In seinem berühmten Vortrag „Was ist eine Nation?“ (1882)
formulierte Ernest Renan folgenden Gedanken: „Eine Nation ist eine Seele,
ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese
Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eins davon gehört der Vergangenheit an, das
andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an
Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch
zusammenzuleben. (…) Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst
sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der
Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben
fortzusetzen.“ (Renan, 34)
Renans Gedanken haben ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Nationen
sind geistige Wesen, Gemeinschaften, die in den Köpfen und Herzen der Menschen existieren.
Nationen hören auf zu existieren, wenn sie nicht mehr gedacht und gewollt
werden. Nationen und Nationalbewusstsein entstehen aus einer gemeinsamen Geschichte,
stützen sich auf gemeinsamen Ruhm und gemeinsame Opfer.
Das Nibelungenlied - die teutsche Ilias (Schnorr v. Carolsfeld, Siegfrieds Tod, 1845) |
Die Geschichte einer Nation ist zwar entscheidend für ihre
Legitimation, allerdings ist diese gemeinsame Geschichte in aller Regel von
begrenzter Realität und vielfach „mehr erträumt und konstruiert als wirklich“
(111).
Parallel zur Industrialisierung und damit parallel zur
Zerstörung alter Lebensmilieus wuchs im 19. Jahrhundert das Bedürfnis, die Gegenwart aus ihren
geschichtlichen Wurzeln abzuleiten: „Alle Lebensbereiche wurden von einer
romantischen Vergangenheitssehnsucht überwuchert“ (178). Dieser romantische
Geist ergriff ganz Europa und suchte einen neuen kollektiven Lebenssinn, der
als Fortführung der „alten Zeiten“ verstanden wurde. Dazu musste die jeweilige nationale
Geschichte notwendig standardisiert und damit auch vereinfacht werden.
Vor allem die deutsche Nation wurde im 19. Jahrhundert „aus
der Geschichte in Form einer utopischen Projektion begründet“ (179), gerade
weil es in der Gegenwart keinerlei Anzeichen für eine nationale Einheit gab.
Dazu wurde sogar eine Wesensähnlichkeit zwischen deutscher
Gegenwart und griechischer Antike behauptet. In der Ode „Gesang des Deutschen“
proklamiert Hölderlin: „Noch lebt´s! Noch waltet der Athener Seele, die
göttliche, still bei den Menschen“ – gemeint sind die Deutschen.
Daneben erschien das deutsche als „in direkter Nachfolge des
germanischen Volks, und alle guten Eigenschaften, die Tacitus bei den
Nordvölkern gefunden haben wollte, fanden sich jetzt bei den Deutsch wieder:
Treue, Sittsamkeit, Enthaltsamkeit, Tapferkeit, Einfachheit, alles das im
Kontrast du den verdorbenen Sitten der französischen Nachbarn“ (181).
Schließlich wurde auch die Geschichte des Mittelalters zur
nationalen Leidenschaft: Das Nibelungenlied ging als die „teutsche Ilias“ in
die deutsche Kulturlandschaft ein und man träumte offen von der
Wiederauferstehung eines deutschen Kaiserreiches voller Glanz und Macht.
Die Geschichte der europäischen Nationen - nicht nur die der Deutschen - wurde letztlich
also eher konstruiert als rekonstruiert - vor allem genau dort, wo die
historische Kontinuität besonders fragwürdig und zweifelhaft war.
Aber diese historische Selbstvergewisserung hatte nicht nur
nationale Integration zum Ziel, sie diente auch zur Legitimation weitreichender
Herrschaftsansprüche – und dies gilt bis heute. Man braucht sich nur die
politischen und territorialen Ansprüche innerhalb Europas anschauen, um gewahr
zu werden, dass das „historische Gedächtnis der Völker oft mörderische Lehren“
(189) erteilt.
Zitate aus: Hagen Schulze: Staat und Nation in der
europäischen Geschichte, München 2004 (C.H. Beck)
Weitere Literatur: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede
am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996
(Europäische Verlagsanstalt) --- Friedrich Hölderlin: "Gesang des Deutschen", in: Gesammelte Werke, Gütersloh 1955 (Bertelsmann), S. 135
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