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Donnerstag, 2. Mai 2019

Josef Kraus und die Verirrungen der 68er - Teil 3

(Fortsetzung vom 25.04.2019)


In einem Beitrag für das Kulturradio swr2 beschäftigt sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit „den 68ern“ und ihren Hinterlassenschaften.

Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.

Auch die Machbarkeits-Euphorie gehört zu den fatalen Erbschaften der 68er im Bildungsbereich. Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich ein französischer Materialismus etabliert, der die Pädagogik mit seinen mechanistischen Vorstellungen vom Menschen bis zum heutigen Tag nicht mehr losgelassen hat. Maßgeblicher Vertreter war Julien de Lamettrie, der 1748 in seinem Hauptwerk "L'homme machine" („Der Mensch eine Maschine“) die Sicht eines maschinenähnlichen Menschen entwarf, dessen psychische und geistige Verfassungen angeblich vollkommen von den Umständen abhängen.

Es soll dann noch mehr als hundert Jahre dauern, ehe sich eine sogenannte „objektive“ Psychologie etabliert, die die angebliche Programmierbarkeit des Menschen durch die so oder so zu gestaltenden Umstände aufgreift. 1904 bekommt der Russe Iwan Petrowitch Pawlow für seine „Reflexologie“ den Nobelpreis für Physiologie. 

Der Traum der 68er: Lernen als Programmierung 

Im Kern besagt seine auf der Basis von Experimenten mit Hunden entwickelte Theorie, dass nicht nur Reflexe, sondern auch bewusste Reaktionen "konditioniert" werden könnten. Die US-Behavioristen, allen voran John Watson, Edward Thorndike und Burrhus Skinner, folgen Pawlow. Mit Experimenten an Ratten, Tauben und Katzen wollten sie darlegen, dass jedes Verhalten und Erleben abhängige Variable der unabhängigen Variablen „Umwelt“ sei.

Der junge Mensch wird auf seine „materielle“ Tatsachen reduziert – frei nach Lenin: „Der neue Mensch wird gemacht!“. 1950 hatte Stalin gar die Parole ausgegeben, dass Pawlows Ideen die wissenschaftliche Grundlage des Marxismus seien. Heute glaubt man wieder, via Erziehung Schöpfer spielen zu dürfen. Wie wenn das Neugeborene eine „tabula rasa“ sei, auf der Prägungen ohne Grenzen vorgenommen werden könnten. Wieder und wieder heißt es, Intelligenz und Schulerfolg seien ausschließlich determiniert durch das Milieu.

Der Begriff „Begabung“ scheint „out“ zu sein. Wer von Begabung spricht, gilt als Biologist, ja Faschist. Der Behaviorist Skinner hat aus dieser Attitüde heraus Lehr-und Lernprogramme entwickelt, die in den 1960er-Jahren als „Programmierter Unterricht“ eine pädagogische Euphorie auslösten, aber bald in den Archiven verschwanden.

Die heutige Hirnforschung übrigens stützt eine solche Vision von grenzenloser Machbarkeit. Als Neuropädagogik ist sie zwar eher ein Witz, wenn eine ihrer Erkenntnisse etwa lautet: „Effektives Lernen setzt gute Laune voraus.“ Nur, was mache ich mit dieser Erkenntnis, wenn ich als Mathe-Lehrer eine pubertierende Klasse vor mir habe? Gestützt wird diese Machbarkeitsvision zudem von einer Digitalisierungs-Euphorie, die so tut, als würde damit der neue Adam als „digital native“ (digitalisierter Naivling?) fit für die Zukunft gemacht.

Die Machbarkeits-Euphorie hat sich zudem als veloziferischer Wahn ausgetobt. Velozifer ist nach Goethe der Gott der rasenden Beschleunigung. Es geht hier um die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung und in immer weniger Schuljahren zu besser gebildeten jungen Leuten kommen. Typisches

Beispiel für eine solchermaßen verfehlte „Reform“ ist das achtjährige Gymnasium (G8). Bildung aber braucht Zeit. Man kann Reifung nicht beliebig beschleunigen. In Afrika sagt man: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht.

Eine Folge der pädagogischen Egalisierungs- und Machbarkeits-Euphorie ist die Quotengläubigkeit der 68er. Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abitur bekommen. Wenn aber alle das Abitur haben, dann hat keiner mehr das Abitur.

Man darf nicht vergessen, dass Deutschland, Österreich und die Schweiz niedrige Akademisierungsquoten, zugleich aber beste Wirtschaftsdaten sowie die niedrigsten Quoten an Arbeitslosen und an arbeitslosen Jugendlichen haben. Diese Vorzüge haben wir nicht, weil wir gigantische Studierquoten hätten. Das haben wir vor allem aufgrund eines „Qualified in Germany by berufliche Bildung“.

All diese Verirrungen werden bis heute vernebelt, verschleiert – und zwar mittels Sprache, damit sie nicht als Verirrungen erkannt werden. So gesehen, haben die 68er nicht nur den Marsch durch die Institutionen, sondern auch durch die Definitionen zurückgelegt. Mittels Sprache eben: genauer mit der Sprache der „political correctness“. Diese Sprache begann ihr Unwesen ab den 1980er-Jahren in den US-Universitäten zu treiben. Wieder also Vorbilder aus den USA!

Als „educational correctness“, als Sprache der pädagogischen Korrektheit wurde sie ein Enkel- und Hätschelkind der 68er. Denn gerade in der Pädagogik fällt "political correctness" auf fruchtbaren Boden: als „lingua paedagogica correcta". Phrasen, Plattitüden – wohin man schaut: Autonomie, Betroffenheit, Chancengleichheit, Emanzipatorische Erziehung, Freiarbeit, Ganzheitlichkeit, Ganztagsschule, Gesamtschule, Gleichheit, Gerechtigkeit, Kompetenzen, Kreativität, Willkommensklassen usw.

Eigentlich weniger pädagogisch korrekt wären die gerne auch von modernen Bildungstheoretikern bemühten paramilitärischen Vokabeln, die die Pädagogik nach und nach besetzen: „kognitive Operationen“ und „Lernstrategien“.

Zugleich wird mit Euphemismen gearbeitet, die die Wirklichkeit kaschieren und verbrämen sollen: Aus Hilfsschulen wurden Sonderschulen und dann Förderschulen, aus Schulschwänzern wurden Schuldistanzierte, aus faulen Schülern wurden demotivierte, aus verhaltensgestörten sozial herausfordernde oder gar verhaltensoriginelle und verhaltenskreative, aus dummen Schülern wurden einseitig begabte oder praktisch bildbare. Realitäten werden damit für nicht existent erklärt.

„Lingua paedagogica correcta": Übrig bleiben Phrasen und Plattitüden

Parallel dazu gibt es die pädagogischen Pfui- und Gott-sei-bei-uns-Wörter, die im Verdacht des Faschistoiden stehen: Auslese, Autorität, Begabung, Diktat, Disziplin, Ehrgeiz, Elite, Fleiß, Hauptschule, Hochbegabung, IQ, Leistung, Mathematik, Ordnung, Pflicht, Rechtschreibung, Strafe, Tugenden, Vorbild, Wissen, Zeugnis, Ziffernnote.

Jedenfalls gibt es sie noch und es gibt sie wieder, die Pädagogik in „Marx- und Engelszungen“ (eine hübsche Wortbildung von Wolf Biermann!). Zwar geht es in deutscher Pädagogik heute nicht mehr so reinrassig marxistisch zu wie bei den 68ern und in der DDR. Aber subliminal und verbal geschmeidiger setzen sich die 68er Vorstellungen von „Bildung“ nach wie vor in beachtlicher Weise durch, und zwar mittlerweile verstrickt mit neokapitalistischer Pädagogik, wie sie von der selbsternannten Erziehungsmacht OECD und von Deutschlands oberster Bildungsgouvernante mit Sitz in Gütersloh angesagt ist.

Es ist schon irre: In moderner Pädagogik reichen sich Neo-Marxismus und Neo-Kapitalismus die Hand.

Zum Beispiel in der Frage der Ganztagsschule. Und damit man ja alles total im Griff hat, wird die Verstaatlichung von Erziehung vorangetrieben: qua Ganztagsschule – und mittels immer neuer Bindestrich-Erziehungen: Konsum-, Medien-, Freizeit-, Gesundheits-, Umwelt-Erziehung. Das Elternhaus soll – weil Hort der Ungleichheit und des Widerstands gegen staatliche Zugriffe – aus der Verantwortung entlassen oder gar entmündigt werden.

Den Marxisten geht es um Entmündigung der Eltern, den Kapitalisten um den ökonomischen Nutzen, den man zieht, wenn man Frauen in die Arbeitswelt kriegt.

„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ heißt das dann. Vom Kind ist dabei nicht die Rede. Und dann kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig ihre anti-kapitalistischen Lippenbekenntnisse von wegen Gleichheit, Gerechtigkeit, klassenlose Gesellschaft und dergleichen absondern, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft samt OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an „Bildung“ soll messbar und nützlich sein. Der Mensch wird zum „Humankapital“ verdinglicht.

Damit schließt sich der Kreis der ursprünglich verfeindeter Ideologien Sehr seltsam! Solche Verbrüderungen hätten sich die 68er nicht träumen lassen.


Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1. Juli 2018, 8.30 Uhr

Weitere Literatur: Josef Kraus, „50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018  -  Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. München 2017 -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Reinbek 2013.

Donnerstag, 25. April 2019

Josef Kraus und die Verirrungen der 68er - Teil 2


(Fortsetzung vom 18.04.2019)


In einem Beitrag für das Kulturradio swr2 beschäftigt sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit „den 68ern“ und ihren Hinterlassenschaften.

Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.


Eine weitere Verirrung der  68er hat mit Jean-Jacques Rousseau und mit seinem pädagogischen „laissez faire“ zu tun. Dieses pseudopädagogische „Greife bloß nicht ein!“ wirkt bis heute nach. No-Education und Spaßpädagogik heißt das heute. In reiner Form hat man dergleichen mit der 1921 gegründeten anti-autoritären „Summerhill“-Schule umgesetzt. Dafür stand Alexander Sutherland Neill (1883 - 1973), den man in den 1970er-Jahren in Deutschland zum Künder „progressiver“ Pädagogik erklärt hat. In dieser Anti-Schule konnten die Kinder den Unterricht besuchen oder nicht. Es gab keine Hausaufgaben, Zensuren und Prüfungen.

Die Folgen einer falsch verstandenen Spaßpädagogik ...
Die sogenannten Schüler konnten am Ende lesen und schreiben oder nicht. Als Devise galt nur das „Recht aufs Spielen, Spielen und abermals Spielen“, schrieb Neill 1960 in seinem Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“, das mit seinen 600.000 verkauften Exemplaren auch für deutsche 68er zum pädagogischen Katechismus wurde. 

Noch im Oktober 1991, als "Summerhill" schon die Schließung drohte, geriet die Wochenzeitung „Die Zeit“ in ihrem Magazin zehn Seiten lang ins Schwärmen: "Summerhill - Die Legende lebt", "Ausgebildet ohne Zwang", „Präpariert für das Leben" – so lauteten die Zwischenüberschriften einer ausgelehnten Bild- und Textreportage.

Das anti-pädagogische Motto, wie es sich in dem Pop-Titel „We don’t need no education“ von Pink Floyd aus dem jahre 1979 niederschlug, fand seine Realisierung. „happiness" ohne Anstrengung war angesagt. Eine solche Anti-Pädagogik freilich übersieht, dass sie trotzdem erzieherisch prägt. Denn man kann nicht nicht erziehen: Wer nämlich nicht erzieht, der vermittelt einem Kind: „Von mir kannst du nichts erwarten; tue, was du willst!“ Wer nicht erzieht, „erzieht“ ein Kind schließlich zu einem bindungslosen, mit seiner Pseudo-Autonomie überforderten Individuum.

Bis zum heutigen Tag aber tut „moderne“ Pädagogik – paradoxerweise reichlich angestrengt – so, als ob Schule immer nur cool sein müsse, damit sich Kinder ja nicht langweilten. Spaß solle Schule machen. Kindgemäßheit nennt sich so etwas. Man könnte es auch Infantilisierung über den Kindergarten hinaus nennen.

Bildung geht aber nur mit Anstrengung, Disziplin, Sorgfalt, Wissensdurst. Eine Gute-Laune-Pädagogik schadet unseren Kindern. Wir müssen Kindern wieder mehr zutrauen und mehr zumuten. Dass pseudopädagogische Erleichterungsattitüden falsch sind, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Selbst Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus.

Dass ein „Sofortismus“ Kindern nichts bringt, ist belegt. Moderne Pädagogik tut aber genau dies. Wenn etwas schwierig erscheint, dann denkt sie nicht darüber nach, wie man den Kindern das Schwierige beibringen und sie zu Geduld erziehen könnte, sondern sie senkt die Ansprüche – anstatt eine Portion Durchhaltevermögen und Sitzfleisch zu fördern.

Leistung und Anstrengung aber wurden bis zum heutigen Tag zu Missgunst-Vokabeln. Nach wie vor ist im Zusammenhang mit Schule die Rede von "Leistungsstress", "Leistungsdruck", "Leistungsterror". Wer Leistung aber zur Missgunst-Vokabel macht, wer das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen.

Differenzierung und Förderung

Aber die Diskreditierung des Leistungsprinzips findet nach wie vor statt – geführt mit anderen verbalen Waffen. Heute wird ständig über einen „Schulstress“ gejammert, dem unsere jungen Leute angeblich ausgesetzt seien. Es vergeht kein Halbjahr ohne eine „Studie“ über den Schulstress von angeblich der Hälfte bis zu zwei Dritteln der Schüler. Aber es ist sehr oft ein eingeredeter Stress. Die politische Folge solcher „Studien“ freilich ist, dass schulische Ansprüche noch mehr gesenkt und Schüler noch mehr „gepampert“ werden.

(Fortsetzung folgt)


Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1. Juli 2018, 8.30 Uhr

Weitere Literatur: Josef Kraus, „50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018  -  Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. München 2017 -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Reinbek 2013.