Donnerstag, 30. Januar 2014

Alfred North Whitehead und der Rhythmus von Erziehung und Bildung


In seinen Essays und Vorträgen über Erziehung und Bildung (gehalten zwischen 1913 und 1928) widmet sich der weltberühmte Mathematiker Alfred North Whitehead auch dem Thema „Rhythmus von Erziehung und Bildung“.


Whitehead vertritt hier die These, dass Fortschritt von Schülern weder kontinuierlich noch linear von leichteren zu schwereren Inhalten verläuft, sondern in periodischen Vorgängen, also Zyklen, besteht. Jeder Zyklus wiederum besteht aus drei Stadien geistigen Wachstums: Es sind dies das Stadium der Schwärmerei, das Stadium der Präzision und das Stadium der Verallgemeinerung.

Die Schwärmerei ist für Whitehead ein anfänglich systemfreies Stadium vager Einsicht, das gleichwohl schon erste Beziehungen zwischen Einzeltatsachen herstellt: „Der Unterrichtsgegenstand besitzt die Lebendigkeit des Neuartigen; er hält sich unerforschte Verknüpfungen mit Möglichkeiten bereit, halb enthüllt durch flüchtige Blicke, halb verborgen durch die Fülle des Materials.

Schwärmerei
Dieses schwärmerische Gefühl beinhaltet gleichwohl die Aufregung, die „auf den Übergang von den nackten Tatsachen zu den ersten Realisierungen der Bedeutung ihrer unerforschten Beziehungen folgt.“ Aus dieser Beobachtung leitet Whitehead die Aufgabe der Erziehung ab, „eine Unruhe, die sich bereits im Geist regt, zu ordnen: Sie können den Geist nicht in vacuo erziehen.“

Im Stadium der Präzision vollzieht sich dagegen eine erste ordnende und systematisierende Bearbeitung der Tatsachen. Jetzt geht es um einen quantitativen Zuwachs an Wissen.

Präzision
„Es ist das Studium der Grammatik, der Grammatik von Sprache und der Grammatik von Wissenschaft. Es schreitet voran, in dem es die Studierenden zwingt, stück für Stück eine vorgegebene Art des Analysierens von Tatsachen zu akzeptieren. Neue Tatsachen werden hinzugefügt, aber es sind diejenigen Tatsachen, die sich in die Analyse einfügen.“

Das Stadium der Verallgemeinerung nun ist das Stadium der produktiven Entfaltung, es ist „die Rückkehr zur Romantik mit dem zusätzlichen Vorteil klassifizierter Vorstellungen und sachdienlicher Vorgehensweise.“ Hier vor allem zeigt sich der Erfolg der Erziehung und Bildung: Bisher wurden Entdeckungen gemacht, Eignungen erworben, allgemeine Regeln und Gesetzmäßigkeiten erfasst. Jetzt möchte der Schüler seine neuen Kompetenzen anwenden:

Verallgemeinerung
„Er ist ein wirksames Individuum, und Wirkungen sind genau das, was er hervorbringen möchte. Er fällt zurück in die diskursiven Abenteuer des schwärmerischen Stadiums, mit dem Vorteil, dass sein Geist jetzt ein diszipliniertes Regiment ist, statt einer Horde.“ In diesem Sinne beginnen Erziehung und Bildung mit Forschung und enden mit Forschung.

Zusammengehalten werden die drei Stadien und Zyklen durch den Begriff der Weisheit, also „die Art und Weise, in der man über Wissen verfügt. Sie betrifft den Umgang mit Wissen, seine Auswahl zur Bestimmung von relevanten Ergebnissen und seine Inanspruchnahme, um unserer unmittelbaren Erfahrung einen Wert hinzuzufügen.“

Weisheit - Das Ziel der Paideia
In diesen Zusammenhang gehören nach Whitehead auch die Aspekte Freiheit und Disziplin. „Die einzige Straße zur Weisheit führt über Freiheit in der Präsenz von Wissen. Aber der einzige Weg zu Wissen führt über Disziplin in der Aneignung geordneter Fakten. Freiheit und Disziplin sind die zwei Wesensmerkmale von Erziehung und Bildung.“

Whitehead offenbart an dieser Stelle sein pädagogisches Credo: Der Geist des Schülers ist „keine Kiste, die erbarmungslos mit fremden Ideen vollgepackt werden sollte, und andererseits ist die ordentlich strukturierte Aneignung von Wissen die natürliche Nahrung für eine sich entwickelnde Intelligenz. Entsprechend sollte es das Ziel ideal gestalteter Erziehung und Bildung sein, dass die Disziplin das gewollte Ergebnis freier Wahl ist und dass die Freiheit zu einer Bereicherung an Möglichkeiten als Ergebnis von Disziplin gelangt.“

Damit man Whitehead nicht falsch versteht. Er ist der Ansicht, „dass die einzige Disziplin, die um ihrer selbst willen wichtig ist, die Selbstdisziplin ist, und dass diese nur durch umfassenden Gebrauch von Freiheit anzueignen ist.“

So praktizierte Erziehung und Bildung zielt auf die Herausbildung von „Initiativkräften“, also Initiative im Denken, Initiative im Handeln und die phantasievolle Initiative der Kunst.“

Zitate aus:  Alfred North Whitehead: Die Ziele von Erziehung und Bildung, Berlin 2012 (suhrkamp)


Donnerstag, 23. Januar 2014

Hans Christian Andersen und Athen

Hans Christian Andersen (1805 - 1875)
Als Märchendichter ist Hans Christian Andersen weltberühmt. Dass er auch ein ausgezeichneter Reiseschriftsteller war, ist hingegen weniger bekannt.

Im Herbst 1840, in der Mitte seines Lebens, unternahm Andersen eine Reise über Deutschland und Italien nach Griechenland und anschließend weiter nach Smyrna und Konstantinopel. Seine Erlebnisse schildert er in einem Buch, das 1842 zunächst unter dem Titel „Eines Dichters Bazar“ erschien.

Andersen reist nach Griechenland in einer Zeit, als sich das Land und seine Hauptstadt Athen in einer Zeit des Umbruchs befinden. Erst 10 Jahre zuvor erfolgte die Gründung des neugriechischen Staates und die Übersiedelung der Königshofes und der Regierung von Nafplion nach Athen. 

Die nördliche Staatsgrenze verlief zwischen dem Golf von Arta im Westen und dem Golf von Volos im Osten. Der südlichste Punkt war Kap Tainaron, die Südspitze der Peleponnes. Ebenso wie der gesamte Norden des heutigen Griechenlands mussten auch die Ionischen Inseln, Kreta und der Dodekanes noch Jahre auf die Befreiung von der türkischen Herrschaft warten. Von den Inseln gehörten also lediglich die Kykladen, die Sporaden und die Argosaronischen Inseln zu Griechenland.

Athen war um 1834 kaum mehr als ein größeres Dorf mit etwa 300 Häusern und um die 1800 Einwohner. Knapp 10 Jahre später lag die Einwohnerzahl schon bei 21698.

Neben vielen genauen und feinfühligen Beobachtungen ragt die Beschreibung Andersens von seiner erstmaligen Ankunft in Athen heraus – die nicht frei von einer gewissen Idealisierung ist …

„Wir fuhren im Galopp, es staubte furchtbar, aber es war ja klassischer Staub. Bald erreichten wir den Olivenhain, Minervas heiligen Hain! Eine hölzerne Bude war an jeder Seite des Weges errichtet. Zitronen und Apfelsinen lagen hier ausgebreitet, garniert mit einer Reihe Flaschen, die Wein und Likör enthielten. Während unsere Pferde mit frischem Wasser getränkt wurden, kamen Bettler mit großen zinnernen Schalen, wir alle gaben ihnen, es waren ja Griechen (…).

Athen von Nordwesten aus gesehen

Vor uns lag jetzt die Akropolis, wie ich sie oft auf Bildern gesehen, aber jetzt war es Wirklichkeit! Der steile Lykabettos mit seiner schimmernd weißen Eremitenwohnung trat deutlich hervor, ich sah Athen. Weniger Schritte vor der Stadt, dicht am Wege zur Rechten, steht der Theseustempel mit seinen prächtigen Marmorsäulen, die von der Zeit gelblich braun geworden sind.

Ich sah ihn! Ich konnte mich nicht recht in den Gedanken finden, dass ich in Griechenland sei, dass ich in Minervas Stadt hineinrollte.“

Besonders fasziniert war Andersen von der Akropolis: „Während meines Aufenthaltes in Athen, bei Sonnenschein und Regen, besuchte ich täglich die Akropolis. Durch einen Besuch derselben feierte ich meinen Geburtstag, hier las ich meine Briefe aus der Heimat; die Akropolis war der Ort in Athen, welchen ich zuletzt besuchte, als ich fort sollte, auf der Akropolis verweilt mein Gedanke am längsten, wenn er Griechenland besucht.

Hier fühlte ich keinen Mangel, den ausgenommen, dass nicht alle meine Lieben diesen Anblick mit mir teilen konnten.

Ein Sonnenuntergang von hier gesehen ist das Erhabenste, was ich kenne! Ich sah einen solchen, ich saß auf den Stufen zum Parthenon. Alles war öde und tot gegen den Hymettos hin, schwarze Vögel schwebten über dem Tal, wo eine einsame weiße Säule steht.

Die Sonne sank hinter dem Golf von Salamis, und die Berge strahlten in den stärksten Tinten, Ägina war blau wie die frischesten Veilchen. Dieselben Farben, dieselben Bergformationen, wie ich sie erblickt, haben Plato, Sokrates und die Großen jener Zeit von derselben Stelle aus gesehen.
 
Blick von der Akropolis zum Saronischen Golf

Es war derselbe Schauplatz, welchen sie betraten; ich hatte während eines Augenblicks ein Gefühl, als wäre ich in die Zeit jener großen Erinnerungen und Begebenheiten zurückversetzt!

Die Sonne ging unter, und ohne vorhergehende Dämmerung wimmelten die funkelnden Sterne hervor über den gigantischen, zerbrochenen Tempeln. (…)

Griechenlands Natur ist in ihrer Trauer zu groß, als dass man darüber weinen könnte; man wird durch sie erhoben!“


Zitate aus: Hans Christian Andersen: Griechenland und der Orient. Eine märchenhafte Reise, Athen 2011 (Verlag der Griechenland Zeitung)   -   Bilder aus: Armand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld: Griechenland in Wort und Bild. Eine Schilderung des hellenischen Königreiches, London 1992. Reprint der Ausgabe 1887 (Phaidon)

Donnerstag, 16. Januar 2014

Aristophanes und die Komödie

In der Antike galt der Mensch als das einzige Wesen, das des Lachens fähig ist. Lachen und Gelächter wurden so als Ausdruck geistiger Freiheit mit Denken und Sprechen auf eine Stufe gestellt.

Aristophanes
Sicher zielte die Komödie nicht in dem Maße wie die Tragödie auf die Paideia, also auf die Besserung der Menschen, gleichwohl erlangte sie unter Aristophanes mit ihrem Eintritt in die öffentliche Arena der Politik ihre wahre Bestimmung: Die Komödie wird zum Sammelpunkt aller öffentlichen Kritik, sie erhebt ihre Stimme zu allen die Polis bewegenden Fragen. Es ist der von der Idee der Freiheit untrennbare Gedanke der Verantwortung, der hier zum Ausdruck kommt:

„Sie tadelt, wo es ihr richtig scheint, nicht nur den Einzelnen, nicht nur diese oder jene politische Handlung, sondern die gesamte Staatsführung oder den Charakter des Volkes und seine Schwächen. Sie kontrolliert den Geist und legt die Hand auf Erziehung, Philosophie, Dichtkunst und Musik. Zum ersten Mal werden dabei diese Mächte in ihrer Gesamtheit als der Ausdruck der Bildung eines Volkes und als Maßstäbe seiner inneren Gesundheit betrachtet“ (Jaeger, 458).

In der Komödie „Die Wespen“ (422 v.Chr. uraufgeführt) dreht sich alles um den unwürdigen Zustand des attischen Justizwesens. Seit der demokratischen Verfassung des Kleisthenes (Ende des 6. Jh.), lag das Gerichtswesen in der Hand des attischen Volkes. Jährlich wurden aus der gesamten Bürgerschaft sechstausend Richter durch das Los gewählt und dann auf die verschiedenen Gerichte verteilt.

Bis in die Zeit des Perikles hinein haben diese Volksrichter, die lediglich die Kenntnis der Solonischen Gesetze vorweisen mussten, ihre Aufgabe gut und gewissenhaft erfüllt. Erst als im Peleponnesischen Krieg das strenge Rechtsgefühl sich lockerte und gewissenlose Demagogen begannen ihre Intrigen zu spinnen, ließen sich auch die Richter in Parteikämpfe verstricken und zu politischen Machenschaften missbrauchen. Mehr und mehr gerieten die Richter in Abhängigkeit von den jeweiligen Machthabern, die sich ihrer bedienten, um unbequeme Gegner aus dem Weg zu räumen.

Das Oberste Gericht, die Heliaia (griechisch ἠλιαία), auf der Agora in Athen. Der Name spiegelt wider, dass das Gericht im Freien, also unter der Sonne (ἥλιος) tagte.

Führt in Einzelfällen eine Gerichtsverhandlung zum Freispruch des Angeklagten, dann wird dies als bedauerlicher Betriebsunfall interpretiert:

Wie werd ich die Gewissensbisse tragen?
Weh, freigesprochen hab ich einen! Oh!
Wie wird mir's gehn? Verzeiht mir, heil'ge Götter!
Unwissend tat ich's, meiner Art zuwider!

Die allgemeine Verarmung als Folge des Krieges hatte die Richter zudem für Bestechungen empfänglich gemacht. Betrug der Richtersold zu Perikles´ Zeiten eine Obole, wurde er nun unter Kleon auf drei Obolen angehoben. Da die meisten Männer mittleren Alters durch den Krieg beansprucht waren, bestand der größte Teil der Richter aus Greisen, die im Richtersold so etwas wie ihre Altersrente sahen.


Überhaupt: Uns Brot zu schaffen sind wir sehr erfinderisch,
Stechen jeden, wer es sei; werden dick und rund dabei

Aristophanes greift in den „Wespen“ nicht die Verfassung des Kleisthenes an, sondern die Zustände, die sich aus ihr entwickelten. Vor allem aber zieht er gegen Kleon, der durch seine Neuerungen aus der maßvollen Demokratie eine Ochlokratie („Pöbelherrschaft“) machte. Die Namen der Hauptpersonen in den „Wespen“ drücken den Angriff auf Kleon unmissverständlich aus:

Philokleon – der „Freund des Kleon“ – heißt der Greis, der sein Richteramt mit Zorn und Geifer ausübt. Er ist Kleon für die Erhöhung des Soldes dankbar, lässt sich aber dennoch von den Demagogen missbrauchen. Wie die Mehrheit seiner Amtskollegen ist er dem Beruf regelrecht verfallen, großtuerisch fällt er Urteile mit seinem Griffel, der von Aristophanes mit einem Wespenstachel gleichgesetzt wird:

„Die Rasse kennst du nicht, du Narr! Wenn man
Sie reizt, die Alten, sind sie wie die Wespen:
Sie haben einen Stachel, mördrisch scharf,
Am Steißbein, und sie stechen, kreischen, schwärmen,
Haun wild um sich und prasseln auf wie Funken!“

Bdelykleon – der „den Kleon verabscheut“ – ist der Sohn des Greises, ein Feind der Volksgerichte. Er hat sich oligarchischen Kreisen angeschlossen, ist von überlegener Klugheit und äußerst vornehm in seinen Umgangsformen.

Um seinen Vater von der „Gerichtssucht“ zu heilen, hat ihn sein Sohn kurzerhand in seinem eigenen Hause eingesperrt. Er beschwert sich beim Chor der Richter, Greise wie er, die dem Sohn Tyrannei vorwerfen:

Chor: Klar ist's ja, daß du hier den Tyrannen spielen willst!
Bdelykleon: Ja, das ist's! Bei euch ist alles Tyrannei, Gewalt, Komplott:
O das darf in keiner Klage fehlen, nicht der lumpigsten!
Und doch ward seit fünfzig Jahren nicht die Spur davon gesehn!

Bei der anschließenden Gerichtsverhandlung gelingt es Bdelykleon, den Chor der Richter davon zu überzeugen, dass sie in Wahrheit von den Mächtigen nur ausgenutzt werden. 


Denn arm sein sollst du und bleiben, das ist ihr Wille: Warum wohl?
An den Herren, der dich füttert und dressiert, sollst du dich gewöhnen, damit du,
Sobald auf den Feind er dich hetzt: "Faß! Faß!", wie ein Bullenbeißer ihn anpackst.

Aristophanes klagt darüber, dass die jetzige Generation der Alten nicht mehr stark genug ist, die Stabilität der Polis zu gewährleisten und so den Staat leichtfertig eitlen jungen Politikern ausliefere.

Die Beschwörung der alten Paideia ist gleichwohl keine Auforderung zur glorreichen Vergangenheit, die mit den Namen Marathon und Salamis verbunden ist. Aber das Gefühl, „vom reißenden Strom der Zeit fortgetragen zu werden und das wertvolle Alte entschwinden zu sehen, ehe man eines gleichwertigen Neuen sich versichert hatte, bricht in dieser Periode des Übergangs mächtig hervor und erfüllt die sehenden Geister mit Furcht“ (Jaeger, 471).

Theater im Dienst des Rechten

Bei Aristophanes wandelt sich somit die harmlos-gutmütige Kritik der alten Komödie zu einer scharfen Satire im Dienst des Richtigen und Rechten. Je größer die Not des Staates, desto wichtiger das Werk der Dichter:

Wenn sich ein Dichter bemüht,
Überraschendes, Neues zu schaffen für euch,
So behandelt ihn freundlich und haltet ihn wert,
Und bewahrt sie wohl auf, die poetische Frucht,
Und leget sie samt den Orangen hinein
In die Kisten und Kästen: befolgt ihr den Rat,
Dann riecht man - o Würze - jahraus und jahrein
An den Kleidern euch schon den Verstand an.



Zitate aus: Aristophanes: Die Wespen, in: Digitale Bibliothek Band 30: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, entspricht: Aristophanes: Komödien in zwei Bänden. Übersetzt von Ludwig Seeger. Eingeleitet, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jürgen Werner. Weimar 1963 (Aufbau-Verlag) - Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1989 (de Gruyter) - Weitere Literatur: Renata von Scheliha: Die Komödien des Aristophanes: in sieben Vorträgen interpretiert. Amsterdam 1975 (Wallstein)

Donnerstag, 9. Januar 2014

Alfred North Whitehead und die Ziele von Erziehung und Bildung

M.F. gewidmet

Alfred North Whitehead (1861 - 1947)
Der britische Philosoph Alfred North Whitehead ist vor allem durch das Standardwerk „Principia Mathematica“ bekannt geworden, das er zusammen mit seinem langjährigen Schüler und Freund Bertrand Russell zwischen 1911 und 1913 in drei Bänden veröffentlichte. Whitehead und Russell verfolgen darin die Absicht, im Sinne des logizistischen Programmes alle wahren mathematischen Aussagen und Beweise auf eine symbolische Logik zurückzuführen.

Weniger bekannt dagegen sind Whiteheads Essays und Vorträge über Themen der Erziehung und Bildung, die er zwischen 1913 und 1928 zu verschiedenen Anlässen hielt.

Für Whitehead steht fest, dass eine erfolgreiche Erziehung und Bildung auf einen vitalen Sinn für Stil abzielt – Stil im Sinne einer Fähigkeit, die praktische Effektivität in allen Lebens- und Wissenschaftsbereichen mit ästhetischem Empfinden und Moralität verbindet.

Erziehung und Bildung zielt auf „Kultiviertheit“, die Whitehead als „gedankliche Aktivität, Empfänglichkeit für Schönheit und Gefühle der Menschlichkeit“ beschreibt. Totes Wissen oder „passive Ideen“, also Ideen, „die bloß geistig aufgenommen werden, ohne nutzbar gemacht, geprüft oder in immer neuen Kombinationen zusammengewürfelt werden“, haben mit Kultiviertheit dagegen nichts zu tun: „Ein bloß gut informierter Mensch ist der nutzloseste Langweiler auf Gottes Erde.“

Vielmehr sollte das Kind von Beginn seiner Erziehung die „Freude an der Entdeckung“ erleben: „Die Entdeckung, die es machen muss, besteht darin, dass allgemeine Ideen ein Verständnis des Stroms von Ereignissen bieten, der durch sein Leben fließt der sein Leben ist.“ Was Whitehead mit dieser Aussage meint, erläutert er am Beispiel der Algebra.

Das Lösen quadratischer Gleichungen ...

Üblicherweise ist das Erste, das man in der wissenschaftlichen Ausbildung mit einer Idee macht, ihre Wahrheit zu beweisen. Für Whitehead dagegen ist es nicht wesentlich, dass die erste Bekanntschaft mit einer Idee über den Beweis ihrer Wahrheit erfolgt. „immerhin bedeutet ihre Behauptung durch die Autorität respektabler Lehrer für den Anfang eine ausreichende Evidenz.“

Wichtig für Whitehead ist der Beweis der Bedeutsamkeit einer Idee für die Praxis, weil Erziehung und Bildung letztlich „in der Aneignung der Kunst der Nutzbarmachung von Wissen“ bestehen.

Dem Schüler eine bestimmte Menge an passivem Wissen einzutrichtern ist einfach: „Sie nehmen ein Textbuch und lassen die Schüler es lernen. So weit so gut. Das Kind weiß dann, wie man eine quadratische Gleichung löst.“ Dieses Vorgehen wird lerntheoretisch normalerweise wie folgt begründet: „Der Geist ist ein Werkzeug. Erst wird er geschärft und dann benutzt; die Aneignung der Fähigkeit, eine quadratische Gleichung zu lösen, ist ein notwendiger Bestandteil des Prozesses, den Geist zu schärfen.“

Dieses Vorgehen beruft für Whitehead jedoch auf einem schwerwiegendem Irrtum: „Der Geist ist niemals passiv; er ist unaufhörliche Aktivität, feinfühlig, aufnahmefähig, empfänglich für Stimuli. Man kann sein Leben nicht aufschieben, bis man ihn geschärft hat.“

Aus dieser Aussage leitet Whitehead nun für den Lernprozess folgende Konsequenzen ab: „Welches Interesse auch immer mit dem eigenen Unterrichtsgegenstand verbunden ist, es muss hier und jetzt wachgerufen werden. Welche Fähigkeiten auch immer man beim Schüler gerade stärkt, sie müssen hier und jetzt geübt werden. Welche Möglichkeiten des geistigen Lebens auch immer die eigene Lehre vermitteln sollte, sie müssen hier und jetzt aufgezeigt werden.“

Warum also sollen Kinder lernen, eine quadratische Gleichung zu lösen? Die Antwort ist einfach: „Quadratische Gleichungen sind Bestandteil der Algebra, und Algebra ist das intellektuelle Werkzeug, das geschaffen wurde, um die quantitativen Aspekte der Welt klar werden zu lassen. Dies ist unabweisbar. Die Welt ist durch und durch mit Quantität infiziert. Sinnvoll zu reden bedeutet, in Quantitäten zu reden. Es hat keinen Zweck zu sagen, dass das Land groß ist – wie groß? Es hat keinen Zweck zu sagen, dass Radium knapp ist – wie knapp?“ Quantitäten kann man nicht ausweichen. Man könne sich zwar in Poesie und Musik flüchten, aber dann würden Quantität und Zahl einem in Form von Rhythmen und Oktaven gegenüberstehen.

Im Hinblick auf die Gestaltung der Lehrpläne käme es daher darauf an, sich zunächst über diejenigen Aspekte der Welt klar zu werden, die einfach genug sind, um in die Allgemeinbildung eingeführt zu werden. Erst dann „sollte ein Plan für Algebra konzipiert werden, der seine Exemplifizierung etwa in diesen Anwendungen findet.“

... und die Nützlichkeit der Algebra im Alltag.

Durch praktischen Bezug der Ideen kann das gelingen, was Erziehung nach Whitehead vermitteln muss, und zwar „ein vertrautes Gespür für die Macht von Ideen, die die Schönheit von Ideen und für die Struktur von Ideen, zusammen mit einem gewissen Korpus an Wissen, der einen ganz eigenen Bezug zu dem Leben des Wesens hat, das ihn besitzt.“
   
Zitate aus:  Alfred North Whitehead: Die Ziele von Erziehung und Bildung, Berlin 2012 (suhrkamp)



Donnerstag, 2. Januar 2014

Norbert Bolz und die Krankheit des Verwaltet-werden-wollens

„Man kann die Freiheit nur wahrnehmen, wenn man gesichert ist; aber die Bemühungen um Sicherheit gefährden die Freiheit. Die berechtigte Sorge um die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit lässt uns die Freiheit selbst vergessen und errichtet das soziale Gefängnis, das heute vorsorgender Sozialstaat heißt. Dieses Gefängnis braucht keine Ketten und Schlösser. Die Angst vor der Freiheit schließt die Menschen ein. Nicht Freiheit wollen sie, sondern Glück. Aber das unmittelbare Interesse am Glück ist kurzschlüssig. Wer das Glück sucht, muss einen Umweg nehmen – über die Freiheit.“

Diese Zeilen stammen aus dem Buch „Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht“ von Norbert Bolz. Es ist ein Plädoyer für Selbstverantwortung und gegen staatliche Betreuung, für den Einzelnen und gegen Gleichmacherei, für die Freiheit und gegen den Sozialismus.

Bolz zufolge beruht der moderne Despotismus darauf, dass sich die Sklaven der aktuellen urbanen Welt glückliche Menschen halten. Glücklich sind die Menschen vor allem deswegen, weil sie von der Freiheit des Willens entlastet sind – mit der Folge, dass man sie, weil sie keine Willensfreiheit mehr besitzen, auch nicht für den Stand der Dinge verantwortlich machen könne: „Das soziale Gefängnis bietet Sicherheit und Ordnung und erspart uns die Ängste des Ausgesetztseins in die Kontingenz.“

Es ist letztlich ein Zeichen von Infantilität, wenn Bürger einerseits den Politikern zutiefst misstrauen und zugleich alles vom Staat erwarten: „Die Freiheit ist in Gefahr, wenn der Bürger selber den Staat nicht mehr als präsumtiven Gegner seiner Freiheit, sondern als willkommenen Helfer aus Notlagen und virtuellen Mehrer seines Wohlstandes betrachtet.

Schon Wilhelm Humboldt hatte 1792 in seiner Schrift „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ das Problem beschrieben, wenn die Menschen sich daran gewöhnen, „mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken.“ Dadurch aber verlieren Fürsorgeempfänger nicht nur Lebensenergie und Dispositionsfreiheit, sondern auch jeden angemessenen Begriff „von Verdienst und Schuld.“

Humboldt zufolge solle sich der Staat „aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger“ enthalten, keinen Schritt weitergehen, „als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist.“ Der Staat müsse eine Bürgern also eine freie und sichere Lebensführung ermöglichen, seine körperliche Unversehrtheit garantieren und seinen Besitz schützen – aber nicht mehr. Ein starker Staat findet seine Stärke also gerade darin, dass er ein sich selbst beschränkender Staat ist, mit der sich die Bürger deshalb identifizieren können, weil dieser Staat die Ehrfurcht vor der Individualität der Menschen mit der Sorge für ihre Freiheit verbindet.


Allegorie auf die gute Regierung: Ausgelassenheit und Sorglosigkeit, die ein gut geordnetes Gemeinwesen ermöglicht (Fresko von Ambrogio Lorenzetti)

Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates dagegen behandelt Bolz zufolge die Bürger als Kinder, Patienten oder Heiminsassen und verwandle sie so allmählich in „fröhliche Roboter und glückliche Sklaven. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge.“

Genau dies hatte bereits Alexis de Tocqueville in seinem Werk über die Demokratie in Amerika beobachtet: „Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende Macht, die das Leben der Vielen überwacht, sichert und vergnüglich gestaltet. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber suchen sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten.“

So brauchen die umfassend Betreuten gar keinen freien Willen mehr und empfinden „die totale Vorsorge“ auch noch als Wohltat: „Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat. Die Überregulierung des Alltags verwandelt die Befolgung des Gesetzes aus einem Sollen in ein Gehorchen.“

Auf diese Art entstünde eine „Art von geregelter, milder und friedsamer Knechtschaft“, an der sich niemand zu stören scheint, „weil man sich ja einreden kann, die Vormünder selbst gewählt zu haben.“

Der Grund dafür, dass dieser Paternalismus so erfolgreich ist, ist anthropologischer Natur: „Hilflosigkeit, Anhängigkeit, Hinfälligkeit, Übermacht und Feindseligkeit machen Angst. Deshalb wollen die meisten Sicherheit statt Freiheit.“

Am modernen Wohlfahrtsstaat lässt sich gut erkennen, wie das politische System den Menschen die Freiheit für das Versprechen von Sicherheit und Gleichheit abgekauft hat: „Und in der Tat bringt die fröhliche Sklaverei unter kapitalistischen Bedingungen  fast allen eine akzeptablen Lebensstandard und Lebenssicherheit. Wir können deshalb den vorsorgenden Sozialstaat als Hoheitsverwaltung der Hilflosen definieren.“

So scheint es, dass die modernen demokratischen Gesellschaften zwar die Freiheit achten, es aber die Gleichheit ist, der die ewige Liebe der Demokraten gilt. „Gleichheit“ wird dabei allerdings als Gleichmacherei, als Gleichheit durch das Gesetz und eben nicht mehr als Gleichheit vor dem Gesetz verstanden. So neigen Bolz zufolge die „meisten Deutschen zum Sozialismus, weil sie die gleiche Verteilung des Unglücks der ungleichen Verteilung des Glücks vorziehen.“ Anders ausgedrückt: Die Menschen bevorzugen Gleichheit in der Knechtschaft statt Ungleichheit in der Freiheit.

Versäumen wir nicht die Freiheit als eigene Möglichkeit unseres Lebens!

Zitate aus: Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht. München 2010 (Wilhelm Fink), hier: S. 69ff.

Weitere Literatur: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen des Staates zu bestimmen, Stuttgart 1995 (Reclam) - online beim Projekt Gutenberg – Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart 2006 (Reclam)