Sonntag, 18. Dezember 2011

Europa und die Erfindung der Volksnationen


In seinem berühmten Vortrag „Was ist eine Nation?“ (1882) formulierte Ernest Renan folgenden Gedanken: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eins davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben. (…) Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ (Renan, 34)

Renans Gedanken haben ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Nationen sind geistige Wesen, Gemeinschaften, die in den Köpfen und Herzen der Menschen existieren. Nationen hören auf zu existieren, wenn sie nicht mehr gedacht und gewollt werden. Nationen und Nationalbewusstsein entstehen aus einer gemeinsamen Geschichte, stützen sich auf gemeinsamen Ruhm und gemeinsame Opfer.

Das Nibelungenlied - die teutsche Ilias (Schnorr v. Carolsfeld, Siegfrieds Tod, 1845)

Die Geschichte einer Nation ist zwar entscheidend für ihre Legitimation, allerdings ist diese gemeinsame Geschichte in aller Regel von begrenzter Realität und vielfach „mehr erträumt und konstruiert als wirklich“ (111).

Parallel zur Industrialisierung und damit parallel zur Zerstörung alter Lebensmilieus wuchs im 19. Jahrhundert das Bedürfnis, die Gegenwart aus ihren geschichtlichen Wurzeln abzuleiten: „Alle Lebensbereiche wurden von einer romantischen Vergangenheitssehnsucht überwuchert“ (178). Dieser romantische Geist ergriff ganz Europa und suchte einen neuen kollektiven Lebenssinn, der als Fortführung der „alten Zeiten“ verstanden wurde. Dazu musste die jeweilige nationale Geschichte notwendig standardisiert und damit auch vereinfacht werden.

Vor allem die deutsche Nation wurde im 19. Jahrhundert „aus der Geschichte in Form einer utopischen Projektion begründet“ (179), gerade weil es in der Gegenwart keinerlei Anzeichen für eine nationale Einheit gab.

Dazu wurde sogar eine Wesensähnlichkeit zwischen deutscher Gegenwart und griechischer Antike behauptet. In der Ode „Gesang des Deutschen“ proklamiert Hölderlin: „Noch lebt´s! Noch waltet der Athener Seele, die göttliche, still bei den Menschen“ – gemeint sind die Deutschen.

Daneben erschien das deutsche als „in direkter Nachfolge des germanischen Volks, und alle guten Eigenschaften, die Tacitus bei den Nordvölkern gefunden haben wollte, fanden sich jetzt bei den Deutsch wieder: Treue, Sittsamkeit, Enthaltsamkeit, Tapferkeit, Einfachheit, alles das im Kontrast du den verdorbenen Sitten der französischen Nachbarn“ (181).

Schließlich wurde auch die Geschichte des Mittelalters zur nationalen Leidenschaft: Das Nibelungenlied ging als die „teutsche Ilias“ in die deutsche Kulturlandschaft ein und man träumte offen von der Wiederauferstehung eines deutschen Kaiserreiches voller Glanz und Macht.

Die Geschichte der europäischen Nationen - nicht nur die der Deutschen - wurde letztlich also eher konstruiert als rekonstruiert - vor allem genau dort, wo die historische Kontinuität besonders fragwürdig und zweifelhaft war.

Aber diese historische Selbstvergewisserung hatte nicht nur nationale Integration zum Ziel, sie diente auch zur Legitimation weitreichender Herrschaftsansprüche – und dies gilt bis heute. Man braucht sich nur die politischen und territorialen Ansprüche innerhalb Europas anschauen, um gewahr zu werden, dass das „historische Gedächtnis der Völker oft mörderische Lehren“ (189) erteilt.

Zitate aus: Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004 (C.H. Beck) 
Weitere Literatur: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt)  ---  Friedrich Hölderlin: "Gesang des Deutschen", in: Gesammelte Werke, Gütersloh 1955 (Bertelsmann), S. 135 

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