Donnerstag, 28. August 2014

Heinz D. Kurz und die Charakteristika der ökonomischen Klassik

In seinem Buch über die Geschichte der ökonomischen Ideen kommt Heinz D. Kurz auf acht Merkmale, die das klassische ökonomische Denken kennzeichnen:


Pierre Le Pesant de Boisguilbert
(1646 – 1714)
William Petty
(1623 - 1687)

1. Klassisches ökonomisches Denken geht von der Prämisse aus, dass die Geschichte das Ergebnis menschlicher Handlungen ist, aber nicht die Ausführung irgendeines menschlichen Plans – oder wie es Adam Ferguson (1723 – 1830) ausgedrückt hat: „History ist he result of human action, but not the execution of any human design.“ Übertragen auf die Ökonomie bedeutet dies, dass das menschliche Handeln gesamtwirtschaftliche Konsequenzen führt, die vom Einzelnen weder beabsichtigt noch vorhergesehen sind.

Interdependenz wird so zu einem zentralen analytischen Instrument, indem man begreift, dass verschiedene Akteure und Wirtschaftszweige wechselseitig voneinander abhängen.

Die Aufgabe der Politischen Ökonomie ist demnach die Analyse von intendierter und nicht-intendierter Konsequenzen, letztlich aber auch der Kampf gegen Aberglaube, Begeisterung und Hysterie in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dingen.

2. Wirtschaft wird als ein Gebilde begriffen, das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die erforscht, verstanden und genutzt werden können. Schon Francis Bacon hatte auf den praktischen Nutzen der Naturwissenschaften für den gesellschaftlichen Fortschritt verwiesen: „Wissen ist Macht!“

In diesem Sinne will auch William Petty nur eine Perspektive zulassen, die sich nur „in Zahl, Gewicht oder Maß ausdrückt und nur solche Fälle betrachtet, die sichtbare Grundlagen in der Natur haben.“ All das, was „von schwankenden Gemütern, Meinungen, Geschmäckern und Leidenschaften besonderer Menschen abhängt“, überlässt er der Betrachtung durch andere.

François Quesnay
(1694 – 1774)
Anne Robert Jacques Turgot
(1727 – 1781)











Es geht hier um ein quantitatives und empirisches Vorgehen, um positive Ökonomik sowie darum, die Verhältnisse durch kluge wirtschaftspolitische Maßnahmen zu verbessern. Quesnay und Smith bezeichnen die Wirtschaftswissenschaft ausdrücklich als Science of the legislator.„Wissen ist Macht!“ eben.

3. Seit Thomas Hobbes galt die Überzeugung, ein sich selbst überlassenes System versinke notwendig in Bürgerkrieg und Chaos – bellum omnium contra omnes. Dagegen wenden die Ökonomen nun ein: Eine auf Gewerbefreiheit und Freihandel ruhende Wirtschaft ist (unter gewissen Umständen) ein sich selbst regulierendes homöostatisches System.

Es ist die Idee des Gleichgewichts, das hier in die Vorstellungswelt der Ökonomie eingeht. Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même – Lasst sie nur machen, lasst es geschehen, die Welt dreht sich von allein – so lautet die berühmte Formel des Liberalismus.

4. Der Bezugsrahmen der ökonomischen Klassik ist eine auf Privateigentum an den natürlichen Ressourcen und produzierten Produktionsmitteln beruhende Wirtschaft, in der private Akteure in Verfolgung eigener Ziele auf eigene Rechnung interagieren, ohne zentrale Lenkung.

Dieses privat-dezentrale System kann jedoch nur funktionieren, wenn die Aktivitäten über Märkte koordiniert werden, wenn es auf den Märkten zur Herausbildung von Preisen kommt, die alle im Zuge der Produktion anfallenden Kosten abdecken und natürlich den Akteuren ein ausreichend hohes Einkommen sichern.

5. Als Hauptquelle steigenden Wohlstands werden die heimische Arbeit und Produktion und die Entwicklung der Produktivität der Arbeit angesehen. Wenn die Klassiker in diesem Zusammenhang von Stromgröße sprechen, dann nehmen sie den modernen Begriff des Sozialproduktes vorweg.

Eine Nation ist arm oder reich nach Maßgabe der Größe des von ihr während eines Jahres pro Kopf der Bevölkerung netto erzeugten Stroms an Gütern.

Richard Cantillon
(1680 – 1734)
David Hume
(1711 – 1779)












6. Die Gesellschaft ist unterteilt in verschiedene Klassen, deren Mitglieder unterschiedliche Rollen im Prozess der Erzeugung, Verteilung und Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums zukommen. Hier handelt es sich um die Grundbesitzer, die Arbeiter und die Kapitaleigner.

7. Konkurrenz ist für die klassischen Ökonomen die Rivalität zwischen Anbietern und Nachfragern einer Sache. Firmen konkurrieren um Marktanteile, Arbeiter um Arbeitsplätze, Pächter um Grund und Boden. Bei Smith ist freie Konkurrenz das Ideal schlechthin. Sie bezeichnet die Abwesenheit jeglicher Markteintritts- wie Marktaustrittsschranken. So sind Monopole und Privilegien generell Mobilitätshemmnisse für Arbeitskräfte und Kapital – sie gereichen allein zum Vorteil Einzelner und zum Nachteil Vieler.

Freie Konkurrenz wirkt wie eine „unsichtbare Hand“ (Smith), die sich ohne zu strafen des Eigeninteresses der Menschen bedient. Kommt es auf dem Markt zu Güterknappheit, dann treibt die Konkurrenz der Nachfrager den Marktpreis in die Höhe. Die Aussicht auf hohe Gewinnspannen lockt Kapital und Arbeitskräfte an, es kommt zu einer Steigerung der erzeugten Gütermenge, was wiederum die Senkung des Marktpreises bewirkt.

Adam Smith
(1723 – 1790)
David Ricardo
(1772 – 1823)











Diese rastlose Suche der Kapitalseigner nach möglichst hohen Profiten und der Arbeiter nach möglichst hohen Löhnen führt der Tendenz nach zur Herausbildung einer allgemeinen, tendenziell einheitlichen Profitrate.

8. Dem Konzept einer allgemeinen Profitrate korrespondiert das Konzept der „natürlichen“ Preise oder Produktionspreise. Während die Produktionspreise die systematisch und dauerhaft wirkenden Kräfte widerspiegeln, wirken in die Marktpreise eine Vielzahl von zufälligen und vorübergehenden Faktoren hinein (z.B. das Wetter oder Naturkatastrophen)

Zitate aus: Heinz D. Kurz: Geschichte des ökonomischen Denkens, München 2013 (C.H.Beck)


Donnerstag, 21. August 2014

Amartya Sen und das altindische Gerechtigkeitsverständnis

In seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ geht Amartya Sen (*03.11.1933) an mehreren Stellen auf zwei Begriffe des altindischen Gerechtigkeitsverständnisses ein, deren Unterscheidung bis heute unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit vorwegnehmen und die vorwiegend den Kontrast zwischen „einem auf Regeln gerichteten und einem auf Verwirklichung gerichteten Rechtsverständnisses“ deutlich werden lassen

Zunächst bezeichnet niti die Gerechtigkeit im Sinne einer Korrektheit von Organisationen und Verhaltensweisen. Auch Sen geht davon aus, dass jede Theorie der Gerechtigkeit der Rolle von Institutionen, die gerecht handeln, einen wichtigen Platz einräumen muss, dass also „die Institutionen selbst mit gutem Grund als Teil der Verwirklichungen [von Gerechtigkeit - Paideia] zählen, die durch sie erreicht werden“ (110).

niti - Die Gerechtigkeit der Institutionen:
Regelwerke geben die Richtung an
Gerechtigkeit im Sinne von niti meint also, dass die Anforderungen der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft schon erfüllt sind, wenn angemessene Institutionen existieren. So spricht sich Robert Nozick beispielsweise dafür aus, dass in einer gerechten Gesellschaft die individuellen Freiheiten und der Schutz des Lebens und des Eigentums garantiert werden müssen und die für diese Rechte notwendigen Institutionen – „juristische wie ökonomische Regelwerke“ (112) – zu den wesentlichen Bedingungen der Vorstellung von Gerechtigkeit gehören.

Ein Beispiel für eine besonders strenge Ausprägung von niti ist die Forderung „Fiat iustitia, et pereat mundus“ („Gerechtigkeit soll geübt werden, auch wenn dabei die Welt untergeht“), ein Satz, der Ferdinand I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im 16. jahrhundert, zugeschrieben wird.

Für Sen ist es allerdings mehr als unverständlich, eine totale Katastrophe als Beispiel für eine gerechte Welt zu beschreiben: „Sollte die Welt tatsächlich untergehen, wäre das keine besonders rühmliche Errungenschaft, selbst wenn die harte, strenge niti-Gerechtigkeit, die zu diesem Ergebnis geführt hätte, womöglich mit sehr komplizierten Argumenten verschiedener Art verteidigt werden könnte“ (49).

Für Sen ist damit klar, dass wir auf unserer Suche nach Gerechtigkeit nicht die Augen vor dem verschließen können, was wirklich in der Welt passiert.

Natürlich müssen wir uns Sen zufolge „um Institutionen bemühen, die Gerechtigkeit fördern, aber wir sollten nicht Institutionen schon für sich genommen als Erscheinungsformen von Gerechtigkeit behandeln“ (110). Vielmehr müsse man prüfen, inwieweit die Verwirklichung von Gerechtigkeit auf dem institutionellen Fundament tatsächlich zustande kommen kann.

Die Überzeugung, dass ausschließlich Institutionen das Fundament der Gerechtigkeit sind, führt nicht nur zu einer groben Missachtung der Komplexität von Gesellschaften, sondern geht ziemlich mit einer Selbstzufriedenheit und vermeintlich souveräner Klugheit von Institutionen einher. Diese Einstellung aber blockiert „eine kritische Überprüfung der tatsächlichen Konsequenzen, die sich auf der Verfügbarkeit der empfohlenen Institutionen ergeben“ (111).

Hier setzt der Begriff nyaya an, der für ein umfassendes Konzept von verwirklichter Gerechtigkeit steht, das „unlöslich mit der Welt verbunden ist, wie sie sich tatsächlich entwickelt, und nicht nur mit den Regeln und Institutionen, die wir gerade haben“ (48).

Die Gerechtigkeit der Fische muss in der Welt der Menschen
unbedingt vermieden werden! (Amartya Sen)

Sen erläutert nyaya am Beispiel des Rechts des Stärkeren oder auch der „Gerechtigkeit in der Welt der Fische“, in der ein dicker Fisch ungehindert einen kleinen Fisch verschlingen kann. Dem Verständnis von nyaya folgend muss die „Gerechtigkeit der Fische“ in der Welt der Menschen unbedingt vermieden werden: „Die zentrale Erkenntnis hier besagt, dass die Verwirklichung von Gerechtigkeit im Sinne des Begriffs nyaya nicht einfach mit der Beurteilung von Institutionen und Regeln zu tun hat, sondern mit der Einschätzung der Gesellschaften selbst. Ganz gleich, wie korrekt etablierte Organisationen sein mögen, muss es doch als offene Verletzung der Gerechtigkeit zwischen Menschen im Sinn von nyaya gelten, wenn ein großer Fisch trotzdem nach Belieben einen kleinen Fisch verschlingen kann“ (49).

Die Perspektive von nyaya macht zudem deutlich, dass es wichtiger ist, „offenkundigem Unrecht in der Welt vorzubeugen, statt nach dem vollkommen Gerechten zu suchen“ – ein Gedanke, den auch Karl R. Popper in das Zentrum seiner Utopiekritik stellt.

So geht es bei nyaya nicht darum, eine vollkommen gerechte Gesellschaft oder soziale Regelungen zu schaffen – „oder zu erträumen“ -, sondern es geht ihr vorrangig darum, eindeutig schweres Unrecht zu verhindern: „Als Menschen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei kämpften, arbeiteten sie nicht in der Illusion, dass die Welt durch die Abschaffung der Sklaverei vollkommen gerecht würde. Vielmehr gingen sie davon aus, dass eine Gesellschaft, die Sklaverei duldete, vollkommen ungerecht sei (…) Weil Sklaverei als untragbare Ungerechtigkeit diagnostiziert wurde, erhielt ihre Abschaffung höchste Priorität, und dazu brauchte man keinen Konsens über das Aussehen einer vollkommen gerechten Gesellschaft“ (50).
 
Allegorie auf die Sklavenbefreiung: Als leibhaftigen Messias hießen schwarze Sklaven US-Präsident Abraham Lincoln willkommen, als er nach der Eroberung der konföderierten Hauptstadt Richmond im April 1865 durch die Straßen ritt. 

Das, was in der Welt passiert, ist demnach für unsere moralische und politische Einstellung ausgesprochen wichtig. In der umfassenden Perspektive von nyaya gesehen, darf mach Sen zufolge niemals die Aufgabe der Gerechtigkeit einfach an ein niti sozialer Institutionen und sozialer Regeln delegieren, die man für richtig und korrekt hält, und es dann dabei belassen. Danach zu fragen, „welchen Lauf die Dinge nehmen und ob sie verbessert werden können, gehört somit konstant und unumgänglich zum Streben nach Gerechtigkeit“ (114).

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)

Donnerstag, 14. August 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 7


Abschließende Bemerkungen

Wilhelm von Humboldt
In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann - gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet sich Humboldt gegen die Ansicht, der Sinn des Staates bestünde darin, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz, dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit beschäftigen muss.“

In den letzten Kapiteln seiner Abhandlung widmet sich Humboldt zwei weiteren wichtigen Fragen der Staatsphilosophie, einerseits der Finanzierbarkeit des Staates, andererseits der Möglichkeiten einer Umsetzung seiner Gedanken in die Praxis.

Humboldt ist der Meinung, dass der Staat natürlich „hinlängliche Einkünfte“ haben müsse, „auch um den eingeschränktesten Zweck zu erfüllen.“ Aber ebenso ist er der Ansicht, dass „auch bei Finanzeinrichtungen jene Rücksicht des Zwecks der Menschen im Staate, und der daher entspringenden Beschränkung seines Zwecks nicht aus den Augen gelassen werden darf.“ Nicht Die Quantität der Mittel bestimme also den Zweck  bzw. die Wirksamkeit des Staates, sondern umgekehrt der Zweck und die Wirksamkeit mache eine bestimmte Quantität der Mittel notwendig.

Man dürfe bei diesem Thema vor allem nicht vergessen, „dass der Staat, welchem so enge Grenzen der Wirksamkeit gesetzt sind, keiner großen Einkünfte bedarf.“

So müsse auch – ähnlich wie bei der Rechtsprechung  die Frage des Unterhaltes der staatlichen Strukturen ein Mittel sein, „welches den beherrschenden und den beherrschten Teil der Nation miteinander verbindet, welches dem ersteren den Besitz der ihm anvertrauten Macht und dem ein letzteren den Genuss der ihm übrig gelassenen Freiheit sichert.“

Wie viel Geld braucht der Staat? Eigentlich wenig ...!

Das Problem sei gleichwohl, dass „in den meisten Staaten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Personal der Staatsdiener und der Umfang der Registraturen zunimmt und die Freiheit der Untertanen abnimmt.“ Daher dürfe nicht vergessen werden, dass der Zweck des Staates, die Sicherheit der Bürger zu garantieren, damit diese in Freiheit ihr Leben selbst in die Hand nehmen können, sogar noch über der Staatsverfassung stehe. Jeder Staat werde daher „immer nur, als ein notwendiges Mittel, und, da sie allemal mit Einschränkungen der Freiheit verbunden ist, als ein notwendiges Übel gewählt.“

Schließlich widmet sich Humboldt der „Anwendung der vorgetragenen Theorie auf die Wirklichkeit.“ Zwar sei der Wunsch, „dasjenige, was die Theorie als richtig bewährt, auch in der Wirklichkeit ausgeführt zu sehen“ natürlich, aber, „wie edel in seinen Quellen er sein mag, so hat er doch nicht selten schädliche Folgen hervorgebracht, und sei oft sogar schädlicher, als die kältere Gleichgültigkeit.“

Ganz im Sinne der – späteren – liberalen utopiekritischen Positionen geht auch Humboldt davon aus, dass es Ideen gibt, „welche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirklichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muss der Seele des Bildners jeder Art nur immer, als unerreichbares Muster vorschweben.“

Gerade daher sei es eine Pflicht, in der Anwendung von Theorien vorsichtig zu sein und stets „zu prüfen, inwiefern die im Vorigen theoretisch entwickelten Grundsätze in die Wirklichkeit übertragen werden könnten.“

Wolle man also einen „Übergang von dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen […] bewirken, lasse man, soviel möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen.“ Dahinter steht Humboldts Überzeugung, dass das, „was nicht von dem Menschen selbst gewählt […] wird […], das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“

"Was nicht von dem Menschen selbst gewählt wird, das geht nicht in sein Wesen über."

So hätten „gleichförmige Ursachen […] gleichförmige Wirkung. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“

So müsse der Regierende immer „zwei Dinge unausbleiblich im Auge haben“: Einerseits die Theorie, andererseits „den Zustand der individuellen Wirklichkeit, die er umzuschaffen bestimmt wäre.“

„Beide Gemälde müsste er nun mit einander vergleichen, und der Zeitpunkt, einen Grundsatz der Theorie in die Wirklichkeit zu übertragen, wäre der, wenn in der Vergleichung sich fände, dass, auch nach der Übertragung, der Grundsatz unverändert bleiben, und noch eben die Folgen hervorbringen würde, welche das erste Gemälde darstellte.“

Ob dies gelingt, hängt letztlich davon ab, ob die Menschen „empfänglich genug für die Freiheit sind, welche die Theorie lehrt.“

Auf den Versuch kommt es an!

Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel XV bis XVI

Donnerstag, 7. August 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 6


Die Sorgfalt des Staates für die Sicherheit der Bürger

Wilhelm von Humboldt
In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann gegen den umfassenden Ordnungs-anspruch des Staates.

Im Hinblick auf den Zweck des Staates wendet sich Humboldt gegen die Ansicht, der Sinn des Staates bestünde darin, das„Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Stattdessen verteidigt Humboldt den Grundsatz, dass allein „die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des Staates ausmachen, und seine Wirksamkeit beschäftigen muss.“

Humboldt konkretisiert diesen Grundsatz in den Kapiteln 11 bis 14 seiner Abhandlung und macht dabei deutlich, dass die Sorgfalt des Staates für die Sicherheit der Bürger allein auf der Grundlage von Recht und Gesetz entschieden werden darf.

Zu Beginn des 11. Kapitels definiert Humboldt zunächst die Begriffe „sicher“ und „Sicherheit“:

Sicher nenne ich die Bürger in einem Staat, wenn sie in der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte, dieselben mögen nun ihre Person, oder ihr Eigentum betreffen, nicht durch fremde Eingriffe gestört werden.“

Sicherheit ist folglich — wenn der Ausdruck nicht zu kurz, und vielleicht dadurch undeutlich scheint –, Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit“

Nun gibt Humboldt zu, dass diese Sicherheit „nun nicht durch alle diejenigen Handlungen gestört [wird], welche den Menschen an irgend einer Tätigkeit seiner Kräfte, oder irgend einem Genuss seines Vermögens hindern, sondern nur durch solche, welche dies widerrechtlich tun.“ Daher bedürfen auch nur „wirkliche Verletzungen des Rechts … einer anderen Macht, als die ist, welches jedes Individuum besitzt.“

Wichtig ist hier vor allem der Hinweis Humboldts, dass die „die Staatsvereinigung ist bloß ein untergeordnetes Mittel, welchem der wahre Zweck, der Mensch, nicht aufgeopfert werden darf.“

Recht und Gesetz - Die Grundlagen
des modernen Staates
Erstens dürfe der Staat in seiner Sorgfaltspflicht für die Sicherheit der Bürger im Rahmen der „Polizeigesetzgebung“ nur solche Handlungen verbieten, die sowohl die „Rechte andrer kränken, die ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besitz schmälern.“

Aber schon dann müsse der Staat „zurücktreten und sich begnügen, die mit vorsätzlicher oder schuldbarer Kränkung der Rechte vorgefallenen Beschädigungen zu bestrafen. Denn dies allein, die Hemmung der Uneinigkeiten der Bürger untereinander, ist das wahre und eigentliche Interesse des Staats, an dessen Beförderung ihn nie der Wille einzelner Bürger, wären es auch die Beleidigten selbst, hindern darf.“

Daher dürfe der Staat auch nicht gegen Meinungen vorgehen, die gegebenenfalls verletzend sein können. Die Meinungsfreiheit ist und bleibt für Humboldt eine der Grundkonstanten einer liberalen Gesellschaft: „Wer Dinge äußert, oder Handlungen vornimmt, welche das Gewissen und die Sittlichkeit des anderen beleidigen, mag allerdings unmoralisch handeln, allein, so fern er sich keine Zudringlichkeit zu Schulden kommen lässt, kränkt er kein Recht. Es bleibt dem anderen unbenommen, sich von ihm zu entfernen, oder macht die Lage dies unmöglich, so trägt er die unvermeidliche Unbequemlichkeit der Verbindung mit ungleichen Charakteren, und darf nicht vergessen, dass vielleicht auch jener durch den Anblick von Seiten gestört wird, die ihm eigentümlich sind, da, auf wessen Seite sich das Recht befinde?“  

Vielmehr müsse das „wahre Bestreben des Staats muss daher dahin gerichtet sein, die Menschen durch Freiheit dahin zu führen, dass leichter Handlungen entstehen, deren Wirksamkeit in diesen und vielfältigen ähnlichen Fällen an die Stelle des Staats treten könne.“ Grundsätzlich sei zu beobachten, dass die Menschen zu gegenseitiger Hilfeleistung bereitwilliger werden, „je weniger sich ihre Eigenliebe und ihr Freiheitssinn durch ein eigentliches Zwangsrecht des anderen gekränkt fühlt.“ Denn: Wie gut auch die Gesetze im Einzelnen sein mögen, es besteht immer „die Leichtigkeit des möglichen Missbrauchs.“

Zivilgesetzgebung
Zweitens bezieht sich die Zivilgesetzgebung auf solche Handlungen, welche sich „unmittelbar und geradezu auf andre beziehen. Denn wo durch dieselben Rechte gekränkt werden, da muss der Staat natürlich sie hemmen, und die Handelnden zum Ersatz des zugefügten Schadens zwingen. Sie kränken aber … das Recht nur dann, wenn sie dem andren gegen, oder ohne seine Einwilligung etwas von seiner Freiheit, oder seinem Vermögen entziehen.“ Im Gegenzug verzichtet der Beleidigte auf seine Privatrache, weil er das Recht auf Ersatz allein „dem Staat übertragen hat, auf nichts weiter, als auf diesen.“

Der Staat muss also im Falle einer „Kränkung“ des Gesetzes „den Beleidiger zwingen, den angerichteten Schaden zu ersetzen, aber den Beleidigten verhindern, unter diesem Vorwand, oder außerdem eine Privatrache an demselben zu üben.“

Dieser Gedanke führt Humboldt nun zur Pflicht des Staates, bei Streitigkeiten der Bürger eine rechtliche Entscheidung zu treffen, so dass das Recht beider Parteien geschützt wird.

Denn „dasjenige, worauf die Sicherheit der Bürger in der Gesellschaft beruht, ist die Übertragung aller eigenmächtigen Verfolgung des Rechts an den Staat. Aus dieser Übertragung entspringt aber auch für diesen die Pflicht, den Bürgern nunmehr zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr verschaffen dürfen, und folglich das Recht, wenn es unter ihnen streitig ist, zu entscheiden, …. Hierbei tritt der Staat allein, und ohne alles eigne Interesse in die Stelle der Bürger.“

Strafrecht
Neben der Rechtsprechung gehört zu diesem Aufgabenfeld des Staates natürlich auch die Bestrafung derjenigen, die die Gesetze übertreten: „Der Staat darf jede Handlung mit einer Strafe belegen, welche die Rechte der Bürger kränkt, und insofern er selbst allein aus diesem Gesichtspunkt Gesetze anordnet, jede, wodurch eines seiner Gesetze übertreten wird.“

Grundsätzlich gilt aber auch hier, das der „der wichtigste Gesichtspunkt des Staats immer die Entwickelung der Kräfte der einzelnen Bürger in ihrer Individualität sein muss, dass er daher nie etwas andres zu einem Gegenstand seiner Wirksamkeit machen darf, als das, was sie allein nicht selbst sich zu verschaffen vermögen, die Beförderung der Sicherheit.“

Allein diese Funktion des Staates ist das „einzige wahre und untrügliche Mittel“, die beiden scheinbar sich widersprechenden Seiten, d.h. den Zweck des Staats im Ganzen einerseits und die Summe aller Zwecke der einzelnen Bürger andererseits, „durch ein festes und dauerndes Band freundlich mit einander zu verknüpfen.“


Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel XI bis XIV