Am 11. März 1882 hielt der große französische Gelehrte Ernest Renan einen Vortrag an der Sorbonne mit dem Titel "Was ist eine Nation?". Auf der Suche nach ihrem vermeintlich konstitutiven Element macht Renan folgende Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen "Nation" und "Kultur":
"Man schließt sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein, man begrenzt sich. Man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts ist schlimmer für die Zivilisation. Geben wir das Grundprinzip nicht auf, dass der Mensch ein vernünftiges und moralisches Wesen ist, ehe er sich in dieser oder jener Sprache einpfercht, ... Mitglied dieser oder jener Kultur ist.
Ehe es die französische, deutsche, italienische Kultur gibt, gibt es die menschliche Kultur.
Die großen Menschen der Renaissance waren weder Franzosen noch Italiener noch Deutsche. Durch ihren Umgang mit der Antike hatten sie das wahre Geheimnis des menschlichen Geistes wiedergefunden, und ihm gaben sie sich mit Leib und Seele hin. Wie gut sie daran taten!" (29)
Renans Feststellungen haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Mit Hilfe des Begriffes "Kultur" ziehen Menschen bis heute noch immer eine scharfe Trennlinie zwischen ihrem eigenen Bereich und dem Rest der Welt. Jede Kultur strebt letztlich nach Hegemonie, nach dem Monopol über die Normen und Werte, nach Uniformität in dem Bereich, der ihrem Einfluss unterworfen ist.
Aber: Was ist das eigentlich, was mit dem Begriff "Kultur" beschrieben wird bzw. werden soll? Es ist kaum überraschend, dass sich in der Literatur eine überbordende Anzahl von Kulturbegriffen findet, die sich alle dadurch auszeichnen, dass der durch sie jeweils eröffnete Interpretationsspielraum praktisch keine Grenzen kennt: Kultur also als "Unschärfejoker" (Baecker)?
Letztendlich kann jeder Sachverhalt, jeder Tatbestand und jeder Zusammenhang, der auch nur irgendetwas mit Menschen, der Art und Weise ihres Zusammenlebens oder ihren Hervorbringungen zu tun hat, als „Kultur“ begriffen werden. Kein noch so ausgefeilter Definitionsversuch kann etwas daran ändern, dass das als „Kultur” bezeichnete thematische Feld völlig diffus ist.
Anstatt den hoffnungslosen Versuch zu unternehmen, "Kultur" inhaltlich zu bestimmen, erscheint es sinnvoller, „Kultur” im Anschluss an Luhmann als eine bestimmte Art und Weise „auf die Welt zu blicken” zu begreifen, als einen bestimmten Umgang also mit den Sachverhalten und Tatbeständen des menschenlichen Zusammenlebens, als eine in die Gesellschaft eingezogene Ebene für vergleichende Beobachtungen und Beschreibungen.
Verabschieden wir uns also von dem fruchtlosen Versuch, Kultur immer wieder neu definieren zu wollen. Vielmehr sollten wir „Kultur“ als das Interesse am Vergleich beschreiben, als eine Vergleichstechnik (Baecker) und damit als ein übergreifendes Konzept für ein auf Vergleiche ausgerichtetes Zusammenhangswissen.
Ein solches vergleichendes Wissen gewinnt um so mehr an Bedeutung, wie im Zuge der Globalisierung "das kulturell Andere" anscheinend zu einem Problem wird, das Unruhe und Verunsicherung hervorruft. Auch daran hat sich seit Ernest Renans Zeiten nicht viel geändert.
Zitate aus: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt) - Weitere Literatur zum Thema: Dirk Baecker: Kultur, begrifflich, in: Wittener Diskussionspapiere, Neue Folge, Heft 19, Witten 1999 (Verlag der Universität Witten) -- Zygmunt Baumann, „Natur und Kultur“; in: Ders.: Vom Nutzen der Soziologie, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp), 198-222 -- Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt am Main 1995 (Suhrkamp), 31‑54.
"Man schließt sich in einer bestimmten, für national gehaltenen Kultur ein, man begrenzt sich. Man verlässt die freie Luft, die man in der Weite der Menschheit atmet, um sich in die Konventikel seiner Mitbürger zurückzuziehen. Nichts ist schlimmer für den Geist, nichts ist schlimmer für die Zivilisation. Geben wir das Grundprinzip nicht auf, dass der Mensch ein vernünftiges und moralisches Wesen ist, ehe er sich in dieser oder jener Sprache einpfercht, ... Mitglied dieser oder jener Kultur ist.
Ehe es die französische, deutsche, italienische Kultur gibt, gibt es die menschliche Kultur.
Die großen Menschen der Renaissance waren weder Franzosen noch Italiener noch Deutsche. Durch ihren Umgang mit der Antike hatten sie das wahre Geheimnis des menschlichen Geistes wiedergefunden, und ihm gaben sie sich mit Leib und Seele hin. Wie gut sie daran taten!" (29)
Renans Feststellungen haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Mit Hilfe des Begriffes "Kultur" ziehen Menschen bis heute noch immer eine scharfe Trennlinie zwischen ihrem eigenen Bereich und dem Rest der Welt. Jede Kultur strebt letztlich nach Hegemonie, nach dem Monopol über die Normen und Werte, nach Uniformität in dem Bereich, der ihrem Einfluss unterworfen ist.
Aber: Was ist das eigentlich, was mit dem Begriff "Kultur" beschrieben wird bzw. werden soll? Es ist kaum überraschend, dass sich in der Literatur eine überbordende Anzahl von Kulturbegriffen findet, die sich alle dadurch auszeichnen, dass der durch sie jeweils eröffnete Interpretationsspielraum praktisch keine Grenzen kennt: Kultur also als "Unschärfejoker" (Baecker)?
Letztendlich kann jeder Sachverhalt, jeder Tatbestand und jeder Zusammenhang, der auch nur irgendetwas mit Menschen, der Art und Weise ihres Zusammenlebens oder ihren Hervorbringungen zu tun hat, als „Kultur“ begriffen werden. Kein noch so ausgefeilter Definitionsversuch kann etwas daran ändern, dass das als „Kultur” bezeichnete thematische Feld völlig diffus ist.
Weil also unklar ist, was gemeint ist, wenn von „Kultur” gesprochen wird, kann sich leicht der jeweils aktuell dominierende Kulturbegriff unter der Hand praktisch in jeder konkreten Situation, in der es um Politik und Macht im weitesten Sinne geht, durchsetzen.
Anstatt den hoffnungslosen Versuch zu unternehmen, "Kultur" inhaltlich zu bestimmen, erscheint es sinnvoller, „Kultur” im Anschluss an Luhmann als eine bestimmte Art und Weise „auf die Welt zu blicken” zu begreifen, als einen bestimmten Umgang also mit den Sachverhalten und Tatbeständen des menschenlichen Zusammenlebens, als eine in die Gesellschaft eingezogene Ebene für vergleichende Beobachtungen und Beschreibungen.
Verabschieden wir uns also von dem fruchtlosen Versuch, Kultur immer wieder neu definieren zu wollen. Vielmehr sollten wir „Kultur“ als das Interesse am Vergleich beschreiben, als eine Vergleichstechnik (Baecker) und damit als ein übergreifendes Konzept für ein auf Vergleiche ausgerichtetes Zusammenhangswissen.
Ein solches vergleichendes Wissen gewinnt um so mehr an Bedeutung, wie im Zuge der Globalisierung "das kulturell Andere" anscheinend zu einem Problem wird, das Unruhe und Verunsicherung hervorruft. Auch daran hat sich seit Ernest Renans Zeiten nicht viel geändert.
Zitate aus: Ernest Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Reihe EVA Reden, Bd. 20, Hamburg 1996 (Europäische Verlagsanstalt) - Weitere Literatur zum Thema: Dirk Baecker: Kultur, begrifflich, in: Wittener Diskussionspapiere, Neue Folge, Heft 19, Witten 1999 (Verlag der Universität Witten) -- Zygmunt Baumann, „Natur und Kultur“; in: Ders.: Vom Nutzen der Soziologie, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp), 198-222 -- Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt am Main 1995 (Suhrkamp), 31‑54.
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