Donnerstag, 8. Mai 2014

Isokrates und die Dekadenz

„Geschichtsüberlieferung und Geschichtsphilosophie haben psychologisch einen verschiedenen Ursprung. Die Geschichtsüberlieferung wurzelt im Stolz auf die Gegenwart und will deren große Taten an die Zukunft weitergeben. Die Geschichtsphilosophie dagegen erwächst aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit“ (Alexander Demandt).

Dekadenz in der römischen Antike (Thomas Couture, 1847)

Ein hervorragendes Beispiel für diesen Pessimismus ist der „Menschenfeind“ Timon von Athen, der sich – seine Mitbürger verfluchend - in einen Turm einschloss. Nur den Politiker und Strategen Alkibiades schätzte er allein deshalb,  „weil er Athen ins Unglück stoßen wird!“ Gemeint war die Niederlage Athens im Peleponnesischen Krieg gegen Sparta.

Dieser Unmut über die aktuellen Zustände mündet geschichtsphilosophisch in die sogenannte Dekadenztheorie, die als Langzeitentwicklung gedacht ist. Das Unglück in der eigenen Lage wird Anlass, einen Verfall von der Urzeit bis jetzt anzunehmen. Es ist aber ebenso ein Motiv, einen Aufstieg für die Zukunft zu erhoffen oder aber in allem Geschehen eine unbeständigen Kreislauf zu erblicken.

Isokrates (436 bis 338 v. Chr. )
Die klassische Formulierung des Dekadenzmodells findet sich bei Isokrates, dem großen Rhetor, der in der Zeit zwischen dem Peleponnesischen Krieg und Alexander den Niedergang Athens selbst miterlebte.

In seiner Friedensrede beschreibt Isokrates die Geschichte Athens mit seinem Höhepunkt während der Siege von Marathon, Salamis und Platäa über die Perser und seinem Tiefpunkt mit der Niederlage 404 gegen Sparta.

Die von Isokrates beschriebenen Ereignisse lassen sich nun in Regeln bringen, die das klassische Dekadenzmodell ergeben:

„Ein Leben unter harten äußeren Umständen (I) zwingt zur Entfaltung aller inneren Kräfte (II). Dabei wird eine höhere Leistungsfähigkeit entwickelt, als es die bloße Selbstbehauptung erfordert. Dieser Überschuß an innerer Stärke wird umgesetzt in eine Verbesserung der Lebensumstände. Man kommt zu Macht und über die Macht zu Reichtum (III).

Nun kehrt sich die Wirkung um: So wie zuerst die menschliche Leistung die äußeren Verhältnisse verbessert hat, so untergraben anschließend die angenehmen Umstände die Leistungsfähigkeit. Macht führt zu Leichtsinn, Reichtum zu Bequemlichkeit: die Hybris erscheint.

Nun ist man nicht mehr imstande, die gewonnene Position zu halten (IV). Dem inneren Verfall folgt der äußere Abstieg, und schließlich ist der Zustand der Mittellosigkeit wieder erreicht (V = I). Ob der Durchgang wiederholbar ist, bleibt unentschieden.“

Der Niedergang Athens ist auch von anderen antiken Denkern mit dem Dekadenzmodell erklärt worden. So überliefert Xenophon (430 – 355 v. Chr.) ein Gespräch zwischen Sokrates und Perikles, in der beide über die Grründe für den Abstieg Athens sprechen.

Demnach habe das Gefühl der Überlegenheit, der Stolz auf die Erfolge der Bürger den Leichtsinn ausgelöst. Die Suche nach Reichtum habe die Prozessleidenschaft angestachelt und die politisch-militärische Disziplin untergraben. Auf diese Weise sei dann die Niederlage im Peleponnesischen Krieg unvermeidlich gewesen (Xenophon, Erinnerungen, III 5).

Dekadenz in der Moderne (Wilko)

Isokrates begnügt sich gleichwohl nicht mit der Analyse der Gründe, sondern er überführt seine Argumente auch in pädagogische Ratschläge: So erhebt er „immer wieder die unpopuläre Forderung, dass das Volk seine eigenen Wünsche in Frage stellen lerne, und führt scharfe Angriffe gegen die Demagogen, die sich dem Volk als Vollstrecker seiner Wünsche anbieten, ohne diese Wünsche zuvor auf ihre Vereinbarkeit, ihre Erreichbarkeit und ihre Auswirkungen hin zu prüfen. Die Folgen seien Katastrophen der gehabten Art.“

Vielleicht sollten wir heute mehr Isokrates lesen …


Zitate aus: Alexander Demandt: Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln 2011 (Böhlau Verlag), Kapitel II   -   Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, Düsseldorf 2003 (Artemis und Winkler)


1 Kommentar:

  1. Nun ja, diese Dekadenztheorien gibt es immer wieder. In Deutschland war Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes - 1918) lange Zeit populär. Ich bin skeptisch, ob unsere aktuelle Wirklichkeit mit der Kategorie "Dekadenz" wirklich erfasst und begriffen werden kann. Unsere Gesellschaft ist gerade auch in technologischer Hinsicht zur einer Art gigantischem Versuchslabor geworden. Und ob dieses Experiment ein gutes oder schlechtes oder - als Zwischenlösung - ein mittelprächtiges Ende finden wird, ist schwer zu sagen. Vielleicht sollten wir einfach den technischen Utopismus in unserer Gesellschaft etwas herunterschrauben und etwas vorsichtiger sein. Und wir sollten uns von der Technik keine übermässigen Wunder erwarten. Die Natur des Menschen wirklich verändern kann die Technik nicht. Und in den Händen eines verantwortungslosen Menschen oder gar einer insgesamt besinnungslosen Gesellschaft kann nicht nur die Atombombe, sondern auch vieles anderes technisches Inventar zu einer Gefahr werden. Wir sehen das an den teilweise massiven Umweltzerstörungen auf unserem Planeten, deren Ursachen letztlich in der Profitgier und Verantwortungslosigkeit der Unternehmen und ihrer Manager zu finden sind, die so etwas tun. Und solch ein Verhalten ist tatsächlich menschlich.

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