Donnerstag, 22. Mai 2014

Peter Bieri und die Bildung - Teil 2


Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität und poetische Erfahrung



Peter Bieri
In seiner Festrede „Wie wäre es gebildet zu sein?“ anlässlich der Eröffnungsfeier der Pädagogischen Hochschule Bern im November 2005 beschäftigt sich Peter Bieri (*1944), Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin, mit den verschiedenen Bedeutungsebenen des Bildungsbegriffs: Bildung wurde bisher als Weltorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein und Artikuliertheit beschrieben.

Wenn der Gebildete einer ist, „der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind“, wenn seine Fähigkeit, sich besser zu artikulieren, ihm erlaubt, „sein Selbstverständnis immer weiter zu vertiefen und fortzuspinnen, wissend, dass das nie aufhört, weil es kein Ankommen bei einer Essenz des Selbst gibt“, dann ist Bildung immer auch Selbsterkenntnis.

Bildung als Selbsterkenntnis
„Es mag einer noch so gut ausgebildet sein und eine noch so große Orientierung haben, so dass er in der Welt erfolgreich navigieren kann - wenn er sich nicht auf diese Weise gegenüberzutreten und an sich zu arbeiten weiß, verfügt er nicht über Bildung in einem vollen, reichen Sinn des Ausdrucks.“

Hier geht es darum, „sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen, statt diese Dinge nur geschehen zu lassen. Es geht um die Interpretation meiner Vergangenheit und das Durchleuchten meiner Entwürfe für die Zukunft, kurz: um das Schaffen und Fortschreiben von Selbstbildern.“

Der Gebildete ist also einer, „der über sich Bescheid weiß und Bescheid weiß über die Schwierigkeiten dieses Wissens. Er ist einer, dessen Selbstbild mit skeptischer Wachheit in der Schwebe gehalten werden kann.“

Natürlich geht es nicht nur darum, die Erkenntnis über sich selbst zu vergrößern. Es geht auch darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu bewerten, sich mit einem Teil zu identifizieren und sich vom Rest zu distanzieren, also Bildung als Selbstbestimmung zu verstehen. Es geht darum, zu lernen, dass „Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann.“

Bildung als Selbstbestimmung
Selbstbestimmung besteht nun aber gerade nicht darin, dass man sich „in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen.“ Was man lernt und lernen muss, ist etwas anderes: „zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt.“

Der Gebildete ist also einer, „der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er einen stetigen Prozess erneuter Selbstbewertung zulässt und die damit verbundene Unsicherheit aushält. Dadurch wird er im emphatischen Sinne ein Subjekt.

Bildung als moralische Sensibilität
Für Bieri ist Bildung auch moralische Sensibilität. „Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität entsteht Toleranz - kein förmliches Dulden des Fremden, sondern echter und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten, zu leben. Nicht, dass das immer leicht wäre.“

Aber gerade darum ist Bildung „die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten: Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.“

Bildung, von der hier die Rede ist, ist ein Wert in sich. Es wäre falsch, zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu sein, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Bildung wird so zur poetischen Erfahrung, denn „es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs Engste mit den besprochenen Facetten der Bildung verknüpft sind: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abschütteln zu können; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; (…) die beglückende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen.“

Bildung als poetische Erfahrung
„Und Bildung schließt eine weitere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, das wir Kultur nennen.“

„Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns «fit für die Zukunft» zu machen.“

In der Bildung geht es also um alles: „um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten Hindernissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit.“

Daher ist Bildung immer auch leidenschaftlich: Der Gebildete ist daher einer, der vor bestimmten Dingen Ekel empfindet: vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemismen und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums, wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der Bildung halten.“

Bei der Bildung geht es um alles!





2 Kommentare:

  1. Lieber Paideia, angesichts der Armseligkeit der neoliberalen und technokratischen Wirklichkeit, in der wir alle leben, empfinde ich die Worte von Peter Bieri ehrlich gesagt einfach zu überhöht und zu blumig. Was soll das schon alles in einer Welt, in der außer dem Geld eigentlich gar keine Werte mehr geblieben sind, schon gar keine humanistische, und niemand sich mehr um Bildung schert, weil man damit nun mal schlecht Geld verdienen kann?

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  2. Lieber Klaus Gauger,
    gerade weil wir in einer "armseligen neoliberalen und technokratischen Wirklichkeit" leben, sind die Worte von Bieri ein wohltuender Kontrapunkt. Wie sonst, wenn nicht durch das Schreiben solcher Artikel, sollen wir dem neoliberalen Zeitgeist und der einseitig an den Interessen der Wirtschaft orientierten Ausbildung (und eben nicht Bildung) begegnen?

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