griechischen Volkes maßgeblich zum Erfolg führte.

Dabei hatte Cannings Lebensweg unter schwierigen Umständen begonnen. Er wuchs in relativ ärmlichen Verhältnissen auf und sein Vater starb, als er ein Jahr alt war. Sein Onkel Stanford Canning ermöglichte ihm jedoch eine Ausbildung am Eton und Christ Church College in Oxford.

Sein Onkel war es auch, der Canning mit einigen führenden Persönlichkeiten der liberalen Whigs zusammenbrachte. Canning wurde jedoch ein Anhänger von William Pitt dem Jüngeren, der 1782 die neue Partei der Tories gegründet hatte, und zog 1793 als Abgeordneter ins britische Parlament ein.

Nachdem er verschiedene politische Ämter durchlaufen hatte, wurde er 1807 in der Regierung seines Schwagers, des Duke of Portland, zum ersten Mal Außenminister. Seine Auseinandersetzung mit dem Kriegsminister Lord Castlereagh, von dem er zum Duell herausgefordert (!!!) und am Oberschenkel verwundet wurde, führte schließlich 1809 zu seinem Rücktritt.

Canning blieb jedoch aktiver Politiker, übernahm den Posten des britischen Botschafters in Portugal und wurde 1822 gleichzeitig Führer des Unterhauses und wiederum Außenminister. In diese zweite Amtszeit bis 1827, zuletzt auch als Premierminister, fällt Cannings Engagement für die Unabhängigkeitsbewegungen in Südamerika, Portugal und Griechenland.

Sicher lag hinter der Anerkennung der Freiheitsbestrebungen auch das handelspolitische Interesse nach Erweiterung der britischen Absatzmärkte. Im Falle des griechischen Freiheitskampfes spielten jedoch auch romantische Sympathien für das Volk der Hellenen eine wichtige Rolle, auch wenn die modernen Griechen mit Perikles und Platon nur noch eine sehr entfernte Ähnlichkeit aufwiesen.

Der achtjährige griechische Kampf kam, nachdem er lange in Geheimbünden vorbereitet wurde, 1821 zum Ausbruch. Freiwillige „Philhellenen“ aus verschiedenen Ländern Europas eilten nach Griechenland, einige von ihnen – wie Lord Byron – fanden den Tod. Das furchtbare Blutbad auf der Insel Chios, von Delacroix meisterhaft festgehalten, oder auch die heldenhafte Verteidigung der Festung Messolonghi erregten in Europa große Anteilnahme.

Das Massaker von Chios (Delacroix, 1824)

Die Großmächte verfolgten das Geschehen zunächst unbeteiligt. Es war Canning, der Russland, Frankreich und England schließlich dazu bewegen konnte, ein Bündnis zum Schutz der Griechen zu schließen. Daraufhin veranstalteten sie vor dem Hafen von Navarino eine Flottenparade, die sich – eher unabsichtlich – zu einer mörderischen Seeschlacht entwickeln sollte. Die türkische Flotte wurde dabei vollkommen zerstört.

Nach dem Frieden von Adrianopel (1829) stimmte die Türkei schließlich den Beschlüssen der Londoner Konferenz von 1832 zu, bei der die Schutzmächte die Unabhängigkeit Griechenlands beschlossen und den Sohn des Königs von Bayern als Otto I. zum König von Griechenland einsetzten.

Donnerstag, 12. Januar 2012

Amartya Sen und die Gerechtigkeit

Amartya Sen 2007 (Bild: Elke Wetzig)
Amartya Sen (* 03.11.1933) gehört zu den wichtigsten Wirtschaftswissenschaftlern und -philosophen der Gegenwart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) gehören die Problematik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie. 1998 erhielt Sen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und zum Lebensstandard.

Drei Kinder streiten darüber, wem eine Flöte gehören soll. Mit diesem konkreten Problem eröffnet Amartya Sen sein Buch über „Die Idee der Gerechtigkeit“, das er seinem Lehrer John Rawls widmet, von dem er sich gleichwohl kritisch absetzt.

Das erste Kind, Anne, verlangt die Flöte für sich, weil sie die Einzige von den Dreien ist, die Flöte spielen kann.

Nun meldet sich das zweite Kind, Bob, und fordert für sich die Flöte, weil er als Einziger von den Dreien so arm ist, dass er keine eigenen Spielsachen besitzt. Die Flöte wäre also sein erstes eigenes Spielzeug.

Schließlich erklärt Clara, das dritte Kind, dass sie viele Monate mit Fleiß und Ausdauer gearbeitet hat, um die Flöte selbst herzustellen.


Zwei Beobachtungen sind wichtig: Alle Argumente werden von den jeweils anderen beiden Kindern nicht bestritten. Wenn wir nur die Argumente eines Kindes gehört hätten, hätten wir gute Gründe, die Flöte diesem Kind zu geben.

In der Praxis müssten wir also eine schwere Entscheidung treffen, bei der wir uns an Theoretikern wie Utilitaristen, Verteidiger eines ökonomischen Egalitarismus oder Vertreter des Liberalismus orientieren könnten. Jeder von ihnen wäre der Ansicht, „dass es eine eindeutige Lösung gibt und dass sie auf der Hand liegt, also mühelos zu finden ist. Aber fast mit Sicherheit würden sie jeweils völlig verschiedene Lösungen für offensichtlich halten.

Der Egalitarier würde am ehesten Bob, das ärmste Kind, in seinem Bemühen unterstützen, Ungleichheiten in den ökonomischen Ressourcen der Menschen zu beseitigen. Carla würde deutlich vom Vertreter des Liberalismus unterstützt werden, weil das Recht auf die Flöte auf der eigenen Arbeit und Produktivität gründet. Der Utilitarist würde argumentieren, dass Annes Vergnügen und Nutzen offensichtlich größer ist, als bei den anderen, weil nur sie Flöte spielen kann.

Es ist also alles andere als leicht, auch nur einen der Ansprüche, die entweder mit der Beseitigung von Armut oder dem Recht, die Produkte eigener Arbeit zu genießen, oder dem Streben nach einem erfüllten Leben begründet sind, beiseite zu schieben.

Es kann also sein - und nicht nur in diesem Fall-, dass es tatsächlich keine erkennbare vollkommen gerechte soziale Regelung gibt, aus der eine unparteiische Einigung hervorgehen kann.

Der Kern dieses Problems liegt für Sen darin, dass alle Theorien der Gerechtigkeit, die gegenwärtig in der politischen Philosophie das Feld beherrschen, das Ziel verfolgen, anschließende Antworten auf die Frage „nach dem Wesen vollkommener Gerechtigkeit zu bieten“ (9).




Das Interesse von Sen dagegen ist ein anderes. Statt eine perfekte Gesellschaft philosophisch auszuformulieren, will er mit seiner Gerechtigkeitstheorie vor allem „klären, wie wir verfahren können, wenn wir Fragen der Erweiterung von Gerechtigkeit und Beseitigung von Ungerechtigkeit in Angriff nehmen wollen“ (ebd.).

Erstens müsse eine Theorie der Gerechtigkeit, „die als Basis für den Gebrauch der praktischen Vernunft dienen kann“ (ebd), vor allem zeigen, wie die realen Versuche zur Beseitigung von Ungerechtigkeit und Förderung von Gerechtigkeit zu bewerten sind. Das schließt auch Urteile über das Verhalten von Institutionen und Individuen ein.

Zweitens geht Sen davon aus, dass „mehrere verschiedene Gründe der Gerechtigkeit nebeneinander bestehen können, die alle kritischer Überprüfung standhalten, aber zu unterschiedlichen Folgerungen führen“ (10), wie im obigen Beispiel mit der Flöte deutlich wurde.

Die Pluralität von Wertvorstellungen innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft (oder auch innerhalb einer Person) ist nicht nur ein signifikantes Problem jeder Entscheidungssituation, sondern zugleich auch das Kennzeichen einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft, wie schon Isaiah Berlin deutlich gemacht hat.

Drittens ist Sen überzeugt, dass Gerechtigkeit in einer Gesellschaft letzten Endes verbunden ist mit der konkreten Lebensführung von Menschen „und nicht nur mit der Eigenart der Institutionen in ihrer Umgebung“ (11). Sen kritisiert, dass sich viele der wichtigsten Gerechtigkeitstheorien übermäßig auf die Frage konzentrieren, wie gerechte Institutionen geschaffen werden können und damit die konkreten Verhaltensmuster der Individuen vernachlässigen.

Dieser letzte Aspekt hängt stark mit Sens Auffassung von Demokratie
zusammen. In seinem Buch „wird Demokratie am öffentlichen Vernunftgebrauch gemessen, das heißt, als „Regierung durch Diskussion“ verstanden (eine Vorstellung, die John Stuart Mill sehr gefördert hat)“ (13). Danach wird Demokratie sehr weit und allgemein gefasst, und zwar im Rahmen ihrer Fähigkeit, „durchdachtes Engagement zu fördern, indem sie für mehr Informationen sorgt und interaktive Diskussionen möglich macht. Demokratie ist nicht nur anhand formal existierender Institutionen zu beurteilen, sondern ihr Maß ist die Vielfalt der Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen, die tatsächlich gehört werden können“ (ebd.)

Die Vernunft sucht die Wahrheit, wo immer sie sich finden lässt …



Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)


Sonntag, 8. Januar 2012

Jeremy Bentham und der Utilitarismus

“Der Tod Julius Caesars” ist eines der bekanntesten Bilder des römischen Malers Vincenzo Camuccini (1771 – 1844). Für sein Bild wählte er genau den Moment, als Caesar, von den 23 Stichen der Verschwörer tödlich getroffen, im Senatssaal niedersinkt, bezeichnenderweise vor der Statue seines Feindes und ehemaligen Konsuls Pompeius. Im Mittelpunkt des Bildes steht jedoch nicht Caesar, sondern – die Lichtgestaltung hebt dies hervor - die Verschwörer mit ihren gezückten Waffen. 


Der Tod Julius Caesars von Vincenzo Camuccini (1818)  

Nach dem Ende der Diktatur Sullas im Jahre 79 v. Chr. wurde Rom wieder eine Republik. Die politische Macht lag wie vorher auch in den Händen des Senats, zwei Konsuln bildeten die Doppelspitze der Republik.

Ein paar Jahrzehente später, im Jahre 46, wurde Caesar auf zehn Jahre zum Diktator ernannt, ein Amt, das eigentlich nur in Ausnahmefällen und immer auf höchstens ein Jahr befristet zur Behebung von allgemeinen Notständen verliehen wurde. Als Caesar dann
ein Jahr später den Titel des Diktators auf Lebenszeit annahm, beschloss eine Gruppe von Verschwörern, Caesar zu ermorden und auf diese Weise die Republik zu retten. Das Attentat wurde bekanntlich am 15. März (die Iden des März) 44 v. Chr. vollstreckt.

Die Ermordung Caesars ist ein klassisches Beispiel für das philosophische Problem des Tyrannenmordes. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die Ermordung eines Menschen zu rechtfertigen sei, wenn dadurch ein größeres Unheil verhindert wird.

Während die Vertreter der Gesinnungsethik einen Mord grundsätzlich ablehnen, stehen Befürworter der Verantwortungsethik des Utilitarismus der Frage grundsätzlich offen gegenüber.

Für die Utilitaristen ist das Allgemeinwohl der letzte Zweck moralischer Handlungen. Der Begriff Utilitarismus leitet sich von lateinisch utile (= nützlich) ab. Nützlich ist das, was dem Interesse der Gemeinschaft dient, die als Summe der Einzelinteressen aufgefasst wird.

Der Begründer des Utilitarismus, Jeremy Bentham (1748 – 1832), drückt dies mit folgenden Worten aus: „Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit …, wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück einer Gemeinschaft zu vermehren, größer ist, als irgendeine andere ihr innewohnende Tendenz, es zu vermindern.“

Das höchste moralische Gut besteht nach John Stuart Mill (1806
1873), dem zweiten großen Vertreter des Utilitarismus, in dem „größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl“ von Menschen. Dieses Glück bemisst sich nun nach der Quantität der Freude, die es enthält. Dazu noch einmal Bentham: „Unter Nützlichkeit ist jene Eigenschaft an einem Objekt zu verstehen, durch die es dazu neigt, Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen (dies alles läuft im vorliegenden Fall auf das Gleiche hinaus).“

Es sind also drei Teilprinzipien, nach denen der Utilitarist die rationale Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen trifft: das Folgen- und Nutzenprinzip, das eudaimonistische Prinzip und das Allgemeinwohlprinzip. Zusammengefasst lässt sich das moralische Prinzip des Utilitarismus also wie folgt formulieren: Eine Handlung ist dann moralisch richtig, wenn ihre Folgen nützlich sind für das Glück aller Betroffenen.

Für den Utilitarismus setzt eine moralische Bewertung einer Handlung also eine vernünftige Nutzenabwägung von Vor- und Nachteilen bei allen Beteiligten und Betroffenen voraus.

Diese Nutzenabwägung geschieht bei Bentham mit Hilfe des „hedonistischen Kalküls“, mit dem er den moralischen Wert einer Handlung anhand von sieben Kriterien mathematisch berechnen will. Zu diesen Kriterien gehören u.a. die Intensität, die Dauer, die Nähe bzw. Ferne, aber auch die Reinheit und die Gewissheit einer Freude.

Wenn die Glücksbilanz positiv ausfällt, d.h. die Menge der durch die Handlung hervorgebrachten Freude größer
ist als die Menge des hervorgebrachten Leides, dann gilt die Handlung als moralisch richtig.

Einschränkend fügt Bentham hinzu: „Es kann nicht erwartet werden, dass dieses Verfahren vor jedem moralischen Urteil und vor jeder gesetzgebenden oder richterlichen Tätigkeit streng durchgeführt werden sollte. Es mag jedoch immer im Blick sein, und je mehr sich das bei solchen Anlässen tatsächlich durchgeführte Verfahren diesem annähert, desto mehr wird sich ein solches Verfahren dem Rang eines exakten Verfahrens annähern.“

Vor dem Hintergrund der beginnenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert ist die utilitaristische Theorie auch der Versuch, die gesamte Bevölkerung gleichmäßig und gerecht am erwirtschafteten Wohlstand zu beteiligen, deshalb fordert Bentham, dass „dieses Verfahren vor jedem moralischen Urteil und vor jeder gesetzgebenden oder richterlichen Tätigkeit streng durchgeführt werden sollte.“

An dieser Stelle wird deutlich, dass der Utilitarismus für Bentham nicht nur eine ethische, sondern auch eine politische Theorie ist. Der Utilitarismus steht zwar philosophiegeschichtlich in der Tradition des antiken Eudaimonismus, er überträgt aber dessen Glücksbegriff aus dem individuellen Lebensbereich in den Bereich von Politik und Gesellschaft.

Utilitaristische Erwägungen lassen sich auch im Falle der Ermordung Julius Caesars finden. Für die Verschwörer jedenfalls stand fest, dass die Tötung eines Alleinherrschers mehr als gerechtfertigt ist, weil die Freude aller Beteiligten über die Rettung der Republik größer sein wird.

Zitate aus: Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung (1798), abgedruckt in: Ottfried Höffe (Hg.): Einführung in die utilitaristische Ethik, München 1975 (C.H. Beck), S. 35-37

Weitere Literatur: Jörg Peters und Bernd Rolf: Ethik im Bild, Bamberg 2003 (C.C: Buchner) - Auch empfehlenswert "Das Philosophische Radio" (WDR 5): Mit Bernward Gesang über den Utilitarismus (24.08.2012)


Dienstag, 3. Januar 2012

Hellas und die Musik


Es mag überraschen, dass im Mittelpunkt des hellenischen Lebens nicht die bildende Kunst, sondern die Musik stand. Der Sänger galt als unmittelbar von Gott inspiriert, jedes Gebet war letztendlich ein Gesang. Alle Dichter waren zugleich auch Komponisten, ein Lied war wirklich ein Lied, Sappho und Alkaios haben also wirklich gesungen. 

Sappho and Alkaios (Lawrence Alma-Tadema, 1836 – 1912)

Nicht nur in Dingen der einfachen Lebenspraxis empfanden die Griechen metrisch, der ganze Kosmos hatte seit Pythagoras den Charakter einer harmonischen Symphonie.

Der Begriff Harmonie wird hier in einem komplexen Sinn verwendet, in dem sowohl die musikalische Bedeutung der guten Fügung der Töne enthalten ist, wie auch die Vorstellung zahlenmäßiger Strenge und geometrischer Regelmäßigkeit.

Es geht letztlich um das Verhältnis der Teile zum Ganzen, um Proportion und um die Vorstellung eines schönen Zusammenklangs der Dinge. Dieses weite Verständnis von Harmonie bezog sich auf alle Lebensbereiche der Polis. Überall herrschte das Bewusstsein, dass es auch im produktiven und praktischen Tun des Menschen eine strenge Norm des Passenden gibt, die man nicht übertreten darf. Der Nómos war nicht nur das Gesetz der Polis, sondern auch ihre Melodie – das Gemeinwesen wurde als ein Stück Kammermusik gedacht und erlebt.

Platon behauptet im 3. Buch über den Staat (398 B ff), dass Hässlichkeit und schlechte Sitte mit Mangel an Rhythmus und Harmonie verwandt seien. Platons Ideal vom körperlich und sittlich schönen Menschen (καλός καί άγαθός) führt schließlich direkt zum ebenso wohlgeordneten Staat.

Musik galt als eine Art rhythmischer Schulung der Seele, so wie die Gymnastik den Körper trainierte. Man war davon überzeugt, dass nur eine musikalische Seele gesund, stark, weise und schön sein könne. Weil die Musik Macht über die Seele besaß, verwendete Pythagoras sie auch zu therapeutischen Zwecken und heilte Kranke durch Gesang.

Musik war im Krieg ein wichtiges Mittel des taktischen Zusammenhalts der Truppenteile und der Pfeifer war beim Angriff einer der wichtigsten Personen. Plutarch erzählt in seinen Moralia (245c-f) von Telesilla, einer Dichterin aus Argos, die vom Orakel in Delphi ein Mittel gegen eine Krankheit erfragte und den Bescheid erhielt, sie möge sich dem Dienst der Musen weihen. Sie folgte dem Rat und kam derart zu Kräften, dass sie, als die Spartaner 510 v. Chr. in Argos eingefallen und die Männer der Stadt besiegt waren, die Frauen zum Kampf aufrief und an deren Spitze die Spartaner besiegte.

Eine musikalische Geometrie beherrscht auch den Aufbau der Tragödie. Die Handlung mit ihren genau korrespondierenden Wechselreden war auf- und absteigend um einen Mittelpunkt komponiert. Die Tragödie war eine Art Gesamtkunstwerk aus Bühnenbild, Text, Mimik, Gesang und Tanz, zusammengehalten durch die Musik.

Muse beim Stimmen (ca. 470 v. Chr., Eretria)
Wir müssen jedoch eher an eine Art inneren Rhythmus denken, da die Instrumentation für unsere Begriffe sehr einfach und dürftig war. Das ganze Tragödienorchester bestand aus einem Kitharisten und einem oder zwei Flötenspielern und der der Chor sang immer nur einstimmig. Der Vortrag der Solisten bewegte sich zwischen Rhapsodien, Wechselgesängen mit dem Chor, Duetten und monologischen Arien.

Die Musik lässt sich also von den poetischen Werken der Griechen ebenso wenig ablösen wie die Farbe von ihren architektonischen und plastischen Werken.

Quelle: Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 2007 (C.H. Beck)