Immer wieder wird in wichtigen politischen Debatten die
Frage nach der kulturellen Identität Europas aufgeworfen. Darin eingeschlossen
ist die Frage, welchen Anteil die antike Tradition an der kulturellen
Identität Europas besitzt und worin das Eigene und Unverwechselbare in der
kulturellen Innovation der Griechen bestand.
Für Christian Meier steht fest, dass das Neue, das mit den
Griechen in die Welt kam, eine „Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft" (97)
war.
Akropolis und Areopag in Athen (Leo von Klenze - 1846) |
Nicht die Durchsetzung einer starken nationalen Herrschaft prägte die politische Kultur der Griechen, sondern die Aufrechterhaltung vieler kleiner,
selbstständiger politischer Einheiten, den Poleis. Die Folge davon war, dass viele
Aufgaben, die in anderen Staaten an entsprechende zentrale Organe oder Institutionen delegiert wurden, nun von den Bürgern der Polis selbst erledigt werden mussten.
Kulturbildung bedeutet hier zunächst, die Lebensverhältnisse
in jeder dieser weitgehend eigenständigen Städte zu verbessern, und das hieß folglich,
die Menschen mit immer mehr Kenntnissen, Fähigkeiten auszustatten und eine
entsprechende Ordnung zu schaffen, die diese Ziele möglich machte.
Folglich brauchten die Mitglieder dieser Gemeinwesen bei
allem Individualismus einen hohen Grad an Verantwortung für das Gemeinsame.
Getragen wurde diese Verantwortungsbereitschaft von einem
„Können-Bewusstsein“ (Meier, Entstehung, 469), dem Bewusstsein der ungeheuren
Möglichkeiten des menschlichen Geistes und der menschlichen Handlungsfähigkeit.
Im Wesentlichen handelte es sich um eine Zunahme des technischen Könnens, der téchnē. Durch téchnē wird der Mensch „Herr über die Dinge.“
Dies galt größtenteils auch in der Politik: In einer
demokratischen Ordnung hatten die Bürger ebenfalls „die Dinge in der Hand.“ Es wurde
offen diskutiert, beschlossen und ausgeführt.
So entwickelte sich eine Kultur des rationalen
Argumentierens - die Voraussetzung schlechthin für die Fähigkeit, die
Herausforderungen der Polis gemeinsam zu bewältigen und die Gegensätze zu regulieren, die
in einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft unweigerlich auftreten.
Mit der Poliskultur war also die Entfaltung einer Lebensform
verbunden, die in zunehmendem Maße individuelle Eigenständigkeit und
Unabhängigkeit erforderte und auch ermöglichte.
Die weitere Entwicklung der Polis – vor allem im 5.
Jahrhundert – führte dazu, eine Ordnung in der Polis zu
etablieren, die „sich selbst trägt – im Zusammenspiel der Bürger.“ (104) Diese
Ordnung musste den Bürger notwendigerweise auch rational vermittelt werden, denn „zu diesem
Gemeinwesen gehörte ein Menschenschlag, der frei sein und seine Antriebe frei
ausleben wollte“ (101) und der letztlich auch überzeugt werden wollte.
Alle diese Entwicklungen führten also zur Entdeckung des
Bürgers, zu seiner politischen Gleichheit und zu seiner bürgerlichen
Verantwortung.
Sicher gab es eine Fülle von Fragen. Aber Kunst und
Literatur, Geschichtsschreibung, Wissenschaft und philosophischer Diskurs nahmen
sie auf und bemühten sich, kreative Antworten zu finden. Oft genug bestanden die
Fragen weiter, ja es „ist geradezu eine Leidenschaft des Fragens am Werk.“ (109)
Letztlich handelt es sich bei dem Erbe der griechischen
Antike also um die erste „große kulturelle Manifestation eines sehr freien,
sehr unabhängigen, sehr offenen und daher sich selbst in Frage stellenden
Menschentums.“ (112)
Diese Kultur der Freiheit, der Verantwortung und der
Offenheit sowie der konsequente Gebrauch der Vernunft hat Europas Kultur zweifellos stark geprägt.
Zitate aus: Christian Meier: Die griechisch-römische
Tradition, in: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hgg.): Die kulturellen Werte
Europas, Frankfurt am Main 2005 (Fischer)
Weitere Literatur: Christian Meier: Die Entstehung des
Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980 (Suhrkamp)
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